VG Gelsenkirchen, Urteil vom 06.04.2011 - 7 K 3095/09
Fundstelle
openJur 2012, 79474
  • Rkr:
Tenor

Die Ordnungsverfügung der Beklagten vom 5. Februar 2007 und der Widerspruchsbescheid des Landrates des Kreises V. vom 17. Juni 2009 werden aufgehoben.

Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor in Höhe von 110 % des jeweils beizutreibenden Betrages Sicherheit leistet.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger zeigte im Januar 2007 für die Betriebsstätte X. Straße 17 in M. den Betrieb eines Sportwettbüros mit Internetcafé und Aufstellen von Unterhaltungsspielgeräten an. Nach persönlichen Angaben gegenüber der Beklagten handelte es sich um die Óbernahme eines Betriebs, den seine Ehefrau zuvor geführt hatte und der dieser untersagt worden war. Dort würden Sportwetten an die Firma "Interwetten Malta Limited" mit Sitz in Malta vermittelt.

Daraufhin untersagte die Beklagte nach Anhörung des Klägers diesem mit Ordnungsverfügung vom 5. Februar 2007 die Vermittlung von Sportwetten sowie die Werbung dafür und forderte die Einstellung der Tätigkeit bis zum Ablauf des 28. Februar 2007. Für den Fall der Zuwiderhandlung wurde ein Zwangsgeld von 3.000 EUR angedroht. Zur Begründung stützte sich die Beklagte auf das in Nordrhein-Westfalen geltende Staatsmonopol für die Vermittlung von Sportwetten (Sportwettengesetz NRW a.F.) und daraus folgend die Strafbarkeit der unerlaubten Vermittlung von Sportwetten.

Hiergegen legte der Kläger rechtzeitig Widerspruch ein und suchte bei der erkennenden Kammer um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach. Der Antrag war in beiden Instanzen erfolglos (Beschluss vom 20. März 2007 - 7 L 225/07 - und Beschwerdeentscheidung des OVG NRW vom 26. November 2007 - 4 B 611/07 -). Auch ein Antrag auf Abänderung des Beschlusses vom 20. März 2007 hatte keinen Erfolg (Beschluss der Kammer vom 8. April 2008 - 7 L 78/08 -, bestätigt durch Beschluss des OVG NRW vom 25. Februar 2009 - 4 B 679/08 -).

Unter dem 23. April 2009 meldete der Kläger bei der Beklagten sein Gewerbe ab.

Mit Widerspruchsbescheid vom 17. Juni 2009 wies der Landrat des Kreises V. den Widerspruch unter Berufung auf die Vorschriften des inzwischen zum 1. Januar 2008 in Kraft getretenen Glücksspielstaatsvertrages und des Ausführungsgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen und das darin normierte Staatsmonopol für die Vermittlung und Veranstaltung von Sportwetten zurück.

Daraufhin hat der Kläger am 21. Juli 2009 die vorliegende Klage erhoben.

Er ist der Auffassung, nach wie vor ein Rechtsschutzinteresse für die Aufhebung der Untersagungsverfügung geltend machen zu können, da er auf der Grundlage eines Untermietverhältnisses jederzeit Zugriff auf die Betriebsstätte habe, wie sich aus einer Bestätigung des derzeitigen Betreibers der Betriebsstätte ergebe.

