BVerfG, Beschluss vom 26.09.2005 - 2 BvR 1651/03
Fundstelle
openJur 2012, 134420
  • Rkr:
Tenor

1. Der Beschluss des Landgerichts Kassel vom 14. Mai 2003 - 4 StVK 22/03 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben und das Verfahren an das Landgericht Kassel zur erneuten Entscheidung über die Kosten des Rechtsstreits zurückverwiesen.

2. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 12. August 2003 - 3 Ws 728/03 (StVollz) - ist gegenstandslos.

3. Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Verlegung eines Strafgefangenen von der Justizvollzugsanstalt K. in die Justizvollzugsanstalt B..

I.

1. Wegen der Beschädigung der Verplombung des Diskettenschachtes seiner Schreibmaschine widerrief die Justizvollzugsanstalt K. im Herbst 2002 die dem Beschwerdeführer zuvor erteilte Erlaubnis zum Besitz einer Schreibmaschine und entzog ihm diese. Ein Antrag des Beschwerdeführers auf gerichtliche Entscheidung war erfolglos (4 StVK 3/03). Zugleich verhängte die Anstalt gegen den Beschwerdeführer auch wegen anderer Vorfälle eine einmonatige Freizeitsperre, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Das vom Beschwerdeführer angerufene Landgericht ließ offen, ob der Vorwurf, die Schreibmaschine manipuliert zu haben, die Disziplinarmaßnahme rechtfertigte (2 StVK 628/02).

2. Mit Bescheid vom 22. Januar 2003 verfügte die Justizvollzugsanstalt K. die Verlegung des Beschwerdeführers in die Justizvollzugsanstalt B.. Sie begründete dies damit, dass einige Stationsbedienstete gegen den Beschwerdeführer, der am 13. Januar 2003 unrechtmäßig die Schreibmaschine eines Mitgefangenen in Besitz gehabt habe, nicht eingeschritten seien, was Zweifel an der notwendigen Distanz der Bediensteten zum Beschwerdeführer begründe. Da davon auszugehen sei, dass die Bediensteten in der Justizvollzugsanstalt B. dem Beschwerdeführer mit der nötigen Distanz entgegentreten würden, erscheine diese Anstalt für die Unterbringung des Beschwerdeführers besser geeignet. Diese Verfügung wurde am Folgetag umgesetzt.

Durch die Verlegung verlor der Beschwerdeführer, der sich seit Januar 1998 in der Justizvollzugsanstalt K. befand, nach fünf Jahren seinen Arbeitsplatz.

3. Mit Beschluss vom 14. Mai 2003 wies das Landgericht Kassel den Antrag des Beschwerdeführers auf gerichtliche Entscheidung zurück. Wenn Stationsbedienstete gegen das Verhalten eines Strafgefangenen nicht einschritten, das geeignet erscheine, die Sicherheit und Ordnung der Anstalt zu gefährden, liege in diesem Zustand eine gemäß § 85 StVollzG die Verlegung rechtfertigende Gefahr. Im vorliegenden Fall bestehe die Gefahr, dass Kenntnisse über repressiv zu ahndende, die Sicherheitsbelange der Anstalt berührende Verhaltensweisen des Beschwerdeführers nicht weitergetragen und diese Verhaltensweisen nicht durch disziplinarrechtliches Einschreiten in Zukunft verhindert würden. Auch werde die Anstaltsordnung dadurch berührt, dass die Duldung bei Mitgefangenen den Eindruck erwecke, man könne sich auf dieses passive Verhalten der Aufsichtsbeamten auch in eigenen Angelegenheiten berufen, oder Anlass zu der Annahme gebe, dem Beschwerdeführer würde eine bevorzugte Behandlung zuteil. Mit einer Verlegung werde verhindert, dass alte Strukturen ein fortdauerndes die Sicherheitsbelange der Anstalt berührendes Verhalten des Beschwerdeführers förderten.

