BVerfG, Beschluss vom 19.01.2004 - 2 BvR 1904/03
Fundstelle
openJur 2012, 134500
  • Rkr:
Tenor

Die Verfassungsbeschwerden werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.

Die Verfassungsbeschwerden werden nicht zur Entscheidung angenommen.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerden werden nicht zur Entscheidung angenommen, weil ein Annahmegrund nach § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegt. Sie haben keine Aussicht auf Erfolg.

1. Die Entscheidung des Landgerichts, ein Sachverständigengutachten zu der Frage einzuholen, ob beim Beschwerdeführer die durch seine Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbesteht, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Nach § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO holt das Gericht das Gutachten eines Sachverständigen über den Verurteilten ein, wenn es erwägt, die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren wegen einer Straftat der in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB bezeichneten Art auszusetzen, und nicht auszuschließen ist, dass Gründe der öffentlichen Sicherheit einer vorzeitigen Entlassung entgegenstehen. Die Annahme des Landgerichts, es sei bei Vorliegen dieser Voraussetzungen verpflichtet, einen Sachverständigen zu hören, entspricht dem Wortlaut der Norm und der herrschenden Auffassung (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., § 454 Rn. 37). Für Willkür ist insofern nichts ersichtlich.

2. Soweit sich der Beschwerdeführer dagegen wendet, das Landgericht habe mit der verspäteten Einholung des Gutachtens das Strafrestaussetzungsverfahren unangemessen verzögert, ist die Verfassungsbeschwerde nicht hinreichend substantiiert begründet worden (§§ 23 Abs. 1 Satz 2, 92 BVerfGG).

a) Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistet in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip einen Anspruch auf angemessene Beschleunigung des mit einer Freiheitsentziehung verbundenen gerichtlichen Verfahrens. Im Verfahren über die Aussetzung des Restes einer Freiheitsstrafe zur Bewährung kommt eine Verletzung des Beschleunigungsgebots allerdings nur dann in Betracht, wenn das Freiheitsrecht nach den Umständen des Einzelfalls gerade durch eine sachwidrige Verzögerung der Entscheidung unangemessen weiter beschränkt wird (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Juni 2001 - 2 BvR 828/01 -, NStZ 2002, S. 333 <334>). Die Gerichte sollen über Strafrestaussetzungen möglichst frühzeitig entscheiden. § 454a StPO ermöglicht, die Aussetzung des Strafrestes schon längere Zeit vor dem in Aussicht genommenen Zeitpunkt der Entlassung aus der Strafhaft zu bewilligen, ohne dass dem Verurteilten hierdurch unberechtigte Vorteile entstehen (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., § 454a Rn. 1).

Ob die Verfahrensdauer noch angemessen ist, muss nach den Umständen des Einzelfalles beurteilt werden (vgl. BVerfGE 46, 17 <28>; 55, 349 <368 f.>). Insbesondere sind der Zeitraum der Verfahrensverzögerung, die Gesamtdauer der Strafvollstreckung und des Verfahrens über die Strafrestaussetzung zur Bewährung, die Bedeutung dieses Verfahrens im Blick auf die abgeurteilte Tat und die verhängte Strafe oder Maßregel, der Umfang und die Schwierigkeit des Entscheidungsgegenstandes sowie das Ausmaß der mit dem Andauern des schwebenden Verfahrens verbundenen Belastung des Verurteilten zu berücksichtigen. Dabei ist auch das Prozessverhalten des Verurteilten angemessen zu bewerten.

b) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze genügt der Vortrag des Beschwerdeführers nicht, um eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung festzustellen. Der Beschwerdeführer behauptet, das Landgericht habe erst im August 2003 die Einholung eines Sachverständigengutachtens beschlossen, obwohl er bereits seit Mai 2003 zwei Drittel seiner Freiheitsstrafen verbüßt habe. Die Verfassungsbeschwerde enthält aber keine substantiierten Angaben zu Art und Schwere der abgeurteilten Taten und dem Verlauf des Strafrestaussetzungsverfahrens, die eine unangemessene Sachbehandlung durch das Landgericht nahe legen könnten. Der Beschwerdeführer geht nicht darauf ein, dass er im Februar 2003 und damit wenige Monate vor der erstrebten Entlassung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt worden war. Ob und gegebenenfalls wie sich dieses Verfahren auf sein Strafrestaussetzungsgesuch ausgewirkt hat, erläutert die Verfassungsbeschwerde nicht. Unklar bleibt auch, was aus einem früher gestellten Antrag auf Strafrestaussetzung geworden ist.

Um der behaupteten Verfahrensverzögerung zu begegnen, hätte der Beschwerdeführer zudem Untätigkeitsbeschwerde erheben können. Dieses Rechtsmittel wird zwar teilweise nur unter der Voraussetzung zugelassen, dass die Untätigkeit einer endgültigen Ablehnung gleichkommt (vgl. BGH, NJW 1993, S. 1280; OLG Frankfurt, NStZ-RR 2002, S. 188 f. und 189 f.). Teilweise sieht die Rechtsprechung die Untätigkeitsbeschwerde mit Blick auf die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG jedoch auch in weitem Umfang als zulässig an (vgl. BayVGH, NVwZ 2000, S. 693). Demzufolge wäre die Einlegung eines entsprechenden Rechtsmittels nicht von vornherein aussichtslos gewesen. Sie war dem Beschwerdeführer auch zuzumuten. Fachgerichtlicher Rechtsschutz muss auch dann vorrangig in Anspruch genommen werden, wenn die Statthaftigkeit eines Rechtsmittels nach dem aktuellen Stand von Rechtsprechung und Lehre umstritten und deshalb zweifelhaft ist, ob der in der Sache begehrte Rechtsschutz von dem angerufenen Gericht gewährt wird (vgl. BVerfGE 68, 376 <380>).

Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.