Weiter trägt er zusammengefasst vor, dass der Gesetzgeber die vom Bundesverfassungsgericht (Urteil vom 28. März 2006 - 1 BvR 1054/01 -) eingeräumte Óbergangsfrist nicht dazu genutzt habe, eine verfassungs- und europarechtskonforme Sach- und Rechtslage zu schaffen, die den Anforderungen der Begründung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts und den Anforderungen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) gerecht werde. Die Untersagung von Sportwetten könne auch nicht auf den am 1. Januar 2008 in Kraft getretenen Glücksspielstaatsvertrag und die entsprechenden Ausführungsgesetze der Länder gestützt werden, weil auch danach der Eingriff in Art. 12 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG - nicht gerechtfertigt und weiterhin eine gemeinschaftswidrige und verfassungswidrige Rechtslage gegeben sei. Dies sei jetzt zweifelsfrei geklärt, nachdem der EuGH in den Urteilen vom 8. September 2010 (Rechtssache C-316/07 u.a.) insbesondere die Gesamtkohärenz der Glücksspielpolitik ausdrücklich gefordert habe und diese normativ und tatsächlich weder auf dem Sektor der Spielkasinos noch im Bereich der Spielhallen und ebenso wenig bei der Werbung für das staatliche Lotto eingehalten sei. Die Urteile des EuGH hätten zur Folge, dass alle nationalen Regelungen, die der Umsetzung des Sportwettmonopols dienten, wie etwa der Erlaubnisvorbehalt, unbeachtlich seien. Die Maßstäbe zum Kohärenzgebot habe das Bundesverwaltungsgericht in den grundlegenden Entscheidungen vom 24. November 2010 übernommen und bei Verstoß auch die Unvereinbarkeit mit Art. 12 Abs. 1 GG festgestellt. Tatsächlich sei erwiesen, dass bei Veranstaltung staatlicher Lotterien und staatlicher Sportwetten wirtschaftliche Interessen vorrangig verfolgt würden, was sich nicht zuletzt an der offensiven Werbung hierfür bis in die jüngste Zeit zeige. Dies sei nach den Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts unzulässig. Im Óbrigen verweist der Kläger auf Forderungen verschiedener Arbeitskreise Spielsucht und entsprechende zugrundeliegende Erhebungen.

Der Kläger beantragt,

die Ordnungsverfügung der Beklagten vom 5. Februar 2007 und den Widerspruchsbescheid des Landrates des Kreises V. vom 17. Juni 2009 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist zur Begründung auf die Gründe der angefochtenen Verfügung und die dazu ergangenen Entscheidungen im vorläufigen Rechtsschutz.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf diese Gerichtsakte sowie die der Eilverfahren, die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten und des Landrates des Kreises V. (BA 1 und 2) sowie die vom Kläger zu den Akten gereichten Unterlagen (BA 3 bis 5) Bezug genommen.

Gründe

Die Klage ist als Anfechtungsklage zulässig. Die Abmeldung des konkreten Gewerbes im Jahre 2009 sowie die Óbernahme der Betriebsstätte durch einen Nachfolger steht dem nicht entgegen. Der Kläger hat durch Vorlage einer entsprechenden Erklärung eines Untermieters belegt, dass er als Hauptberechtigter gegenüber seinen jeweiligen Untermietern in der Lage ist, die Räumlichkeiten wieder in Besitz zu nehmen und das Gewerbe fortzusetzen, sollte die Ordnungsverfügung keinen Bestand haben.

Die Klage ist auch begründet. Die Untersagungsverfügung der Beklagten vom 5. Februar 2007 und der Widerspruchsbescheid des Landrates des Kreises V. vom 17. Juni 2009 sind rechtswidrig und verletzten den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).

Die Untersagung der Vermittlung von Sportwetten in der betroffenen Betriebsstätte lässt sich nicht auf § 9 Abs. 1 Nr. 3, § 4 des Glücksspielstaatsvertrages der Länder - GlüStV - stützen. Danach kann die zuständige Behörde der Glücksspielaufsicht des Landes insbesondere die Veranstaltung, Durchführung und Vermittlung grundsätzlich erlaubnispflichtiger (§ 4 GlüStV), aber unerlaubter Glücksspiele und die Werbung hierfür untersagen. Die Erlaubnis zur Veranstaltung von Sportwetten wird in Nordrhein-Westfalen - wie im gesamten Bundesgebiet - derzeit nach den Ausführungsgesetzen der Länder nur staatlichen Stellen erteilt (§§ 14, 3 Abs. 1 des Gesetzes zur Ausführung des Staatsvertrages zum Glücksspielwesen Nordrhein-Westfalens - GlüStV AG NRW -), weshalb der Kläger nicht über eine solche verfügt.

