AG Dieburg, Urteil vom 23.04.2012 - 20 C 29/12
Fundstelle
openJur 2012, 68274
  • Rkr:

Anforderungen an den Nachweis der Unzumutbarkeit nach § 574 BGB bei einer 82 Jahre alten Mieterin. Das Mietverhältnis verlängert sich bei einer 82-jährigen Mieterin nach Eigenbedarfskündigung auf unbestimmte Zeit, wenn die Mieterin altersgemäße Gebrechen plausibel durch ärztliche Zeugnisse darlegt.

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

4. Die Klägerin kann Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages abwenden, sofern nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Zwischen den Parteien besteht ein Mietverhältnis über eine Wohnung im ersten Stock des Anwesens […].

Ursprünglich mietete die Beklagte mit Mietvertrag vom 31.03.2006die streitgegenständliche Wohnung von Frau A an. Mit der Vermieterin wurde ein monatlicher Netto-Mietzins von 650,00 Euro vereinbart, welcher auch heute noch gilt. Die Wohnung hat vier Zimmer und eine Gesamtgröße von etwa 91 m².

Aufgrund Vermittlung einer Maklerin kaufte die Klägerin mit notarieller Urkunde vom 05.11.2010 die streitgegenständliche Wohnung. Die Eigentumsumschreibung auf die Klägerin im Grundbuch erfolgte am 16.02.2011.

Die Klägerin äußerte in Gesprächen mit der Beklagten den Wunsch,die Wohnung selbst zu nutzen. Mit Schreiben vom 30.06.2011 (Anlage K 3) kündigte die Klägerin gegenüber der Beklagten das Mietverhältnis zum 30.09.2011 wegen Eigenbedarfs. Mit anwaltlichem Schreiben vom 01.08.2011 (Anlage K 4) kündigte die Klägerin durch ihren Prozessbevollmächtigten das Mietverhältnis erneut ordentlich wegen Eigenbedarfs nach § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB. Das Schreiben begründet den Eigenbedarf damit, dass die Klägerin ihre 65 m² große Wohnung, die in B gelegen ist, verlassen möchte, da sie gerne ihr neues Eigentum selber nutzen möchte. Sie ist beschäftigt beim Landratsamt des Landkreises […] mit Sitz in C und möchte neben der kürzeren Distanz zum Arbeitsplatz auch einen intensiveren Kontakt zu ihren Familienmitgliedern halten, die in C wohnen.Außerdem soll der Umzug auch dazu dienen, eine Betreuung durch ihr Familienangehörigen jetzt und später zu erleichtern. Weiterhin möchte sie sich im Hinblick auf ihre Lebenssituation schon zum jetzigen Zeitpunkt ein soziales Netzwerk aus der Nachbarschaft und der Familie schaffen, damit sie während ihres fortschreitenden Alters dies nicht später tun muss.

Der Kündigung wurde durch anwaltliches Schreiben der Beklagten vom 19.07.2011 widersprochen (Anlage B 2). Darin machte die Beklagte geltend, dass aus ihrer Sicht ein Eigenbedarf nicht bestehe und außerdem eine unbillige Härte nach § 574 BGB wegen des Alters und des Gesundheitszustandes gegeben sei.

Mit in der Wohnung der Beklagten zu 1. wohnt deren Enkel, der Beklagte zu 2. Seitens der ursprünglichen Vermieterin wurde diese Untervermietung mit Schreiben vom 15.03.2007 genehmigt. Die Klägerin hat der weiteren Untervermietung mit ihrem Kündigungsschreiben ausdrücklich widersprochen.

Nach erfolgter Kündigung übersandte die Klägerin der Beklagten mehrere Wohnungsanzeigen für Alternativwohnungen. Die Beklagte unternahm ihrerseits keine Bemühungen, nach einer anderen Wohnung zu suchen.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, die von ihr innegehaltene Wohnung im ersten Stock links des Anwesens […] in C, bestehend aus 4Zimmern, 1 Kammer, 1 Küche, 1 Flur, 1 WC mit Bad, 1 Balkon, 1Kellerraum und 1 Bodenraum in geräumtem Zustand an die Klägerin herauszugeben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte behauptet, dass sie aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage wäre, einen Umzug durchzuführen. Sie ist der Ansicht, dass ein solcher Umzug für sie eine unbillige Härte darstellen würde.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.

Gründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet.

Ein Anspruch der Klägerin auf Räumung nach beendetem Mietverhältnis besteht nicht.

Die von der Klägerin ausgesprochene Kündigung wegen Eigenbedarfs ist zumindest in der anwaltlichen Form vom 1.8.2011 wegen Eigenbedarfs nach § 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB berechtigt.

Die Klägerin hat ihren Wunsch nach Eigennutzung vernünftig und nachvollziehbar begründet. Ihr höchst persönliches Interesse und auch ihre nach Artikel 14 GG geschützte Eigentumsgarantie rechtfertigen ihren Wunsch nach Eigennutzung der von ihr gekauften Wohnung. Dabei ist allein entscheidend, dass die Klägerin einen plausiblen Eigennutzungswillen dargelegt hat, wobei hieran keine zu hohen Ansprüche zu stellen sind. Alleine der Eigennutzungswille musste bis zum Ende der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar sein, was vorliegend geschehen ist. Die Überlegungen zur Nähe des Arbeitsplatzes, des erleichterten Familienkontakts aber auch der Lebenssituation für das Alter sind zusammengenommen für diesen Fall ausreichend plausible Gründe für einen Eigenbedarf.

Die berechtigte Kündigung der Klägerin hat jedoch das Mietverhältnis nicht wirksam beendet, da dieses nach Widerspruch der Beklagten zu 1. wirksam gemäß §§ 574 a Abs. 1, Abs. 2 Satz 2BGB, 574 Abs. 1 BGB unbefristet fortgesetzt wird.

Die Beklagte zu 1. hat rechtmäßig der Kündigung widersprochen und die Beendigung des Mietverhältnisses würde für sie eine Härte bedeuten, welche auch unter Würdigung der berechtigten Interessen der Klägerin nicht zu rechtfertigen ist.

Unter einer Härte im Sinne des § 574 BGB sind alle Nachteile wirtschaftlicher, finanzieller, gesundheitlicher familiärer oder persönlichen Art zu verstehen, die in Folge der Vertragsbeendigung auftreten können (vgl. Blank im Schmidt-Futterer Mietrecht 9. Aufl.§ 574 RdNr. 20). Die Vorschrift stellt einen Ausnahmecharakter zur Eigentumsgarantie des Artikels 14 GG dar und ist deswegen restriktiv anzuwenden. Sie stellt ergänzend zum allgemeinen Kündigungsschutz eine Härtefallregelung dar, welche aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten ist. Bei der Anwendung des §574 BGB ist eine umfassende Interessenabwägung des Einzelfalls durch das Gericht vorzunehmen (vgl. Blank im Schmidt-Futterer Mietrecht § 574 RdNr. 65). Bei dieser Interessenabwägung sind die Bestandsinteressen mit den Erlangensinteressen des Vermieters in Beziehung zu setzen.

Eine solche Interessenabwägung führt im konkreten Fall dazu,dass die Interessen der Beklagten zu 1. an der Aufrechterhaltung des Mietverhältnisses überwiegen. Die Beklagte zu 1. ist 83 Jahre alt und in ihrer Nachbarschaft verwurzelt. Hinzu kommt, dass sie durch ärztliche Gutachten nachgewiesen in ihrer Gesundheit altersgemäß eingeschränkt ist.

Aus dem Gutachten des Physiotherapeuten D (Blatt 47 d. A.)ergibt sich, dass der Bewegungsapparat der Beklagten zu 1.erheblich eingeschränkt ist und ihr ein Umzug deswegen sehr schwer fallen dürfte. Das Gutachten des Dr. E (Blatt 48 d. A.) führt aus,dass aus medizinischer Sicht, insbesondere aus schmerz- und koordinationsbedingten Gründen, ihre Mobilität derart eingeschränkt ist, dass aus seiner Sicht ein Umzug nicht zumutbar darstelle.

