OLG Celle, Beschluss vom 13.03.2012 - 2 Ws 59/12
Fundstelle
openJur 2012, 68351
  • Rkr:

Hat der Vollstreckungsleiter die weitere Vollstreckung gemäß § 85 Abs. 6 S. 1 JGG an die zuständige Vollstreckungsbehörde abgegeben und setzt die Strafvollstreckungskammer die Vollstreckung des Strafrests gemäß § 88 JGG zur Bewährung aus, sind auch für die Berechnung und Verlängerung der Bewährungszeit allein die Vorschriften des JGG anzuwenden. Auch in diesen Fällen sind die Höchstgrenzen nach § 22 JGG einzuhalten.

Tenor

1. Der Beschluss der 2. kleinen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Lüneburg mit Sitz in Celle vom 06.02.2012 wird aufgehoben.

2. Der noch nicht vollstreckte Rest der Jugendstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Hannover vom 05.04.2000, Aktenzeichen: 320 Ls 440 Js 60102/99 (58/00), wird nach Ablauf der Bewährungszeit erlassen. Der Strafmakel wird für beseitigt erklärt (§ 100 JGG).

3. Die Landeskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die dadurch entstandenen notwendigen Auslagen des Verurteilten.

4. Gegen diese Entscheidung ist keine Beschwerde gegeben (§ 304 Abs. 4 StPO).

Gründe

I.

Dem Vollstreckungsverfahren liegt ein Urteil des Amtsgerichts Hannover (320 Ls 440 Js 60102/99 (58/00)) vom 05.04.2000 zugrunde, mit welchem eine Jugendstrafe von acht Monaten gegen den Verurteilten verhängt und zur Bewährung ausgesetzt worden war. Mit Beschluss vom 10.09.2003 hatte das Amtsgericht Hannover die Strafaussetzung zur Bewährung wegen einer Nachverurteilung durch das Amtsgericht Höxter vom 09.04.2003 widerrufen, wobei es 14 Tage abgeleisteten Hilfsdienst mit 14 Tagen Haft angerechnet hatte. Mit Beschluss vom 10.10.2003 hatte das Amtsgericht Hannover die weitere Vollstreckung gemäß § 85 Abs. 6 JGG an die Staatsanwaltschaft Hannover abgegeben. Nach Verlegung des Verurteilten in die JVA S. hatte die kleine Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Lüneburg mit Sitz in Celle mit Beschluss vom 05.11.2004 die Vollstreckung des Strafrests der Jugendstrafe zur Bewährung ausgesetzt und die Bewährungszeit auf vier Jahre festgesetzt.

Wegen diverser Nachverurteilungen innerhalb der Bewährungszeit verlängerte die Strafvollstreckungskammer die ursprünglich festgesetzte Bewährungszeit dreimal, und zwar mit Beschluss vom 01.09.2005 von 4 auf 5 Jahre, mit Beschluss vom 13.01.2009 von 5 auf 5 ½ Jahre und mit Beschluss vom 07.04.2009 von 5 ½ auf 6 ½ Jahre.

Mit Strafbefehl des Amtsgerichts Achim vom 28.04.2011 wurde der Beschwerdeführer wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 20 € verurteilt. Die Tatzeit war am 06.09.2010. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft Hannover hat die Strafvollstreckungskammer mit Beschluss vom 06.02.2012 die Strafaussetzung zur Bewährung zu widerrufen, wobei in den Beschlussgründen irrtümlich die Freiheitsstrafe von sechs Monaten aus dem Urteil des Amtsgerichts Höxter vom 09.04.2003 als zu widerrufende Strafe genannt wird, die aber ein anderes Vollstreckungsverfahren betrifft.

Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde des Verurteilten.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, den Widerrufsbeschluss vom 06.02.2012 aufzuheben und die restliche Jugendstrafe zu erlassen. Sie ist der Auffassung, dass die Bewährungszeit unter Verstoß gegen § 88 Abs. 6 Satz 1 JGG i. V. m. § 22 Abs. 2 Satz 2 JGG verlängert worden sei, sodass die Bewährungszeit bereits seit dem 19.11.2008 abgelaufen sei. Die mit dem Strafbefehl des Amtsgerichts Aurich geahndete Straftat sei daher nicht in der Bewährungszeit begangen worden.

II.

Die sofortige Beschwerde ist gemäß § 85 Abs. 6 S. 2 JGG in Verbindung mit §§ 453 Abs. 2 S. 3, 311 Abs. 2 StPO zulässig. Sie ist auch begründet und führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses.

Die Entscheidungen über die nachträgliche Verlängerung der Bewährungszeit sowie den Widerruf der Reststrafenaussetzung beurteilen sich allein nach den einschlägigen Vorschriften des Jugendgerichtsgesetzes und nicht nach dem materiellen allgemeinen Strafrecht. Dass der ursprüngliche Vollstreckungsleiter hier gemäß § 85 Abs. 6 JGG die weitere Vollstreckung an die Staatsanwaltschaft abgegeben hatte, worauf die Strafvollstreckungskammer für die weiteren Entscheidungen zuständig wurde, ändert an der Vorrangigkeit der jugendrechtlichen Vorschriften nichts. Dies ist bereits für die Frage, nach welcher Vorschrift die Reststrafe zur Bewährung auszusetzen ist, im Verhältnis von § 57 StGB zu dem vorrangigen § 88 JGG überwiegende Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum (vgl. OLG Hamm, StV 1996, 277; OLG Frankfurt, NStZ-RR 1999, 91; OLG Hamm, NStZ-RR 2000, 92; OLG Schleswig, SchlAH 2000, 149; OLG Dresden, NStZ-RR 2000, 381; Eisenberg, JGG, 15. Aufl., § 85 Rdnr. 17 a; Rose, NStZ 2010, 95). Dieser zutreffenden Auslegung des § 85 Abs. 6 JGG schließt sich auch der Senat an. Die Gegenauffassung, die nach einer Abgabe gemäß § 85 Abs. 6 JGG allein § 57 StGB im Rahmen der Aussetzungsentscheidung für anwendbar hält (so OLG Düsseldorf, NStZ 1995, 520; OLG München, StraFo 2009, 125; OLG Nürnberg, OLGSt StGB § 57 Nr. 51), lässt sich nicht mit dem eindeutigen Wortlaut des § 85 Abs. 6 Satz 2 JGG in Einklang bringen. Dieser verweist ausdrücklich auf die Anwendbarkeit der verfahrensrechtlichen Vorschriften der StPO und des GVG, nicht jedoch auf das materielle Recht des StGB. Zudem ergäbe sich so aufgrund einer bloßen Abgabe in den Erwachsenenvollzug eine plötzliche Schlechterstellung des Verurteilten auf der Rechtsfolgenseite. Denn § 57 StGB stellt höhere Anforderungen an eine Strafaussetzung vor Verbüßung von zwei Dritteln der Freiheitsstrafe als der insoweit privilegierende § 88 Abs. 2 JGG. Einen derart schwerwiegenden Eingriff in die Rechte des Verurteilten wollte der Gesetzgeber sicher nicht mit einer das Vollstreckungsverfahren regelnden Vorschrift ermöglichen (OLG Dresden a. a. O.). Daher kann die verfahrensrechtliche Verweisungsvorschrift nach § 85 Abs. 6 JGG auch nicht zur Änderung der materiell-rechtlichen Beurteilungsgrundlage für eine Reststrafenaussetzung führen. Dass § 454 StPO seinerseits auf § 57 StGB Bezug nimmt, ändert nichts an dieser rechtlichen Bewertung. Insoweit handelt es sich nämlich nicht um eine Rechtsfolgenverweisung. Vielmehr hat der Gesetzgeber den Anwendungsbereich von § 454 StPO dadurch näher bestimmt (OLG Jena, Beschluss vom 03.01.2012, 1 Ws 566/11, Rdnr. 23 nach juris).