Die Kammer hält an ihrer bisherigen Rechtsprechung, in der sie von der Vereinbarkeit des Staatsmonopols mit der gemeinschaftsrechtlich verbürgten Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit (vgl. Art. 49 und 56 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union - AEUV -) und mit Art. 12 Abs. 1 GG ausgegangen ist (vgl. zuletzt: Urteil der Kammer vom 20. Januar 2010 - 7 K 811/08 -u.a., nrwe.), nicht mehr fest, nachdem der EuGH in seinen Entscheidungen vom 8. September 2010 die Anforderungen an die Rechtfertigung eines staatlichen Glücksspielmonopols namentlich in Bezug auf die geforderte Kohärenz der Glücksspielpolitik der Länder bei der Verfolgung legitimer Ziele zur systematischen Bekämpfung der Spielsucht weiter konkretisiert

EuGH, Urteile vom 8. September 2010 in den Rechtssachen C-316/07 u.a., C-46/08, jeweils juris,

und das Bundesverwaltungsgericht diese anschließend durch Urteile vom 24. November 2010 hinsichtlich konkreter Aspekte veranschaulicht hat.

BVerwG, Urteile vom 24. November 2010 (8 C 13.09,

8 C 14.09 und 8 C 15.09), jeweils juris.

Auf die dortige grundlegende und umfangreiche Darstellung der Sach- und Rechtslage, die sich die Kammer zu eigen macht, wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen.

Die Fortschreibung der Rechtsprechung des EuGH und ihm folgend des Bundesverwaltungsgerichts erfordert aus Sicht der Kammer eine Änderung der Betrachtung im Wesentlichen in zweierlei Hinsicht:

Zum einen muss die hinter der Reglementierung des freien Dienstleistungsverkehrs bzw. der Berufsfreiheit stehende Zielsetzung des Normgebers, die Spielsucht zu bekämpfen und den Spieltrieb von Verbrauchern in kontrollierte, legale Bereiche zu lenken, auf allen Sektoren des Glücksspiels gleichermaßen erkennbar angestrebt werden. Andernfalls erweist sich die Beschränkung als unverhältnismäßig. Im Gegensatz zur bisherigen Ansicht der Kammer umfasst das Kohärenzgebot damit die Verpflichtung zur systematischen und konsequenten Verfolgung der ein Monopol rechtfertigenden Ziele in der gesamten Glücksspielpolitik und ist grundsätzlich bereits dann verletzt, wenn in einem Bereich der Glücksspielsektoren der genannten Zielsetzung zuwiderlaufende Entwicklungen auftreten.

Zum anderen ist nicht allein die - erkennbare - Zielsetzung des Normgebers entscheidend, sondern es ist darüber hinaus zu prüfen, ob und inwieweit die tatsächliche Entwicklung auf dem Glücksspielmarkt dieser entspricht oder ihr zuwiderläuft.

vgl. BVerwG, Urteil vom 24. November 2010 - 8 C 15.09 -, a.a.O., Rdnr. 32 f.

Daran gemessen erweist sich das im Glücksspielstaatsvertrag angelegte (§ 10 Abs. 2 und 5 GlüStV) und im Ausführungsgesetz auch für Nordrhein-Westfalen vorgesehene Staatsmonopol für die Veranstaltung und Vermittlung von Sportwetten als unverhältnismäßig.

Die notwendige Óberprüfung der tatsächlichen Entwicklung auf dem Glücksspielmarkt zeigt, dass auf verschiedenen Sektoren des Glücksspielangebots in der Bundesrepublik das Gebot systematischer und kohärenter Bekämpfung der Spielsucht und des Spielerschutzes und damit zusammenhängend das Ziel der Kanalisierung der Wettleidenschaft - Gründe des Gemeinwohls, die auch dem Landesrecht NRW zugrundeliegen - nicht eingehalten wird und auch die normativen Regelungen hierzu nicht geeignet sind.

