VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 17.04.2000 - 4 S 1588/98
Fundstelle
openJur 2013, 11310
  • Rkr:

1. Die Entlassung, die auf Antrag eines geschäftsunfähigen und deshalb zur Abgabe eines wirksamen Verlangens nach Entlassung nicht fähigen Beamten ausgesprochen wird, ist mit einem besonders schwerwiegenden Fehler im Sinne von § 44 Abs 1 LVwVfG (VwVfG BW) behaftet.

2. Die Nichterweislichkeit der Geschäftsunfähigkeit bei Abgabe des Entlassungsverlangens geht zu Lasten des Beamten.

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Feststellung der Nichtigkeit seiner Entlassung aus dem Beamtenverhältnis.

Mit am gleichen Tage ausgehändigter Urkunde vom 17.05.1988 wurde der Kläger, ein Regierungsamtmann im Dienst des Beklagten, auf seinen schriftlichen Antrag vom 16.05.1988 aus dem Dienst des Beklagten entlassen. Mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 15.10.1993 beantragte der Kläger, vertreten durch seinen am 18.02.1993 bestellten Betreuer, die Feststellung der Nichtigkeit der Entlassungsverfügung vom 17.05.1988, da er bei Stellung des Entlassungsantrages (partiell) geschäftsunfähig gewesen sei. Diesen Antrag lehnte das Landesamt für Besoldung und Versorgung Baden-Württemberg (Landesamt) mit Bescheid vom 12.04.1994 ab. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies das Landesamt mit Widerspruchsbescheid vom 23.11.1994 zurück.

Auf die am 23.12.1994 erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht nach Durchführung einer Beweisaufnahme mit Urteil vom 06.03.1998 antragsgemäß die ergangenen Bescheide aufgehoben und festgestellt, dass die Entlassung des Klägers aus dem Beamtenverhältnis durch Urkunde vom 17.05.1988 nichtig sei. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, dass die Entlassung nach § 42 Abs. 1 S. 1 LBG einen wirksamen Antrag voraussetze. An einem solchen wirksamen Antrag fehle es, da der Kläger bei Stellung des Antrages geschäftsunfähig gewesen sei, wie sich aus dem eingeholten Sachverständigengutachten vom 14.04.1997 nebst Ergänzung vom 16.12.1997 ergebe. Hiergegen wendet sich die zugelassene und fristgerecht begründete Berufung des Beklagten.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 06.03.1998 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Er trägt vor, dass die Voraussetzungen für eine Feststellung der Nichtigkeit der Entlassungsverfügung selbst dann nicht vorlägen, wenn eine Geschäftsunfähigkeit des Klägers zum Zeitpunkt seines Entlassungsantrages in Betracht kommen würde. Im übrigen könne nach den vorliegenden Gutachten von einer Geschäftsunfähigkeit des Klägers nicht zweifelsfrei ausgegangen werden.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das angefochtene Urteil.

Dem Senat liegen die Akten des Verwaltungsgerichts und des Beklagten vor. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird hierauf sowie auf die gewechselten Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen und den sonstigen Inhalt der Akten des Senats Bezug genommen.

Gründe

1. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren beruht auf § 166 VwGO i.V.m. §§ 119 Abs. 1 S. 2, 114, 115 Abs. 1 ZPO. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

2. Die Entscheidung ergeht nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss nach § 130a VwGO. Der Senat hält die zugelassene Berufung des Beklagten einstimmig für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich. Das Verwaltungsgericht hat zu Unrecht unter Aufhebung der ablehnenden Bescheide die Nichtigkeit der Entlassung des Klägers festgestellt.

