VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 23.05.1995 - 8 S 3600/94
Fundstelle
openJur 2013, 9670
  • Rkr:

1. Eine von der Baugenehmigungsbehörde unter Verstoß gegen § 36 Abs 1 BauGB erteilte Baugenehmigung ist auf den Widerspruch der Gemeinde aufzuheben, ohne daß es auf die Genehmigungsfähigkeit des Bauvorhabens im übrigen ankommt. Die Frage, ob die Gemeinde ihr Einvernehmen zu Recht oder zu Unrecht verweigert hat, ist dementsprechend auch dann nicht zu prüfen, wenn der Bauantragsteller gegen die dem Widerspruch der Gemeinde stattgebenden Bescheid Klage erhebt.

Gründe

Die Entscheidung ergeht nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluß (§ 130a VwGO). Der Senat hält die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich.

1. Mit ihrer Klage wendet sich die Klägerin in erster Linie gegen den Bescheid des Landratsamts vom 20.1.1994, mit dem das Landratsamt die der Klägerin erteilte Baugenehmigung vom 11.11.1993 aufgehoben hat. Das Verwaltungsgericht hat den gegen diesen Bescheid gerichteten Anfechtungsantrag mit der Begründung abgewiesen, das Landratsamt habe die Baugenehmigung zu Recht zurückgenommen, da die der Klägerin erteilte Baugenehmigung rechtswidrig gewesen sei. Dem ist im Ergebnis zuzustimmen.

Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts hat das Landratsamt allerdings mit der angefochtenen Entscheidung die Baugenehmigung nicht gem. § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG zurückgenommen, sondern einen Abhilfebescheid im Rahmen des durch den Widerspruch der Beigeladenen gegen die Baugenehmigung eingeleiteten Vorverfahrens erlassen. Sowohl der Tenor der Entscheidung, in dem es heißt, daß mit der Aufhebung der Baugenehmigung dem Widerspruch der Beigeladenen abgeholfen werde, als auch die auf § 72 VwGO verweisende Begründung lassen daran keinen Zweifel. Für die Rechtmäßigkeit dieses Bescheids ergeben sich daraus jedoch keine Konsequenzen. Das Landratsamt hat dem Widerspruch der Beigeladenen zu Recht abgeholfen, da die der Klägerin erteilte Baugenehmigung gegen § 36 BauGB verstieß und die Beigeladene dadurch in ihren Rechten verletzte.

Gemäß § 36 Abs. 1 S. 1 BauGB durfte die von der Klägerin beantragte Baugenehmigung nur im Einvernehmen mit der Beigeladenen erteilt werden. Mit Telefax vom 4.10.1993 hat die Beigeladene dem Landratsamt mitgeteilt, daß sie dem Vorhaben der Klägerin nicht zustimme. Darin liegt, wie das Verwaltungsgericht zutreffend erkannt hat, der Widerruf des infolge des Ablaufs der in § 36 Abs. 2 S. 2 BauGB i.V.m. § 5 Abs. 2 BauGB-MaßnahmenG genannten Frist als erteilt geltenden Einvernehmens. Dieser Widerruf war wirksam, da die Gemeinde auch das von § 36 Abs. 2 S. 2 BauGB fingierte Einvernehmen solange zurücknehmen kann, wie die Baugenehmigung nicht erteilt ist (vgl. Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 4. Aufl., § 36 RdNr. 8). Die Entscheidung der Beigeladenen war für das Landratsamt bindend. Die gleichwohl erteilte Baugenehmigung war daher rechtswidrig und verletzte die Beigeladene in ihren Rechten.

