VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 09.03.1992 - 2 S 3215/91
Fundstelle
openJur 2013, 8107
  • Rkr:

1. Die in § 80 Abs 6 S 1 und Satz 2 Nr 1 VwGO (F: 1991) geforderten Voraussetzungen sind Zugangs- und nicht lediglich Zulässigkeitsvoraussetzungen für den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs 5 Satz 1 VwGO (F: 1991).

2. Eine "Vollstreckung" droht im Sinne von § 80 Abs 6 Satz 2 Nr 2 VwGO (F: 1991) nicht, wenn der Antragsteller mit einer Aufrechnung durch die Behörde rechnet.

Gründe

Die Beschwerde des Antragstellers ist zulässig, aber nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des vom Antragsteller erhobenen Widerspruchs gegen den Grundsteuerbescheid der Antragsgegnerin vom 2.1.1991 zu Recht als unzulässig abgelehnt.

Nach § 80 Abs. 6 S. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung in ihrer Fassung vom 19.3.1991 (BGBl. I S. 686), in Kraft seit 1.1.1991, ist in den Fällen des § 80 Abs. 2 Nr. 1, mithin bei der Anforderung öffentlicher Abgaben, wie sie auch hier in Rede stehen, der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Diese Voraussetzung ist im Falle des Antragstellers nicht erfüllt. Zwar hat er entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung bei der Antragsgegnerin gestellt. So hat er mit Schreiben vom 19.7.1991 u.a. mitgeteilt, daß er aufrechne und um Aussetzung bzw. um Stundung bitte, bis die gerichtlichen Verfahren rechtskräftig abgeschlossen seien. Mit diesem Schreiben, das allerdings erst im Beschwerdeverfahren vorgelegt worden ist und, soweit ersichtlich, bisher keinen Eingang in die Akten der Antragsgegnerin gefunden hat, ist das Begehren nach § 80 Abs. 6 S. 1 VwGO hinreichend konkretisiert. Indes fehlt es an einer Ablehnung dieses Antrags durch die Antragsgegnerin mit der Folge, daß das gerichtliche Begehren nach § 80 Abs. 5 VwGO unzulässig ist.

Dies gilt auch mit Blick auf die in § 80 Abs. 6 S. 2 VwGO geregelten Ausnahmen. Nach dieser Bestimmung gilt S. 1 nicht, wenn erstens die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder zweitens eine Vollstreckung droht. Von beidem kann hier nicht ausgegangen werden. Zwar trifft es wohl zu, daß die Antragsgegnerin den Antrag vom 19.7.1991 bis heute nicht beschieden hat. Indes dürfte es auf diesen Umstand für die Zulässigkeit des gerichtlichen Begehrens nicht allein ankommen. Was als angemessen im Sinne von § 80 Abs. 6 S. 2 Nr. 1 VwGO anzusehen ist, dürfte sich zum einen weitgehend nach den Gegebenheiten des Einzelfalls richten, mit Blick auf den gleichen Wortlaut in § 75 S. 1 VwGO jedoch auch entsprechend dem dortigen Verständnis zu bestimmen sein. Für § 75 VwGO ist die dort angesprochene Dreimonatsfrist Anhaltspunkt für ein Angemessensein (dazu Kopp, VwGO, 8. Aufl., § 75 Rdnr. 8 ff. m.N.), sie hat dementsprechend auch im Rahmen des § 80 Abs. 6 S. 2 VwGO grundsätzlich Bedeutung (dazu Redeker/von Oertzen, VwGO, 10. Aufl., Rdnr. 42; ferner Redeker, NVwZ 1991, 526 ff.). Diese Frist ist im Falle des Antragstellers nicht eingehalten, da er den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO bereits am 9.10.1991 gestellt hat. Anders als bei § 75 VwGO, wo die in S. 2 der Bestimmung genannte Frist Zulässigkeitsvoraussetzung für die sog. Untätigkeitsklage ist, ist mit den Voraussetzungen in § 80 Abs. 6 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 VwGO eine Zugangsvoraussetzung normiert. Sie bedeutet, daß diese Voraussetzungen im Zeitpunkt der Antragstellung bei Gericht gegeben sein müssen, anderenfalls der Antrag unzulässig ist (so Redeker/von Oertzen, aaO, m.w.N.; Redeker, aaO, S. 528). Wie die Entstehungsgeschichte des § 80 Abs. 6 VwGO belegt (dazu Redeker, aaO; vgl. auch BT-Drucks. 11/7030, S. 24), ist die Bestimmung Art. 3 § 7 Abs. 1 S. 1 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit vom 31.3.1978 (BGBl. I S. 446) nachgebildet (im folgenden: EntlG). Für die vergleichbare Regelung in Art. 3 § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EntlG ist anerkannt, daß mit ihr eine Zugangsvoraussetzung festgelegt ist und sich deshalb die als angemessen zu erachtende Frist auch durch ein (weiteres) Untätigbleiben der Verwaltung nach Antragstellung bei Gericht nicht verlängert (zum ganzen Tipke-Kruse, FGO, § 69 Tz. 16 und 19, je m.w.N.). Dieser auf die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zurückgehenden Auffassung (dazu Urteil vom 11.10.1979, BFHE 129, 8), an der dieser trotz Kritik festgehalten hat (vgl. nur Lemm, DStZ 1985, 567 mit dem Hinweis auf BFH, Beschluß vom 29.5.1985 - II B 2/85 -), schließt sich der Senat an, zumal diese Auffassung als herrschende Meinung auch den o.a. Erwägungen des Gesetzgebers zugrundeliegt (vgl. hierzu Tipke-Kruse, aaO; List in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, Stand 1991, § 69 FGO Rdnr. 47, je m.w.N.). Der Senat verkennt dabei nicht, daß er sich bei diesem Verständnis des § 80 Abs. 6 S. 1 und S. 2 Nr. 1 VwGO im Einzelfall mit einem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung möglicherweise wiederholt befassen muß, da die Voraussetzungen der genannten Bestimmungen auch nachträglich eintreten können. Indes stellt dies den angestrebten Entlastungseffekt für sich allein nicht in Frage. Bereits der Umstand, daß sich vor einer Befassung durch das Verwaltungsgericht die zuständige Verwaltungsbehörde mit dem Antrag des Betroffenen auseinandersetzen muß und die Möglichkeit dabei besteht, daß eine ihm günstige Entscheidung getroffen wird, stellt eine Entlastung des Gerichts dar, zum einen zahlenmäßig, zum anderen mit Blick auf den bei Vorliegen der Zugangsvoraussetzungen dann aufbereiteten oder weiter geklärten Streitstoff.