Gemäß dem hier mangels spezieller beamtenrechtlicher Regelungen allein in Betracht kommenden § 44 Abs. 1 LVwVfG - ein Fall des § 44 Abs. 2 LVwVfG liegt nicht vor - ist ein VA nichtig, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommender Umstände offenkundig ist. Allein der völlig fehlende oder unwirksame Antrag auf Erlass eines mitwirkungsbedürftigen Verwaltungsaktes - wie hier nach § 42 Abs. 1 S. 1 und 2 LBG - erfüllt diese Voraussetzungen, wie sich aus § 45 Abs. 1 Nr. 1 LVwVfG ergibt, nicht. Vielmehr müssen auch in solchen Fällen sämtliche Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 LVwVfG bei Würdigung der konkreten Umstände des Einzelfalles gegeben sein, um eine Nichtigkeit des Verwaltungsakts annehmen zu können (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16.07.1984, Recht im Amt 1985, 93; Kopp, VwVfG, 6. Aufl., § 44 RdNr. 15, m.w.N.). Daran fehlt es im vorliegenden Fall.

Zwar wäre die Entlassung, die auf Antrag eines geschäftsunfähigen und deshalb zur Abgabe eines wirksamen Verlangens nach Entlassung nicht fähigen Beamten ausgesprochen wird, mit einem besonders schwerwiegenden Fehler im Sinne von § 44 Abs. 1 LVwVfG behaftet, da ein Beamtenverhältnis auf Lebenszeit nur in den gesetzlich normierten Ausnahmefällen vorzeitig durch Entlassung beendet werden darf und deshalb dem wirksamen schriftlichen Verlangen des Beamten im Sinne von § 42 Abs. 1 S. 1 und 2 LBG, als einziger Voraussetzung einer Entlassung auf Antrag, eine herausragende Bedeutung zukommt (vgl. auch OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16.07.1984, a.a.O.). Dem Kläger ist jedoch der erforderliche Nachweis seiner Geschäftsunfähigkeit bei Abgabe seiner Erklärung vom 16.05.1988 entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts auch nach dem Ergebnis der erstinstanzlich durchgeführten Beweisaufnahme nicht gelungen. Ausgehend von dem Grundsatz, dass Geschäfts- und Handlungsfähigkeit eines Volljährigen die Regel, Geschäfts- und Handlungsunfähigkeit (§ 104 Nr. 2 BGB, § 12 LVwVfG) die Ausnahme bilden und die materielle Beweislast für diese Ausnahme denjenigen trifft, der Rechte daraus herleitet (vgl. BVerwG, Beschluss vom 11.02.1994, ZBR, 1994, 251), geht die Nichterweislichkeit seiner Geschäftsunfähigkeit am 16./17.05.1988 zu Lasten des Klägers.