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Entscheidung des 1. Strafsenats des OLG Celle vom 06.05.2008 (NStZ-RR 2008, 355), in welcher die Vorschrift des § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO auch dann für anwendbar erklärt wird, wenn der Vollstreckungsleiter zuvor die weitere Vollstreckung an die nach den allgemeinen Vorschriften zuständige Vollstreckungsbehörde gemäß § 85 Abs. 6 JGG abgegeben hat. In diesem Beschluss hat der 1. Strafsenat nicht etwa die Auffassung vertreten, dass nach der Abgabe der Vollstreckung gemäß § 85 Abs. 6 JGG die materiellen Normen des StGB anzuwenden seien. Er hat lediglich klargestellt, dass § 85 Abs. 6 S. 2 JGG ohne Einschränkung auf die Anwendbarkeit der StPO und damit auch des § 454 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 StPO verweist. Eine Anwendbarkeit der §§ 56 ff. StGB folgt daraus gerade nicht (so auch OLG Jena a. a. O.).

Der Vorrang der materiell-rechtlichen Vorschriften des JGG gilt auch für die sonstigen Entscheidungen, die im Hinblick auf eine zur Bewährung ausgesetzte Restjugendstrafe zu treffen sind. § 88 Abs. 6 Satz 1 JGG verweist für die Bewährungszeit auf § 22 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 und 2 JGG. Die entsprechende Regelung aus dem allgemeinen Strafrecht nach § 56 a und § 56 f Abs. 2 S. 1 Ziff. 2, S. 2 StGB ist in diesen Fällen nicht anwendbar.

Daraus folgt, dass die Strafvollstreckungskammer bereits mit ihrem ursprünglichen Aussetzungsbeschluss vom 05.11.2004 gegen die Regelung des § 22 Abs. 1 Satz 2 JGG verstoßen hat. Die Kammer hat eine vierjährige Bewährungszeit festgesetzt, obwohl diese drei Jahre nicht hätte überschreiten dürfen. Außerdem konnte diese Bewährungszeit nachträglich nicht mehr verlängert werden, weil § 22 Abs. 2 Satz 2 JGG insoweit bestimmt, dass eine nachträgliche Verlängerung der Bewährungszeit auf maximal vier Jahre möglich ist. Die Verlängerungsbeschlüsse der Kammer vom 01.09.2005, 13.01.2009 und 07.04.2009 haben angesichts dieser eindeutigen Regelung keine weitere Rechtswirkung entfaltet. Der ursprüngliche Aussetzungsbeschluss ist am 19.11.2004 rechtskräftig geworden. Damit ist die Bewährungszeit in jedem Fall seit dem 19.11.2008 abgelaufen. Die Straftat, die die Strafvollstreckungskammer zum Anlass für ihren Widerrufsbeschluss genommen hat und die durch Strafbefehl des Amtsgerichts Aurich vom 28.04.2011 geahndet worden ist, wurde am 06.09.2010 und damit nicht innerhalb der Bewährungszeit begangen. Ein Widerruf der Strafaussetzung gemäß § 26 Abs. 1 Ziff. 1 JGG, auf den § 88 Abs. 6 Satz 2 JGG ebenfalls verweist, war somit nicht möglich. Da sonstige Widerrufsgründe nicht ersichtlich sind, war der angefochtene Beschluss aufzuheben.

III.

Der Senat ist als Beschwerdeinstanz zur eigenen Sachentscheidung berufen. Die einzig denkbare Entscheidung über die verbliebene Reststrafe war nach Ablauf der Bewährungszeit der Reststrafenerlass gemäß § 26 a JGG. Nach § 100 JGG war zugleich auszusprechen, dass der Strafmakel als beseitigt erklärt wird.

IV.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1 StPO.