VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 08.02.2006 - 13 S 18/06
Fundstelle
openJur 2013, 14207
  • Rkr:

Die ausländerrechtliche Konzeption des vorläufigen Rechtsschutzes lässt es nicht zu, die Ausländerbehörde im Wege der einstweiligen Anordnung - über die Duldung als vorläufige Maßnahme hinaus - zur Erteilung einer (auch nur vorläufigen) Aufenthaltserlaubnis zu verpflichten.

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 14. Dezember 2005 - 16 K 3169/05 - geändert. Die Anträge der Antragsteller werden abgelehnt.

Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 10.000,-- EUR festgesetzt.

Gründe

Gemäß den §§ 166 VwGO, 114, 119 Satz 2, 121 ZPO war den Antragstellern für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen und ihnen ihr Prozessbevollmächtigter beizuordnen.

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 14.12.2005 ist zulässig und begründet. Das Verwaltungsgericht hat den Anträgen der Antragsteller, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihnen die bis zum 3.9.2005 befristet erteilten Aufenthaltserlaubnisse bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens 16 K 3168/05 zu verlängern, zu Unrecht stattgegeben.

Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Verwaltungsgericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist nach § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 ZPO, dass der Antragsteller einen Anspruch glaubhaft macht, dessen vorläufiger Sicherung die begehrte Anordnung dienen soll (Anordnungsanspruch), und dass er Gründe glaubhaft macht, die eine gerichtliche Eilentscheidung erforderlich machen (Anordnungsgrund).

Der Senat teilt die Auffassung der Antragsgegnerin, dass das Verwaltungsgericht zu Unrecht von der Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes durch die Antragsteller ausgegangen ist. Wie sich schon aus der Bezeichnung der Maßnahme als einer einstweiligen Anordnung und aus der Vorläufigkeit des zu regelnden Zustandes ergibt, dient die einstweilige Anordnung ihrem Wesen nach dem vorläufigen Rechtsschutz. Es ist daher grundsätzlich nicht Sinn des summarischen Verfahrens auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, dem Antragsteller schon diejenige Rechtsposition zu verschaffen, die er nur im Verfahren zur Hauptsache, also aufgrund einer Verpflichtungs- oder Leistungsklage, erstreiten könnte. Eine solche unzulässige Vorwegnahme des Ergebnisses der Hauptsache liegt nicht nur in irreparablen Regelungen. Sie kann auch dann gegeben sein, wenn die begehrte Regelung nur vorübergehend, d.h. unter dem Vorbehalt einer anderweitigen gerichtlichen Entscheidung in der Hauptsache ergehen soll. Denn die Begriffe „einstweilig“ und „vorläufig“ sind nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich zu verstehen. Die einstweilige Regelung darf grundsätzlich nur der Sicherung, nicht aber der Erfüllung des Anspruchs dienen (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl., RdNr. 13 f., Eyermann, VwGO, 11. Aufl., § 123 RdNr. 63).

Von diesen Grundsätzen hat die Rechtsprechung nur dann Ausnahmen zugelassen, wenn anders ein wirksamer Rechtsschutz nicht zu erreichen wäre. Das ist regelmäßig dann der Fall, wenn das Begehren termingebunden ist, so dass der Rechtsschutz im Verfahren zur Hauptsache unter Umständen zu spät käme, oder wenn begehrte Geldleistungen für den Antragsteller lebensnotwendig sind.

Ausgehend hiervon besteht für den Erlass der von den Antragstellern begehrten einstweiligen Anordnung kein Anordnungsgrund im Sinne von § 123 Abs. 1 VwGO, weil es nicht dringlich ist, die von ihnen begehrte vorläufige Regelung zu treffen. Aus ihrem Vorbringen ergibt sich nicht, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung nötig wäre, um wesentliche Nachteile von ihnen abzuwenden.

Unter rein ausländerrechtlichen Gesichtspunkten gesehen ist es zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nicht erforderlich (und damit auch nicht statthaft), die von den Antragstellern begehrte Regelung nach § 123 VwGO (Verpflichtung zu einer Aufenthaltserlaubnis) zu treffen. Denn die Klage der Antragstellerin zu 1 gegen den auf § 73 Abs. 1 AsylVfG gestützten Widerrufsbescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 3.5.2005 hat aufschiebende Wirkung. Dies bedeutet, dass während der Dauer des Widerrufsverfahrens ihr aufenthaltsrechtlicher Status - und damit auch derjenige des Antragstellers zu 2 - nicht angetastet werden darf, die Ausländerbehörde mithin einstweilen verpflichtet ist, ausländerrechtliche Maßnahmen zu unterlassen, welche die Wirksamkeit des angefochtenen Widerrufsbescheids voraussetzen (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 13.3.2001 - 11 S 2374/99 -, InfAuslR 2001, 490; Marx, AsylVfG, 6. Aufl., § 4 AsylVfG RdNr. 5; Storr in Storr/Wenger/Eberle/Albrecht/Zimmermann-Kreher, AufenthG, § 25 RdNr. 4). Eine Beendigung des Aufenthalts durch ausländerrechtliche Maßnahmen haben die Antragsteller hiernach bis zum Eintritt der Unanfechtbarkeit des Widerrufsbescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge nicht zu befürchten. Es geht den Antragstellern, wie aus ihren Ausführungen hervorgeht, letztlich auch nur darum, durch den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung in den für die Gewährung von Kindergeld und Bundeserziehungsgeld erforderlichen „Besitz“ von Aufenthaltserlaubnissen zu gelangen (vgl. insoweit § 62 Abs. 2 EStG bzw. § 1 Abs. 6 Satz 2 BErzGG). Diese Geldleistungen sind für die Antragsteller jedoch nicht lebensnotwendig, so dass ihnen durch ihre einstweilige Vorenthaltung keine schweren und unzumutbaren Nachteile entstehen. Sie erhalten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch, mit denen ihre Existenzgrundlage hinreichend gesichert ist. Besondere Umstände, die eine gegenteilige Annahme rechtfertigen könnten, haben die Antragsteller nicht dargetan und sind auch sonst nicht erkennbar. Den Antragstellern entsteht auch kein nicht wieder gutzumachender Schaden, falls ihrem Begehren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht stattgegeben wird. Denn sowohl das Kindergeld als auch das Bundeserziehungsgeld wird rückwirkend bewilligt, falls die Antragsteller letztlich mit ihrem Begehren auf Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen Erfolg haben sollten (vgl. Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 17.2.2005 - L 5 EG 1/04 -, Breithaupt 2005, 597 und Niedersächsisches Finanzgericht, Urteil vom 8.9.2004 - 2 K 55/03 -, EFG 2005, 307).

Hiernach fehlt es am Anordnungsgrund im Sinne des § 123 Abs. 1 VwGO, da die Antragsteller nicht glaubhaft gemacht haben, dass ihnen ohne den Erlass der erstrebten einstweiligen Anordnung schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre.