Der Kläger war am 11.04.1988 vom Staatlichen Gesundheitsamt Ludwigsburg amtsärztlich untersucht worden, weil ein seit etwa eineinhalb Jahren bestehender starker Leistungsabfall und eingetretene Verhaltensänderungen den Verdacht einer psychischen Erkrankung nahe legten. Die Amtsärztin kam in ihrem Gutachten vom 19.04.1988 zu dem Ergebnis, dass es sich beim Kläger zwar um eine neurotische Reaktion mit paranoiden Zügen in beruflicher Konfliktsituation handele und der Kläger deshalb derzeit zu einer sachlichen und distanzierten Beurteilung seiner Situation und Leistungsfähigkeit nur in eingeschränktem Maße in der Lage sei. Anzeichen für eine psychotische Erkrankung lägen jedoch nicht vor. Auch hätten sich bei der Exploration keine Hinweis auf eine erhebliche Minderung der intellektuellen Leistungsfähigkeit ergeben. Diese eine Geschäftsunfähigkeit im Sinne des § 104 BGB im Ergebnis verneinende Einschätzung deckt sich mit dem Verhalten des Klägers anlässlich der mit ihm vor Aushändigung der Entlassungsurkunde geführten Personalgespräche am 16. und 17.05.1988, wonach sich der Kläger gegenüber dem ihm vorgehaltenen Leistungsabfall uneinsichtig zeigte und Anlass für den Entlassungsantrag offenbar die Verärgerung über die angeordnete und vom Kläger für ungerechtfertigt angesehene amtsärztliche Untersuchung war. Dem Inhalt seines Schreibens vom 14.04.1990 an das Landesamt, mit dem er seine Wiederverwendung begehrte, und auch den im Widerspruchsbescheid vom 23.11.1994 erwähnten anderen Aktivitäten des Klägers ist ferner zu entnehmen, dass der Kläger jedenfalls zu diesem Zeitpunkt durchaus in der Lage war, seine Rechtsangelegenheiten insoweit sachgerecht wahrzunehmen. Die sich daraus ergebenden Zweifel an der Geschäftsunfähigkeit des Klägers, der erst ab Mai 1991 mehrfach in stationärer psychiatrischer Behandlung war, bereits am 16./17.05.1988 werden durch die späteren ärztlichen Gutachten nicht ausgeräumt. Sowohl die Amtsärztin - insoweit anders als noch in ihrem Gutachten vom 19.04.1988 - in ihrem späteren gerichtsärztlichen Gutachten vom 13.04.1992 und Dr. W. in seinem Gutachten vom 09.09.1993 als auch die gerichtlich bestellten Sachverständigen Prof. Dr. F. und Dr. B. in ihrem Gutachten vom 14.04.1997 gehen zwar im wesentlichen übereinstimmend davon aus, dass bereits 1988 erste Anzeichen einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis bestanden hätten, die, soweit nachträglich beurteilbar, wegen akuter Wahnsymptomatik die Annahme einer (partiellen) Geschäftsunfähigkeit am 16./17.05.1988 mit hoher Wahrscheinlichkeit rechtfertigten. Andererseits führen die Gutachter Prof. Dr. F. und Dr. B. in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 16.12.1997 aus, dass der Krankheitsverlauf bei Patienten mit Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis individuell sehr variabel sei. Die freie Willensbildung ausschließende Zustände seien in den meisten Fällen von vorübergehender Natur, wobei die Zeitspanne von Tagen bis zu Jahren andauern könne. Danach kann zwar nicht ausgeschlossen werden, dass der Kläger am 16./17.05.1988 tatsächlich geschäftsunfähig und zur Vornahme von Verfahrenshandlungen nicht fähig war. Andererseits kann aber unter Berücksichtigung der eingangs erwähnten Umstände ebensowenig ausgeschlossen werden, dass der Kläger am 16./17.05.1988 zu einer freien Willensbetätigung noch in der Lage war. Für weitere Beweiserhebungen sieht der Senat angesichts der noch weiter verstrichenen Zeit keinen Anlass, da bereits die vorliegenden Gutachten auf der sinngemäß eingeräumten unsicheren Basis einer mehrjährig nachträglichen Beurteilung beruhen.

Eine Beweislastumkehr wegen einer vom Kläger behaupteten Fürsorgepflichtverletzung des Dienstherrn bei Entgegennahme des Entlassungsantrages ist nicht eingetreten. Der Dienstherr hat eingehend versucht, den Kläger von seinem Entlassungsverlangen abzubringen. Für eine psychiatrische Zusatzuntersuchung des Klägers vor der Entlassung bestand aus damaliger Sicht nach dem Ergebnis des amtsärztlichen Gutachtens vom 19.04.1988 keine Veranlassung.

Im übrigen fehlte es, selbst wenn man entgegen dem Vorstehenden davon ausginge, dass dem Kläger der Nachweis seiner Geschäftsunfähigkeit bei Abgabe des Entlassungsverlangens gelungen wäre, jedenfalls an der Offenkundigkeit des Fehlers. Offenkundig im Sinne des § 44 Abs. 1 LVwVfG bedeutet, dass die schwere Fehlerhaftigkeit des Verwaltungsaktes für einen unvoreingenommenen, mit den in Betracht kommenden Umständen vertrauten, verständigen Betrachter ohne weiteres ersichtlich sein muss, d.h. sich geradezu aufdrängen muss. Die Fehlerhaftigkeit muss dem Verwaltungsakt gewissermaßen auf die Stirn geschrieben sein (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16.07.1984, a.a.O.; Kopp, a.a.O., § 44 RdNr. 9). Davon kann hier nicht ausgegangen werden. Das erforderliche schriftliche Verlangen des Klägers auf Entlassung lag bei deren Ausspruch vor und für den Betrachter in obigem Sinne war nach Vorstehendem bei Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände nicht ohne weiteres ersichtlich, dass diese Erklärung im Zustand der Geschäftsunfähigkeit abgegeben wurde, insbesondere nachdem sich aus dem amtsärztlichen Gutachten vom 19.04.1988 eine solche Annahme nicht ergab.