Die Kammer hat berücksichtigt, dass grundsätzlich nur strukturelle Vollzugsdefizite geeignet sind, die Rechtfertigung des Staatsmonopols infrage zu stellen. Ist das Umsetzungsdefizit aber schon in der Regelung angelegt oder werden gehäufte oder gar systematische Verstöße nicht konsequent geahndet und unterbunden, prägt dies die tatsächliche Handhabung der Monopolregelung und lässt auf Defizite der normativen Sicherung schließen.

vgl. BVerfG, Urteil vom 28. März 2006 - 1 BvR 1054/01 -, juris Rdnr. 142 ff; BVerwG, Urteil vom 24. Oktober 2010

- 8 C 15.08 -, a.a.O., Rdnr. 44.

Das ist hier der Fall.

Die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung geforderte und im Glücksspielstaatsvertrag sowie den Länder-Ausführungsgesetzen vorgesehene wissenschaftliche Forschung zur Glücksspielsucht und Evaluierung des Glückspielstaatsvertrages (vgl. §§ 11, 27 GlüStV, §§ 8 f , 22 Abs. 4 GlüStV AG NRW) hat innerhalb der jetzt dreijährigen Geltungsdauer des Staatsvertrages (und auch bereits früher) stattgefunden und zu insoweit aussagekräftigen Ergebnissen geführt.

Die Kammer stützt sich im wesentlichen auf folgende Studien bzw. empirische Untersuchungen:

Bühriger/Kraus/Höhne/Küfner/Künzel, Institut für Therapieforschung München, Abschlussbericht "Untersuchung zur Evaluierung der Fünften Novelle der Spielverordnung vom 17.12.2005", September 2010 (im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie);

Reeckmann, Gewerbliches Automatenspiel in Deutschland - Bestandsaufnahme eines Glücksspielangebots und politischer Handlungsbedarf bei der Rückkehr zum Unterhaltungsspiel, April 2009, (Auftraggeber: Deutsche Spielbanken Interessen- und Arbeitsgemeinschaft, Bundesverband privater Spielbanken in Deutschland e.V.);

Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Glücksspielverhalten in Deutschland 2007 und 2009 - Ergebnisse aus zwei repräsentativen Bevölkerungsbefragungen, Dezember 2009;

Schmid/Börnsen, Goldmedia GmbH, Glücksspielmarkt Deutschland 2015 - Situation und Prognose des Glücksspielmarktes in Deutschland, Mai 2010;

Trümper/Heimann, Arbeitskreis gegen Spielsucht e.V. V. , Angebotsstruktur der Spielhallen und Geldspielgeräte in Deutschland, Stand: 1.1.2010, 10. Aufl., Juli 2010;

Adams/Böning u.a., Prävention der Glücksspielsucht, Memorandum der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V., März 2007;

Stöver, Universität Bremen (Bremer Institut für Drogenforschung), Glücksspiele in Deutschland - Eine repräsentative Untersuchung zur Teilhabe und Problemlage des Spielens um Geld, Dezember 2006;

Meyer, Gerhard, Glücksspiel - Zahlen und Fakten, Zusammenfassung, in: Jahrbuch Sucht 2010 (hrsg. von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V.), S. 99 ff;

Hayer, Tobias, Geldspielautomaten und Suchtgefahren - Wissenschaftliche Erkenntnisse und suchtpolitischer Handlungsbedarf, in: Sucht Aktuell 1/2010, S. 47 ff.

Danach steht zur Óberzeugung der Kammer Folgendes fest:

1. Für den Sektor der gewerblichen Spielautomaten ist deutlich geworden, dass die normative Regelung dieses Bereichs durch die im Jahre 2006 in Kraft getretene Spielverordnung, beruhend auf den Bestimmungen der Gewerbeordnung (vgl. hier §§ 33 c ff und Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen in § 33 f GewO), nicht geeignet ist, dem hier liegenden Suchtpotential wirksam zu begegnen, sondern dass sie tatsächlich eine erhebliche Zunahme von Spielstätten mit Unterhaltungs- bzw. Geldspielgeräten mit der Folge der deutlichen Zunahme des Spielsuchtproblems begünstigt hat. Dies haben wissenschaftliche Studien im Ergebnis belegt.