4. Die gegen diese Entscheidung eingelegte Rechtsbeschwerde des Beschwerdeführers verwarf das Oberlandesgericht Frankfurt am Main mit Beschluss vom 12. August 2003 ohne nähere Begründung einstimmig als unzulässig.

II.

1. Mit seiner rechtzeitig eingelegten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 1 Abs. 1 und 3 GG, Art. 2 Abs. 1 und 2 GG, Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 101 Abs. 1 GG und Art. 103 Abs. 1 und 3 GG und macht geltend, die Verlegung sei durch § 85 StVollzG nicht gedeckt und unverhältnismäßig. Die Annahme einer Gefahr für die Sicherheit und Ordnung der Anstalt wegen einer im Haftraum des Beschwerdeführers aufgefundenen Schreibmaschine sei nicht nachvollziehbar. Durch die Verlegung habe er einen fünf Jahre lang innegehabten Arbeitsplatz verloren. Da er über keine Kontakte zu Menschen außerhalb der Justizvollzugsanstalt verfüge, seien außerdem die innerhalb der Justizvollzugsanstalt Kassel I aufgebauten Kontakte zu anderen Gefangenen für ihn von besonderer Bedeutung.

2. Die Hessische Staatskanzlei hat mit Schreiben vom 27. Januar 2004 Stellung genommen. Soweit der Beschwerdeführer rüge, der ungenehmigte Besitz einer Schreibmaschine könne eine Verlegung nicht rechtfertigen und die Verlegung sei daher unverhältnismäßig, sei die Verfassungsbeschwerde unbegründet. Dass das Landgericht nicht ausdrücklich Maßnahmen gegen die das Verhalten des Beschwerdeführers duldenden Stationsbediensteten als milderes Mittel zur Einhaltung der Sicherheit und Ordnung in der Anstalt in Betracht gezogen habe, rechtfertige nicht den Schluss auf die Unverhältnismäßigkeit der Verlegung. Abgesehen davon, dass sich aus den Akten nicht ergebe, ob Ermittlungen gegen die Stationsbediensteten stattgefunden und zu Ergebnissen geführt haben, habe die Justizvollzugsanstalt bei der Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung in der Anstalt die Belange der Führung der Justizvollzugsanstalt nicht denen des Strafgefangenen unterordnen müssen.

3. Mit Schriftsatz vom 13. April 2004 teilt der Beschwerdeführer mit, dass er nach einem einjährigen Aufenthalt in der Justizvollzugsanstalt B. Ende Januar 2004 wieder in die Justizvollzugsanstalt K. zurückverlegt worden und dort nun in dem Flügel untergebracht sei, auf dem sich bereits früher sein Haftraum befunden habe. Gründe für diese Rückverlegung seien ihm nicht bekannt.

III.

Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung (§ 93c Abs. 1 BVerfGG) liegen vor. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Grundsätze sind durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt (s. unter 2.). Nach diesen Grundsätzen ist die ? zulässige - Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet.

1. Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer nach Erhebung der Verfassungsbeschwerde wieder in die Justizvollzugsanstalt K. zurückverlegt wurde. Das schutzwürdige Interesse des Beschwerdeführers, die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Entscheidungen festgestellt zu sehen, ist durch die Rückverlegung nicht entfallen. Nach einem Wegfall der Beschwer besteht ein Rechtsschutzbedürfnis unter anderem dann fort, wenn eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu besorgen ist (vgl. BVerfGE 33, 247 <257>; 81, 138 <140>; 103, 44 <58 f.>; 104, 220 <233>). Dies ist hier der Fall. Das Landgericht hat die Annahme der Justizvollzugsanstalt bestätigt, sie sei berechtigt, den Beschwerdeführer aus Gründen, die wesentlich im Verhalten von Stationsbediensteten liegen, in eine andere Anstalt zu verlegen. Auch die Hessische Staatskanzlei hat in ihrer Stellungnahme unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass sie eine Verlegung des Beschwerdeführers aufgrund des Fehlverhaltens von Stationsbediensteten für unbedenklich hält, weil die Justizvollzugsanstalt bei der Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung in der Anstalt die Belange der Führung der Justizvollzugsanstalt nicht denen des Strafgefangenen unterordnen müsse. Es ist daher nicht davon auszugehen, dass der Rückverlegung eine bessere Einsicht in die Unrechtmäßigkeit der Verlegung zugrunde liegt.

2. Die Verfassungsbeschwerde ist auch offensichtlich begründet im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Grundsätzlich sind die Auslegung des Gesetzes und seine Anwendung auf den einzelnen Fall Sache der dafür zuständigen Fachgerichte. Die Verfassungsbeschwerde ist nur erfolgreich, wenn die Auslegung und Anwendung des Rechts auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang des Schutzbereichs, beruht und für den konkreten Fall von einigem Gewicht ist (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.>). Dies ist hier der Fall.

a) Eine ohne seinen Willen erfolgende Verlegung eines Strafgefangenen greift in dessen Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG ein. Dieser Eingriff kann für den Gefangenen mit schwerwiegenden Beeinträchtigungen verbunden sein. Alle seine innerhalb der Anstalt entwickelten sozialen Beziehungen werden praktisch abgebrochen. Der unter den Bedingungen des Anstaltslebens schwierige Aufbau eines persönlichen Lebensumfeldes muss in einer anderen Anstalt von neuem begonnen werden (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Februar 1993 - 2 BvR 196/92 - NStZ 1993, S. 300 f.; Oberlandesgericht Stuttgart, NStZ 1998, S. 431 <432>). Eine zusätzliche erhebliche Beeinträchtigung ergibt sich, wenn der Wechsel der Anstalt mit dem Verlust einer Arbeitsmöglichkeit verbunden ist.

Die Verlegung kann ? nicht nur aus den bereits genannten Gründen - auch die Resozialisierung des Strafgefangenen beeinträchtigen und berührt somit auch dessen durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG vermittelten (vgl. BVerfGE 98, 169 <200>) Anspruch auf einen Strafvollzug, der auf das Ziel der Resozialisierung ausgerichtet ist (vgl. LG Hamburg, StV 2002, S. 664 <665 f.>). Die Vollstreckungszuständigkeit einer Justizvollzugsanstalt bestimmt sich nach dem Vollstreckungsplan des Landes (§ 152 Abs. 1 StVollzG), in dem allgemein die zur Erreichung der Vollzugsziele geeignete Anstalt festgelegt ist. Die örtliche Vollzugszuständigkeit richtet sich im Interesse der Resozialisierung insbesondere nach dem Wohnort als dem Schwerpunkt der Lebensbeziehungen des Strafgefangenen (vgl. i.E. § 24 StVollstrO). Zulässige Abweichungen vom Vollstreckungsplan und im Vollstreckungsplan selbst vorgesehene Konkretisierungsspielräume bei der Entscheidung über die Einweisung in eine Justizvollzugsanstalt werden wiederum unter anderem durch Gesichtspunkte der Resozialisierung bestimmt (vgl. § 152 Abs. 2 StVollzG, § 26 StVollstrO). Verlegungen, die nicht ihrerseits durch Resozialisierungsgründe bestimmt sind, können daher die Resozialisierungsbedingungen nachteilig verändern.