Wie das Verwaltungsgericht richtig erkannt hat, ist die Frage, ob die Beigeladene ihr Einvernehmen zu Recht oder zu Unrecht verweigert hat, dabei ohne Bedeutung. Mit der in § 36 BauGB getroffenen Regelung soll die Gemeinde als sachnahe und fachkundige Behörde in Ortsteilen, in denen ein qualifizierter Bebauungsplan fehlt, mitentscheidend am Baugenehmigungsverfahren beteiligt werden. Sie soll darüber hinaus auch die Möglichkeit haben, in Reaktion auf einen Bauantrag hin die Aufstellung eines Bebauungsplans zu beschließen, aufgrund dessen die Zurückstellung des Baugesuchs zu beantragen, eine Veränderungssperre zu erlassen oder den Bebauungsplan als Satzung zu beschließen und so die rechtlichen Voraussetzungen für die Zulässigkeit des Vorhabens zu verändern. Eine gegen den Willen der Gemeinde erteilte Baugenehmigung ist deshalb auf einen von ihr eingelegten Rechtsbehelf allein wegen der Verletzung des ihr von § 36 BauGB zuerkannten Beteiligungsrechts aufzuheben, ohne daß es auf die Genehmigungsfähigkeit des Bauvorhabens im übrigen ankommt, da die Gemeinde ansonsten im Falle einer ihr unterlaufenen Fehleinschätzung nicht mehr in der Lage wäre, die durch das Inkrafttreten einer Veränderungssperre oder eines rechtsverbindlichen Bebauungsplans veränderte Rechtslage zur Geltung zu bringen (BVerwG, Urt. v. 7.2.1986 - 4 C 43.83 - BRS 46 Nr. 142 u. Urt. v. 10.8.1988 - 4 C 20.84 - NVwZ-RR 1989, 6). Die Frage, ob die Gemeinde ihr Einvernehmen zu Recht oder zu Unrecht verweigert hat, ist dementsprechend auch dann nicht zu prüfen, wenn eine unter Verstoß gegen § 36 Abs. 2 BauGB erteilte Baugenehmigung auf den Widerspruch der Gemeinde hin aufgehoben worden ist und der Bauantragsteller gegen den Widerspruchsbescheid oder - wie hier - Abhilfebescheid Klage erhebt.

2. Die Berufung bleibt auch insoweit ohne Erfolg, als sich die Klägerin gegen die Abweisung ihres - wohl nur hilfsweise für den Fall des Mißerfolgs ihrer Anfechtungsklage gestellten - Antrags, das beklagte Land zur Neubescheidung ihres Bauantrags zu verpflichten, wendet.

In dem Bescheid des Landratsamts vom 20.1.1994, mit dem es die der Klägerin erteilte Baugenehmigung ersatzlos aufgehoben hat, liegt zugleich eine erneute, dieses Mal negative Entscheidung über den Bauantrag der Klägerin. Hiergegen hat die Klägerin erfolglos Widerspruch eingelegt. Die Verpflichtungsklage ist daher zulässig, ohne daß es hierfür eines Rückgriffs auf § 75 VwGO bedürfte. Das Verwaltungsgericht hat die Klage jedoch zu Recht als unbegründet abgewiesen, da das Vorhaben der Klägerin öffentlich-rechtlichen Vorschriften widerspricht und daher nicht genehmigungsfähig ist. Ein Anspruch auf Neubescheidung ihres Bauantrags steht der Klägerin folglich nicht zu.

a) Wie die Klägerin nicht bestreitet, wird mit der östlichen Außenwand des geplanten Wohnhauses die nach § 6 Abs. 1 LBO einzuhaltende Abstandsfläche mit einer Tiefe von 0,8 der Wandhöhe nicht eingehalten. Der von ihr deshalb beanspruchten Zulassung einer Ausnahme gem. § 57 Abs. 2 i.V.m. § 7 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 LBO steht nach Ansicht des Verwaltungsgerichts entgegen, daß die Zulassung von geringeren Tiefen der Abstandsfläche auch bei Vorliegen der in § 7 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 LBO genannten Voraussetzungen nur dann in Betracht komme, wenn die Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Abstandsflächen zu einer Belastung des Bauherrn führt, die über das hinausgeht, was jedem Bauherrn zugemutet wird, für eine solche Belastung der Klägerin jedoch nichts zu erkennen sei. Ob dies zutrifft, erscheint fraglich. Nach dem Schreiben der Beigeladenen vom 9.2.1993 beträgt die in der Umgebung übliche GRZ 0,4, die GFZ 0,8, woraus sich im Fall des 644 qm großen Grundstücks der Klägerin eine zulässige Grundfläche von 258 qm sowie eine zulässige Geschoßfläche von 515 qm errechnet. Durch den ungünstigen Zuschnitt ihres Grundstücks ist die Klägerin an der Ausnutzung dieser Nutzungszahlen gehindert, wie sich daran zeigt, daß sie selbst mit ihrem jetzigen Vorhaben trotz Unterschreitung der Abstandsflächen auf eine Grundfläche von lediglich 180 qm sowie auf eine Geschoßfläche von 369 qm kommt. Insofern spricht daher vieles dafür, die erforderliche Ausnahmesituation im vorliegenden Fall für gegeben zu erachten.