Óbereinstimmend steht danach für den Sektor gewerblicher Spielautomaten fest, dass sich die Anzahl der Geldspielautomaten und die hieraus getätigten Umsätze seit 2006 signifikant erhöht haben, Spiel-, Aufstell-, und Zugangsmerkmale im Hinblick auf den Verlust der Spielkontrolle ein hohes Risikopotential bergen

vgl. z.B. Óbersicht aus der Untersuchung von 1.823 Kommunen der Bundesländer mit mehr als 10.000 Einwohnern, u.a. für alle Kommunen Nordrhein-Westfalens bei Trümper/Heimann, a.a.O., S. 13 f: Anstieg der Geräte in Spielhallen um insgesamt rd. 47 %! Siehe auch den Kurzbericht zur Untersuchung von Bühriger/Kraus/Höhne/ Küfner/Künzel; "Untersuchung zur Evaluierung der Fünften Novelle der Spielverordnung vom 17.12.2005", November 2010, 5.6 Auswirkungen auf die Wirtschaftlichkeit und Technik, S. 19 f.,

und dass sich dieses Suchtrisiko auch in pathologischem Spielverhalten zunehmend realisiert hat,

vgl. dazu vorläufige Ergebnisse des Forschungsprojekts PAGE in: Werkstattbericht zur bundesweiten Studie "Glücksspiel in Deutschland" (Laufzeit: 01.12.2009 bis 28.02.2011) der Universitäten Greifswald und Lübeck und hierauf bezogen: Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. - DHS -, "Glücksspielprobleme in Deutschland weit verbreitet - Geldspielautomaten machen am häufigsten süchtig", Berlin 16.02.2011. So auch bereits 2007: Prävention der Glücksspielsucht, Memorandum der DHS, März 2007, S. 12 f; s.a. Empfehlung 1/2011 des Fachbeirats nach § 10 Abs. 1 S. 2 GlüStV vom 14. Januar 2011: Vorschläge zur suchtpräventiven Regulierung von Spielbanken m.w.N.; Meyer, a.a.O., S. 108 ff.

Diese tatsächliche Entwicklung ist in der Spielverordnung 2006 strukturell angelegt, soweit dort

die Mindestspieldauer von 12 auf 5 Sekunden herabgesetzt wird;

der maximale Stundenverlust von 60 auf 80 EUR angehoben wird;

ein Gewinn von max. 500 EUR pro Stunde zugelassen wird,

die Spielfläche (nettom²) von 15 auf 12 m² herabgesetzt wird,

die Zahl der maximal zulässigen Geldspielgeräte auf 12 erhöht wird und

max. 3 statt 2 Geldspielgeräte in Gastronomiebetrieben aufgestellt werden dürfen.

vgl. Trümper/Heimann, a.a.O., S. 11 und 14 ff. Siehe auch die Darstellung bei Reeckmann, a.a.O., S. 8 ff. m.w.N.; Hayer, a.a.O., S. 48 f; Meyer, a.a.O., S. 105 ff

Daran ändert der Umstand nichts, dass die Spielverordnung 2006 daneben auch Regeln aufgestellt hat, die eine Verschärfung des bis dahin geltenden Rechts darstellen, wie z.B. das ausdrückliche Verbot von Jackpotsystemen (vgl. § 9 Abs. 2 SpielV).

vgl. dazu: OVG NRW, Beschluss vom 15. November 2010 - 4 B 735/10 -, nrwe.

Seit längerem weisen Stimmen aus der Spielsuchtforschung und -betreuung darauf hin, dass sich die gewerblichen - als Unterhaltungsspielgeräte konzipierten - Automatenspielgeräte von Glücksspielautomaten in staatlich konzessionierten und besonderen Kontrollmechanismen unterliegenden Spielbanken (siehe z.B. Spielbankengesetz NRW) kaum noch unterscheiden und dass die vorhandene Differenzierung in den gesetzlichen Regeln, insbesondere dem normativen Spielerschutzsystem, den vorliegenden psychophysiologischen Daten zur Glücksspielsucht widersprächen. Die Forderung, die gewerblichen Geldspielgeräte wegen ihres Suchtpotentials dem Spielerschutz des Glücksspielrechts zu unterwerfen, wird daraus seit längerem abgeleitet.

vgl. Reeckmann, a.a.O., S. 9 f mit Nachweisen aus den Jahren 2005 und 2008 in den Fußnoten 29-30; Hayer, a.a.O., S. 51 f.