Diese beiden ärztlichen Gutachten sind Indizien dafür, dass die Beklagte zu 1. einen Umzug nur unter sehr schweren Einschränkungen bewältigen kann. Auch der persönliche Eindruck der Beklagten zu 1.in der mündlichen Verhandlung hat für das Gericht ergeben, dass es sich bei ihr um eine rüstige und geistig sehr klare Partei handelt.Das Gericht sieht aber auch, dass insbesondere aufgrund der altersgemäßen gesundheitlichen Einschränkungen der Beklagten zu 1.für diese ein Umzug eine ganz besondere Härte darstellen würde. Der Beklagten zu 1. war deutlich anzumerken, dass sie ihr Umfeld keinesfalls verlassen will und dass sie sich mit ihrer Nachbarschaft sehr gut versteht. Ein solcher Wunsch, in ihrer Nachbarschaft zu verbleiben, ist gerade bei älteren Menschen ein erhebliches Interesse für einen Bestandsschutz des Mietverhältnisses.

Hinzu kommt bei der Interessenabwägung auch der Hintergrund der Kündigung. Die Klägerin hat selbst in der mündlichen Verhandlung angegeben, dass die Maklerin ihr beim Verkauf mitgeteilt habe, dass die Beklagte zu 1. ausziehen werde und dies war auch nach Aussage der Klägerin in der mündlichen Verhandlung ein Motivationsgrund,die Wohnung zu erwerben. Sie sagte wörtlich: „Hätte ich gewusst, dass sie nicht auszieht, hätte ich die Wohnung nicht gekauft.“ Auch dies deutet darauf hin, dass die Klägerin es zumindest beim Kauf unterlassen hat, sich eine Auszugsverpflichtung durch die Beklagte auch schriftlich versichern zu lassen.

Ihr Interesse ist deswegen auch geringer einzuschätzen, weil sie es selbst in der Hand hatte, eine von der Beklagten bewohnte Wohnung überhaupt zu erwerben. Ihr war bewusst, dass eine ältere Dame in der Wohnung wohnt und es ist nicht lebensfremd anzunehmen,dass auch die Frage der Vermietung der Wohnung bei der Berechnung des Kaufpreises eine Rolle gespielt haben kann. Wenn man aber im Bewusstsein eine Wohnung erwirbt, dass dort eine Person wohnt, bei der allein aufgrund des Alters ein Verlassen der Wohnung eine besondere Härte darstellen wird, dann bedarf es besonderer persönlicher Gründe, warum nach nur kurzer Zeit nach dem Erwerb eine Kündigung ausgesprochen wird. Bei einer umfassenden Interessenabwägung sind auf jeden Fall diese Interessen nicht vorrangig gegenüber den Interessen der Bestandsmieterin anzunehmen.

Weiterhin muss berücksichtigt werden, dass die Beklagte zu 1. in ihrer Wohnung durch ihren Enkel, den Beklagten zu 2., mitgepflegt wird und dieser auch für sie Arbeiten verrichtet. Dies ist für die konkrete Lebenssituation der Beklagten zu 1. ein weiterer berücksichtigungsfähiger Grund. Für die Beklagte zu 1. ist ein selbstbestimmtes Wohnen in ihrer eigenen Wohnung eine erhebliche Steigerung der Lebensqualität und eine solche würde durch einen Umzug in eine andere, evtl. kleinere Wohnung, auch beeinträchtigt.

Das Mietverhältnis wird gemäß § 574a Abs.2 Satz 2 unbefristet fortgesetzt, denn aus Sicht des Gerichts bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass der gesundheitliche Zustand der Beklagten zu 1) sich zukünftig ändern wird.

Ein Räumungsanspruch gegenüber dem Beklagten zu 2. scheidet mangels Beendigung de Hauptmietverhältnisses mit der Beklagten zu 1. aus. Der Beklagte zu 2. ist nur Untermieter bei seiner Großmutter. Sofern mit ihr das Mietverhältnis fortgesetzt wird,kann er auch er in der Wohnung wohnen bleiben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit hat ihre Rechtsgrundlage in den §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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