b) Der Senat sieht jedoch davon ab, dem weiter nachzugehen, da das Vorhaben der Klägerin unabhängig davon jedenfalls deshalb nicht genehmigungsfähig ist, weil es gegen § 4 Abs. 3 S. 1 LBO sowie gegen die von der Beigeladenen erlassene Veränderungssperre verstößt.

Was zunächst die - unstreitig verletzte - Waldabstandsvorschrift des § 4 Abs. 3 S. 1 LBO betrifft, so hat bereits das Verwaltungsgericht darauf hingewiesen, daß ein privatrechtlicher Haftungsverzicht des Grundstückseigentümers die Zulassung einer Ausnahme nicht rechtfertigen kann. Voraussetzung hierfür ist vielmehr das Vorliegen besonderer Umstände, aufgrund deren die von umstürzenden Bäumen ausgehenden Gefahren für das zu errichtende Gebäude praktisch ausgeschlossen werden können (vgl. Senatsurt. v. 8.10.1993 - 8 S 1578/93 - BWVPr. 1994, 211). Für das Vorliegen einer solchen atypischen Situation ist nichts ersichtlich. Der von der Klägerin genannte Umstand, daß das Baugrundstück tiefer als der Wald liegt, schließt von umstürzenden Bäumen ausgehende Gefahren nicht aus, sondern verstärkt diese. Aus dem Schreiben des Staatlichen Forstamts vom 12.5.1993, in dem es mitgeteilt hat, daß es dem Vorhaben der Klägerin (in seiner ursprünglich geplanten Ausführung) zustimme, wenn die von der Klägerin abgegebene Haftungsverzichtserklärung "soweit möglich" als Grunddienstbarkeit eingetreten werde, ergibt sich nichts gegenteiliges. Die Klägerin macht ferner erfolglos geltend, daß ihr Grundstück bei Einhaltung des Waldabstands nicht bebaubar sei. Eine atypische Situation ist damit ebensowenig dargetan wie mit dem Hinweis auf die für die Nachbargrundstücke - zu Recht oder zu Unrecht - zugelassenen Ausnahmen.

Dem Vorhaben der Klägerin steht darüber hinaus die von der Beigeladenen am 5.9.1994 beschlossene Veränderungssperre entgegen, an deren Wirksamkeit zu zweifeln der Senat keinen Anlaß sieht. Ausweislich der dem Senat vorliegenden Akten ist die Satzung über die Veränderungssperre am 14.7.1994 im Mitteilungsblatt der Beigeladenen öffentlich bekannt gemacht worden. Die entsprechende, offenbar "ins Blaue hinein erhobene" Rüge der Klägerin ist daher unbegründet. Bedenken gegen die Wirksamkeit der Veränderungssperre lassen sich auch nicht daraus herleiten, daß die Beigeladene das Vorhaben der Klägerin zum Anlaß für ihren Beschluß, einen Bebauungsplan aufzustellen und zur Sicherung ihrer Planungsabsichten eine Veränderungssperre zu erlassen, genommen hat. Ein solches Verfahren ist nach dem Sinn des Rechtsinstituts der Veränderungssperre und nach den - oben dargelegten - mit dem Beteiligungsrecht der Gemeinde im Baugenehmigungsverfahren verfolgten Zwecken offensichtlich nicht zu beanstanden. Für den der Beigeladenen in diesem Zusammenhang gemachten Vorwurf der Willkür fehlt es an jedem Anhaltspunkt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO und § 162 Abs. 3 VwGO. Die in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.