Entsprechende, auch den parlamentarischen Gremien z.B. vor Novellierung der Spielverordnung vorliegende Stimmen der Suchtforschung haben die dargelegte teilweise Liberalisierung des Rechts der gewerblichen Spielautomaten nicht gehindert.

vgl. Schreiben der Leiterin der Interdisziplinären Suchtforschungsgruppe Berlin an der Charité Berlin an das Bundesministerium für Wirtschaft vom 14. September 2005, zit. aus Reeckmann, a.a.O., S. 10, FN 30; Stellungnahme des Fachverbandes Glücksspielsucht e.V. vom 26. Januar 2005 zur Novellierung der Spielverordnung, insbes. S. 6.

Dennoch gilt die Spielverordnung 2006 nach wie vor unverändert fort, obwohl sich gezeigt hat, dass ihr Regelwerk zur systematischen Begrenzung der Spielsucht ungeeignet ist.

2. Dass auch auf dem Sektor der Spielbanken jedenfalls in Bezug auf die dort aufgestellten Geldspielautomaten mit hohem Suchtpotential nicht mehr von kohärenter systematischer Begrenzung der Spieltätigkeit ausgegangen werden kann, sondern diesem Ziel entgegenlaufende tatsächliche Entwicklungen geduldet werden, ohne dass hier ein "krasses Missverhältnis" der Glücksspielpolitik im Bereich der Sportwetten einerseits und der Spielbanken bzw. des Automatenspiels andererseits erforderlich wäre,

vgl. zu diesem Kriterium: BVerwG, Urteil vom 24. November 2010 - 8 C 15.09 -, a.a.O., Rdnr. 81,

ist nach Óberzeugung der Kammer ebenfalls empirisch belegt.

vgl. Zahlenmaterial dazu bei: Görgen/Hartmann, Gesellschaft für Forschung und Beratung im Gesundheits- und Sozialbereich: Bericht - psychosoziale Versorgung Glücksspielsüchtiger in NRW (im Auftrag der Landesfachstelle Glücksspielsucht NRW), Juni 2009, Tabelle S. 13; Empfehlung des Fachbeirates GlüStV vom 14. Januar 2011, a.a.O., S. 3 f.

3. Nicht zuletzt zeigt die tatsächliche Entwicklung im Bereich der Sportwetten, dass auch hier das rechtliche Instrumentarium des Glücksspielstaatsvertrages und anderer Gesetze (z.B. § 284 StGB) nicht greift, um die nach den Gesetzesmaterialien gewollte Lenkung des Spieltriebs der Verbraucher in kontrollierte, legale Bahnen herbeizuführen. So hat der als nicht legal eingestufte Markt in der Bundesrepublik trotz staatlichen Wettmonopols mit entsprechenden Verboten nicht erlaubter Sportwettveranstaltungen und -vermittlungen sowie verschiedener Sanktionsmöglichkeiten, die nach Kenntnis der Kammer auch wahrgenommen wurden (u.a. Zwangsgeldfestsetzungen in beachtlicher Höhe, Strafverfolgung etc.), dennoch erhebliche Umsätze und Umsatzzuwächse zu verzeichnen, die die gesetzliche Regelung des Sportwettmonopols konterkarieren. Legt man die Zahlenangaben einer Studie zugrunde, die sich u.a. auf den bundesdeutschen Wettmarkt bezieht, so soll der legale Anteil über staatlich lizensierte Sportwettangebote nur etwa 14% des Bruttospielertrages für 2009 betragen haben; die Bruttospielerträge des (unregulierten) Online-Sportwettenangebots aus Deutschland sollen sich auf 295 Mio. Euro (2009) belaufen haben; die Steigerungsquote der Teilnahme an Online-Sportwetten seit 2005 wird bezogen auf Deutschland mit jährlich 28,1% angenommen.