b) Die Entscheidung des Landgerichts beruht auf der Annahme, die Duldung von Verstößen eines Strafgefangenen gegen die Anstaltsordnung durch die Stationsbediensteten begründe einen die Sicherheit und Ordnung der Anstalt gefährdenden Zustand, der nach § 85 StVollzG die Verlegung des Gefangenen rechtfertigt. Mit dieser Auslegung des § 85 StVollzG sind die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Gesetzesinterpretation (vgl. BVerfGE 65, 317 <322>) überschritten. Gemäß § 85 StVollzG kann ein Gefangener in eine Anstalt verlegt werden, die zu seiner sicheren Unterbringung besser geeignet ist, wenn in erhöhtem Maße Fluchtgefahr gegeben ist oder sonst sein Verhalten oder sein Zustand eine Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt darstellt. Anders als etwa § 88 Abs. 3 StVollzG, der für die Anordnung bestimmter Sicherungsmaßnahmen auch Gründe genügen lässt, die nicht in der Person oder dem Verhalten des Gefangenen liegen, setzt § 85 StVollzG danach eine konkrete vom Gefangenen selbst ausgehende Gefahr voraus. Die Norm ermöglicht eine Verlegung in eine andere Anstalt, in der Regel eine Anstalt höheren Sicherheitsgrades (BTDrucks 7/918, S. 77), eindeutig nur für den Fall, dass das Verhalten oder der Zustand des Gefangenen eine Gefahr für die Anstaltssicherheit oder -ordnung begründet, der in dieser Justizvollzugsanstalt nicht angemessen begegnet werden kann. Eine Verlegung des Gefangenen zur Abwehr von Gefahren, die durch Fehlverhalten des Vollzugspersonals begründet sind, ist dagegen offensichtlich weder vom Wortlaut noch vom Sinn und Zweck des § 85 StVollzG gedeckt.

Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass im vorliegenden Fall das als gefahrbegründend im Sinne des § 85 StVollzG angesehene pflichtwidrige Verhalten der Stationsbediensteten in einem Nichteinschreiten gegen einen Pflichtverstoß des Beschwerdeführers bestand. Das Landgericht hat als Gefahr, die gemäß § 85 StVollzG die Verlegung des Beschwerdeführers rechtfertige, nicht den Pflichtverstoß des Beschwerdeführers ? den ungenehmigten Besitz der Schreibmaschine eines Mitgefangenen ? sondern das pflichtwidrige Nichteinschreiten der Stationsbediensteten angesehen. Auch eine alternative Begründung, die auf das pflichtwidrige Verhalten des Beschwerdeführers statt auf das der Stationsbediensteten abstellte, wäre im Übrigen nicht geeignet, das Entscheidungsergebnis in verfassungsmäßiger Weise zu tragen, denn ein einzelner ohne weiteres zu unterbindender Ordnungsverstoß wie der ungenehmigte Besitz einer Schreibmaschine begründet ebensowenig wie das Nichteinschreiten von Vollzugsbediensteten gegen einen solchen Verstoß eine die Verlegung rechtfertigende Gefahr im Sinne des § 85 StVollzG.

c) Die Auslegung und Anwendung des § 85 StVollzG durch das Landgericht ist zudem unverhältnismäßig. Beschränkungen des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG dürfen nur unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vorgenommen werden; sie müssen zum Schutz eines kollidierenden Rechtsguts geeignet und erforderlich sein und zur Art und Intensität der Beeinträchtigung oder Gefährdung, der begegnet werden soll, in einem angemessenen Verhältnis stehen (vgl. BVerfGE 16, 194 <201 f.>; 92, 277 <327 f.>; stRspr). Unter der vom Landgericht angenommenen Voraussetzung, dass das Nichteinschreiten der Stationsbediensteten eine Gefahr im Sinne des § 85 StVollzG darstellte, wäre zunächst festzustellen gewesen, ob der unterstellten Gefahr durch eine geeignete Einwirkung auf die Bediensteten, beispielsweise durch die schlichte Anweisung, Pflichtverstöße des Beschwerdeführers den Vorgesetzten zu melden, als milderes Mittel hätte begegnet werden können. Schon an dieser die Erforderlichkeit der Verlegung betreffenden Prüfung fehlt es.

3. Die Entscheidung des Landgerichts ist gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben. Damit wird die Entscheidung des Oberlandesgerichts gegenstandslos. Da der Beschwerdeführer im Januar 2004 in die Justizvollzugsanstalt K. rückverlegt wurde, so dass der beim Landgericht gestellte Antrag des Beschwerdeführers sich erledigt hat, wird das Verfahren nur noch zur Entscheidung über die Kosten an das Landgericht zurückverwiesen (vgl. BVerfGE 44, 353 <383>).

4. Die Entscheidung über die Erstattung der Auslagen beruht auf § 34 Abs. 4 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).