Ist danach die Entlassung des Klägers aus dem Beamtenverhältnis nicht nichtig, kann die diesbezüglich begehrte Feststellung nicht getroffen werden. Auch eine Aufhebung der Entlassungsverfügung nach § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO kommt schon mangels Nachweis der Geschäftsunfähigkeit bei Erklärung des Entlassungsverlangens nicht in Betracht, falls ein solches Begehren dem Klagevorbringen bei objektiver Würdigung überhaupt zu entnehmen wäre.

Die ausweislich des Protokolls über die mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht vom 06.03.1998 beantragte Feststellung, dass der Kläger noch Beamter des Beklagten sei, über die das Verwaltungsgericht ausgehend von seiner Rechtsauffassung zur Nichtigkeit der Entlassung nicht mehr zu befinden brauchte, kann ebenfalls nicht getroffen werden. Denn dem Kläger wurde seine Entlassung auch wirksam bekannt gegeben.

Von der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts und der schon daraus herrührenden Unwirksamkeit nach § 43 Abs. 3 LVwVfG zu unterscheiden ist die Frage, ob der Verwaltungsakt gegenüber dem Betroffenen durch ordnungsgemäße Bekanntgabe wirksam geworden ist. Die Bekanntgabe des Verwaltungsakts an einen Geschäftsunfähigen, der nach § 12 Abs. 1 LVwVfG zur Vornahme von Verfahrenshandlungen, worunter auch passive Verfahrenshandlungen wie die Entgegennahme empfangsbedürftiger Willenserklärungen und bekanntgabebedürftiger Verwaltungsakte zu verstehen sind, nicht fähig ist, ist unwirksam (vgl. Urteil des Senats vom 20.02.1990, VBlBW 1991, 65, m.w.N.; Beschluss des Senats vom 10.09.1993 - 4 S 2997/92 - und dazu Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 11.02.1994, a.a.O.). Nach Vorstehendem ist dem Kläger der Nachweis seiner Geschäftsunfähigkeit am 17.05.1988, dem Tag der Aushändigung der Entlassungsurkunde, jedoch nicht gelungen. Im übrigen kann die unwirksame Bekanntgabe des Verwaltungsakts an einen Geschäftsunfähigen dadurch geheilt werden, dass der Geschäftsunfähige später wieder geschäftsfähig wird und in diesem Zustand von dem Inhalt des ihm bekannt gegebenen Verwaltungsakts Kenntnis nimmt (vgl. Urteil des Senats vom 20.02.1990, a.a.O.; Beschluss des Senats vom 10.09.1993 - 4 S 2997/92 -; BVerwG, Beschluss vom 11.02.1994, a.a.O.). Entsprechendes gilt, wenn ein Betreuer bestellt wird und dieser im Rahmen seines Aufgabenkreises von dem Verwaltungsakt Kenntnis erlangt (§§ 1896, 1902 BGB). Von einer solchen nachträglichen Kenntniserlangung wäre hier jedenfalls auszugehen. Die Kenntniserlangung durch den Betreuer des Klägers ist spätestens am 15.04.1993 durch Einsicht in die Personalakte des Klägers erfolgt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Revision wird nicht zugelassen, weil keiner der Gründe der §§ 127 BRRG, 132 Abs. 2 VwGO gegeben ist.

Die Festsetzung des Streitwerts für das Berufungsverfahren beruht auf §§ 13 Abs. 4 a, 14 Abs. 2 S. 1 GKG.