vgl. Schmid/Börnsen, a.a.O., S. 52 ff; 63; Trümper/ Heimann, a.a.O., S. 23 f ; vgl. auch Angaben bei: Meyer, a.a.O., S. 100: Umsatz der Fa. Bwin mit wichtigstem Markt Deutschland in 2005: 1,1 Mrd. Euro (Steigerung von 187 % gegenüber dem Vorjahr).

Eine wirksame Lenkung des Spieltriebes und Bekämpfung der damit einhergehenden Suchtgefahr ist erkennbar insoweit nicht erreicht worden.

4. Unabhängig davon ist das Kohärenzgebot auch im Bereich des staatlichen Lottoangebots nicht eingehalten. Nach wie vor beschränkt sich die Werbung für das staatliche Lotteriespiel nicht auf das, was das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 28. März 2006 vorgegeben hat: Insbesondere darf danach eine konsequent am Ziel der Begrenzung der Wettleidenschaft und der Bekämpfung der Spielsucht ausgerichtete Werbung nicht zum Wetten auffordern, anreizen oder ermuntern und die Teilnahme an Glücksspielen als sozialadäquate bzw. positiv bewertete Unterhaltung darstellen.

vgl. BVerfG, a.a.O., Rdnr. 134 ff

Dem wird es nicht gerecht, wenn die Werbung so konzipiert ist, dass sie vom Empfänger der Botschaft als Motivierung zur Teilnahme aufgefasst wird. Das ist aber auch nach Verstreichen einer großzügigen Óbergangsfrist zur Anpassung an die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts bei staatlichen Lottoveranstaltungen nach wie vor der Fall. An Stelle vieler Einzelbeispiele, die die klagenden Parteien dieses Verfahrens und zahlreicher Parallelverfahren dem Gericht zur Verfügung gestellt haben, sei hier nur auf die aktuelle home page des Deutschen Lotto- und Totoblocks als Dachorganisation verwiesen, wo in Kleinwerbeblöcken auf die Höhe der jeweiligen Jackpots und in einem an die Ministerpräsidentinnen/Ministerpräsidenten der Länder gerichteten "offenen Brief" (veröffentlicht in der FAZ) darauf hingewiesen wird, dass die Sanierung der ostdeutschen Innenstädte und Denkmäler ohne Lotto nicht hätte erfolgen können. Die Gemeinnützigkeit der Lotto-Einnahmen wird besonders hervorgehoben, wodurch eine positive Aufwertung der Teilnahme jedenfalls stattfindet. Das ist auch bei der staatlichen West Lotto Gesellschaft Nordrhein-Westfalens der Fall: Unter der Rubrik "Gemeinwohl" wird dort aktuell auf eine Steigerung des Beitrages für das Gemeinwohl in 2009 um 47 Mio. Euro durch Einnahmen aus staatlichem Glücksspiel und deren gemeinnützige Verwendung in den Bereichen Sport, Kultur und Soziales hingewiesen.

Eine solche Werbung, die den Eindruck des Sponsoring vermittelt, hat das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 24. November 2010 ausdrücklich als unvereinbar mit dem Kohärenzgebot im Bereich staatlicher Lotterien/Glücksspiele bezeichnet.

BVerwG, Urteil vom 24. November 2010 - 8 C 15.09 -, a.a.O., Rdnr. 51 ff

Angesichts der Regelungen in § 5 GlüStV, § 4 Abs. 1 Nr. 2 GlüStV AG NRW zur Werbung, in denen die Maßgaben des Bundesverfassungsgerichts aufgegriffen werden, und der diesen Vorschriften durchgehend zuwiderlaufenden Werbekampagnen hält die Kammer auch ein bloßes Vollzugsdefizit für ausgeschlossen; vielmehr erweisen sich die Vorschriften als ungeeignet, um unzulässiger Werbung von vornherein entgegenzuwirken. Die - nachträgliche - Entfernung einer Werbekampagne ist für den Markt wirkungslos.

vgl. so zur Werbung seit langem schon: VG Minden, Urteil vom 7. Februar 2011 - 1 K 2835/07 -, nrwe, Rdnr. 72 f.

Die daraus insgesamt folgende Gemeinschaftsrechtswidrigkeit des (Glücksspiel- und) Sportwettmonopols führt zur Unanwendbarkeit der unmittelbaren Monopolregelung (Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts). Daraus folgt, dass auch die Erlaubnispflicht aus § 4 GlüStV, § 4 GlüStV AG NRW keine Geltung mehr beanspruchen kann. Diese knüpft unmittelbar an die Monopolregelung mit der Folge an, dass private Anbieter wie der Kläger - ungeachtet sonstiger in ihrer Person liegender Eigenschaften oder Voraussetzungen - von vornherein keine Erlaubnis erlangen können. Der Erlaubnisvorbehalt zielt damit gerade auf den Ausschluss privater Anbieter, wenn - wie bundesweit der Fall - auf Seiten der Länder von der Möglichkeit des Staatsmonopols (§ 10 Abs. 2 GlüStV) Gebrauch gemacht wurde.

Auch darin liegt eine rechtfertigungsbedürftige Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit, die aus den dargelegten Gründen ebenfalls nicht hingenommen werden muss.

BVerwG, Urteil vom 24. November 2010 - 8 C 15.09 -, a.a.O., Rdnr. 60; so auch: VG Bremen, Urteil vom 10. März 2011 - 5 K 1919/09 -, S. 28 f; VG Minden, Urteil vom 7. Februar 2011 - 1 K 2835/07 -, nrwe; VG Köln, Urteil vom 18. November 2010 - 1 K 3293/07 -, Rdnr. 138 f, nrwe; VG Arnsberg, Urteil vom 9. Februar 2011 - 1 K 276/09 -, S. 17.

Dass die Genehmigungspflicht - ungeachtet der Monopolregelung - kein Gesichtspunkt ist, der die Untersagungsverfügung im Ergebnis rechtfertigen kann, folgt nach Auffassung der Kammer auch aus einer Gegenüberstellung der drei Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. November 2010, soweit in den Verfahren 8 C 14.09 und 8 C 15.09 (a.a.O.) eine Zurückverweisung ausgesprochen worden ist, während in dem Parallelverfahren 8 C 13.09 eine abschließende Entscheidung getroffen wurde (Zurückweisung der Revision). Wäre der Erlaubnisvorhalt allein tragfähig, wäre auch in den beiden erstgenannten Verfahren Raum für die Anwendung des § 144 Abs. 4 VwGO gewesen. Dass in jenen Verfahren kein Anlass bestanden hätte, die eigenständige Bedeutung des Erlaubnisvorbehalts zu prüfen, weil das Bundesverwaltungsgerichts eingangs die den Senat bindende berufungsgerichtliche Auslegung zu § 4 Abs. 2 S. 2 i.V.m. § 10 Abs. 2 und 5 GlüStV betont habe,

so: OVG NRW, Beschluss vom 22. März 2011

- 4 B 204/11 -, nrwe,

vermag die Kammer nicht zu überzeugen, weil das Bundesverwaltungsgericht gleichermaßen in dem Verfahren 8 C 13.09 vorgegangen ist (Rdnr. 23 f).

Im Óbrigen ist die hier erlassene Untersagungsverfügung nicht auf sonstige, in der Person des Klägers liegende Umstände gestützt, die etwa seine Unzuverlässigkeit dartun könnten. Solche sind auch nicht ersichtlich. Daher kann die Untersagungsverfügung auch nicht aus anderen Gründen aufrechterhalten bleiben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; die Regelung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Die Kammer lässt die Berufung zu, weil die Entscheidung grundsätzliche Bedeutung hat (§§ 124a Abs. 1, 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).