Zur Vermeidung weiteren Rechtsstreits merkt der Senat abschließend an, dass das Verwaltungsgericht auch zu Unrecht davon ausgegangen ist, im Weg der einstweiligen Anordnung sei - über die Duldung als vorläufige Maßnahme hinaus - die Verpflichtung zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis möglich. Nach nahezu einhelliger Rechtsansicht bereits zur Rechtslage nach dem Ausländergesetz, nun aber auch zum Aufenthaltsgesetz ist vorläufiger Rechtsschutz allein nach § 80 Abs. 5 VwGO zu gewähren, soweit Ausländern - wie vorliegend den Antragstellern - durch die nach § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG kraft Gesetzes sofort vollziehbare Ablehnung eines Antrags auf Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels ein durch die Antragstellung begründetes Aufenthaltsrecht nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG oder die Fortgeltungsfiktion nach § 81 Abs. 4 AufenthG genommen wird (vgl. Funke-Kaiser, GK-AufenthG, § 81 RdNr. 56, 72; Renner, AuslR, 8. Aufl., § 81 AufenthG RdNr. 33; Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl., § 80 RdNr. 120; Funke-Kaiser in Bader, VwGO, 3. Aufl., § 80 RdNr. 3; s. auch Hess. VGH, Beschluss vom 16.3.2005 - 12 TG 298.05 -, AuAS 2005, 134; zur früheren Rechtslage s. z.B. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 10.3.2000 -13 S 1026/00 -, InfAuslR 2000, 379 m.w.N.; OVG Münster, Beschluss vom 15.4.2004 - 18 B 471/04 -, NWVBl 2004, 391). Rechtsschutz nach § 123 VwGO kommt nach § 123 Abs. 5 VwGO nur dann in Betracht, wenn die Erlaubnisfiktion nicht gegeben war und daher die Ablehnungsverfügung auch keinen im Weg des § 80 Abs. 5 VwGO korrigierbaren „Eingriff“ darstellt; in diesen Fällen ist der Antrag aber - der Sicherungsfunktion des § 123 VwGO entsprechend - auch nur auf Duldung d.h. einstweilige Unterlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gerichtet (s. VGH Baden-Württemberg, a.a.O.). Im hier vorliegenden Fall der Erlaubnisfiktion reicht einstweiliger Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO auch aus: Wenn wie hier „fremdes“ Recht (Kindergeld- oder Erziehungsgeldrecht) den „Besitz“ einer Aufenthaltserlaubnis verlangt, so haben die mit diesem Rechtsgebiet befassten Behörden und Gerichte zu entscheiden, ob und welche nur vorläufige ausländerrechtliche Rechtsposition - z.B. eine positive Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO nach Ablehnung einer Aufenthaltserlaubnis oder aber - bei fehlender Fiktionswirkung - eine auf Duldung gerichtete einstweilige Anordnung -dazu ausreicht, einen entsprechenden Anspruch zu begründen oder wenigstens einen vorläufigen Leistungsbezug zu rechtfertigen. Die dem System des ausländerrechtlichen vorläufigen Rechtsschutzes fremde einstweilige Anordnung auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis würde diese Prüfung unterlaufen. Es liegt auch bereits fachgerichtliche Rechtsprechung zur Frage des Leistungsbezugs bei einer nur vorläufigen Aufenthaltsposition vor: Bereits ein als erlaubt geltender Aufenthalt im Inland nach § 69 Abs. 3 AuslG kann zum Bezug von Kindergeld bzw. von Bundeserziehungsgeld berechtigen (vgl. Niedersächsisches Finanzgericht, Urteil vom 8.9.2004 - 2 K 55/03 -, EKG 2005, 307 und Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 17.2.2005 - L 5 EG 1/04 -, Breithaupt 2005, 597). Es ist Sache der Antragsteller, in Verfahren gegenüber den Leistungsträgern für das Kindergeld bzw. das Bundeserziehungsgeld abzuklären, ob diese Rechtsprechung auf Inhaber von Fiktionsbescheinigungen nach § 81 Abs. 5 AufenthG übertragen wird. Dass Leistungsgesetze wie das Bundeserziehungsgeldgesetz den „Besitz“ eines Aufenthaltstitels zur Voraussetzung der Bewilligung von Geldleistungen machen, rechtfertigt es daher - mit anderen Worten - nicht, den Antragstellern im Wege der einstweiligen Anordnung eine Rechtsposition zu verschaffen, die ihnen nach der ausländerrechtlichen Konzeption des Gesetzgebers (noch) nicht zustehen soll.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 53 Abs. 3 Nr. 2, 52 Abs. 1 und 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).