Demgegenüber spricht alles dafür, die Voraussetzungen des § 80 Abs. 6 S. 2 Nr. 2 VwGO als Zulässigkeitsvoraussetzungen zu sehen. Dies bedarf hier keiner weiteren Vertiefung, da die in der Bestimmung genannte Vollstreckung dem Antragsteller beim gegenwärtigen Erkenntnisstand ersichtlich nicht droht. Ob dabei mit dem Verwaltungsgericht davon ausgegangen werden kann, die Aufrechnung, die hier ihre Rechtsgrundlage in § 226 AO hat (vgl. § 1 Abs. 2 Nr. 5 AO), sei bereits rechtssystematisch nicht der Vollstreckung zuzuordnen, hängt von dem Verständnis des Begriffs "Vollstreckung" im Sinne des § 80 Abs. 6 S. 2 Nr. 2 VwGO ab. Ist die Verwaltungsvollstreckung angesprochen, wofür der Wortlaut der Bestimmung spricht, ist die Aufrechnung als öffentlich-rechtliche Willenserklärung keine zwangsweise Durchsetzung verwaltungsrechtlicher Ansprüche durch die Behörde, die diese Ansprüche geltend zu machen berechtigt ist (zu diesem Vollstreckungsbegriff Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 5. Aufl., § 20 I 1). Für diese Begriffsbestimmung könnte ins Feld geführt werden, daß der Gesetzgeber den Begriff der Vollstreckung im Rahmen derselben rechtlichen Regelung in einen Gegensatz zur "Vollziehung" gestellt hat (vgl. § 80 Abs. 2 Nr. 4, Abs. 3 bis 5 VwGO). Ausgehend hiervon fehlt es an Anhaltspunkten dafür, daß dem Antragsteller die Vollstreckung aus dem angefochtenen Bescheid droht. Zum einen hat die Antragsgegnerin unwidersprochen vorgetragen, daß sie derzeit nicht beabsichtige, aus dem angefochtenen Steuerbescheid die Vollstreckung zu betreiben. Zum anderen ist auch vom Antragsteller über eine allgemein gehaltene Behauptung hinaus nichts dafür vorgetragen worden, daß ihm tatsächlich Vollstreckungsmaßnahmen drohen. Davon könnte nur dann gesprochen werden, wenn die Behörde konkrete Vorbereitungshandlungen für die Durchführung der Vollstreckung getroffen hat und aus der Sicht eines objektiven Betrachters diese zeitlich so unmittelbar bevorsteht, daß es dem Antragsteller nicht zumutbar ist, sich zunächst an die Behörde zu wenden (dazu Redeker/von Oertzen, aaO, Rdnr. 43 m.w.N.; vgl. Tipke-Kruse, aaO, Rdnr. 20 m.N.). Im vorliegenden Zusammenhang dürfte auch von Bedeutung sein, daß die Antragsgegnerin nach § 14 LVwVG gehalten ist, den Antragsteller zu mahnen, bevor sie eine Beitreibung durchführen läßt. Eine solche Mahnung ist indes ersichtlich bisher nicht ergangen.

Nichts anderes würde im übrigen folgen, wenn man mit dem Verwaltungsgericht den Vollstreckungsbegriff in § 80 Abs. 6 S. 2 Nr. 2 VwGO im Sinne einer Vollziehung verstünde. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (dazu Urteil vom 27.10.1982, BVerwGE 66, 218) ist die vom Antragsteller als drohend angeführte Aufrechnung durch die Antragsgegnerin rechtlich keine Vollziehungsmaßnahme. Daran ist festzuhalten (kritisch hierzu Veitenthal, BayVBl. 1990, 615, 619).

Das Verwaltungsgericht hat schließlich zu Recht darauf hingewiesen, daß der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung auch in der Sache keinen Erfolg hätte. Allerdings bedürfte es näherer Prüfung, ob der Widerspruch des Antragstellers lediglich die Grundsteuer A betrifft, wie sie im angefochtenen Bescheid vom 2.1.1991 festgesetzt worden ist, oder ob nicht die Auslegung des Widerspruchsschreibens vom 12.1.1991 nahelegt, daß insgesamt gegen den genannten Bescheid Widerspruch eingelegt worden ist. Aber auch in einem derartigen Fall deutet nichts darauf hin, daß der Rechtsbehelf in der Sache Erfolg haben müßte, wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat.