OLG Hamm, Urteil vom 23.01.1997 - 6 U 163/96
Fundstelle
openJur 2012, 76072
  • Rkr:
Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das am 25. Juni 1996 verkündete Urteil der 3. Zivilkammer des Landgerichts Essen wird zurückgewiesen.

Auf die Anschlußberufung der Klägerin wird unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels das vorbezeichnete Urteil abgeändert.

Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an die Klägerin weitere 8.000,00 DM nebst 4 % Zinsen von 35.000,00 DM seit dem 01.06.1995 zu zahlen.

Im übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten der 1. Instanz tragen die Beklagten mit Ausnahme der durch die Streitverkündigung entstandenen Kosten; diese trägt die Klägerin.

Die Kosten der 2. Instanz tragen zu 1/5 die Klägerin und zu 4/5 die Beklagten.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Beschwer der Parteien: unter 50.000,00 DM.

Gründe

I.

Die Klägerin befuhr am 05.04.1995 in Begleitung der Zeugin ... mit dem Fahrrad in ... die ... Es handelt sich um eine Wohnstraße, auf der die zulässige Geschwindigkeit auf 30 km/h begrenzt ist. Die Fahrbahn ist durch Pflanzbeete, die abwechselnd auf beiden Seiten dauerhaft fest eingebaut sind, verengt. Die Klägerin und die Zeugin ... hatten zunächst ein in ihrer Richtung links befindliches Pflanzbeet passiert, wobei die Zeugin ... links von der Klägerin etwa auf gleicher Höhe mit dieser fuhr. Beim Passieren eines etwa 10 m weiter rechts befindlichen Pflanzkübels versuchte die Zeugin ... sich mit ihrem Fahrrad vor dasjenige der Klägerin zu setzen, und schnitt dabei deren Fahrlinie, weil der Beklagte zu 1) mit einem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Pkw entgegenkam. Die Klägerin geriet daraufhin nach links hinüber und stieß mit der Front des Pkw zusammen. Bei dem Sturz erlitt sie einen Schädelbasisbruch.

Die Klägerin hat behauptet, ihre Fahrlinie sei von der Zeugin ... derart eng geschnitten worden, daß deren Hinterrad gegen ihr Vorderrad gestoßen sei; das Sei die Ursache dafür gewesen, daß sie nach links hinüber vor die Front des Pkw geraten sei. Infolge des Sturzes habe sie ihr Geruchsvermögen verloren, und ihr Geschmackssinn sei beeinträchtigt worden.

Mit der Klage hat die Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld in vorgestellter Höhe von 33.000,00 DM verlangt, ferner Ersatz materiellen Schadens in Höhe von 7.097,50 DM nebst Zinsen. Sie hat außerdem die Feststellung begehrt, daß die Beklagten ihr als Gesamtschuldner vorbehaltlich des Anspruchsübergangs auf Sozialversicherungsträger zum Ersatz allen künftigen materiellen und immateriellen Schadens verpflichtet seien.

Das Landgericht hat nach Parteianhörung, Zeugenvernehmung und Einholung eines Gutachtens unter Klageabweisung im übrigen der Klägerin 27.000,00 DM als Schmerzensgeld und 6.270,00 DM nebst Zinsen als Ersatz materiellen Schadens zugesprochen und hat die begehrte Feststellung getroffen.

Dagegen haben die Beklagten Berufung und die Klägerin Anschlußberufung eingelegt.

Die Beklagten erstreben weiterhin die Abweisung der Klage. Sie machen geltend, die Klägerin habe bereits deutlich vor dem Zusammenstoß das rechts befindliche Pflanzbeet passiert und habe deswegen Gelegenheit gehabt, ihr Fahrrad rechtzeitig wieder nach rechts hinüberzuziehen. Die Radfahrer hätten nicht nebeneinander fahren dürfen. Der Beklagte zu 1) habe keine Veranlassung gehabt, seine Geschwindigkeit eher zu reduzieren, weil er sich darauf habe verlassen dürfen, daß die Radfahrerinnen nach dem Passieren des Pflanzbeetes rechtzeitig wieder nach rechts hinüberlenken würden. Die Beklagten halten das zugesprochene Schmerzensgeld für übersetzt.

Die Klägerin verteidigt bezüglich des Anspruchsgrundes das angefochtene Urteil und erstrebt mit der Anschlußberufung eine Verzinsung des Schmerzensgeldes sowie eine Anhebung auf mindestens 45.000,00 DM. Sie hebt hervor, daß auch ihr Geschmackssinn erheblich beeinträchtigt worden sei.

Der Senat hat die Klägerin und den Beklagten zu 1) angehört und die Zeugin ... erneut vernommen. Er hat ferner ein mündliches Gutachten des Sachverständigen Dipl.-Ing. ... eingeholt. Wegen des Ergebnisses der Parteianhörung und der Beweisaufnahme wird auf den darüber gefertigten Berichterstattervermerk Bezug genommen.

Die Ermittlungsakten 91 Js 730/95 StA Essen - Zweigstelle Gelsenkirchen - waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

II.

Die Berufung der Beklagten ist unbegründet. Die Anschlußberufung der Klägerin hat teilweise Erfolg; im übrigen ist sie ebenfalls unbegründet.

Die Beklagten sind der Klägerin gemäß §§7, 17, 18 StVG, §§823, 847 BGB, §3 Nr. 1 PflVG zum Ersatz materiellen und immateriellen Schadens verpflichtet, weil der Erstbeklagte den Unfall verschuldet hat. Der Anspruch der Klägerin wird nicht gemäß §254 BGB, §9 StVG durch ein Mitverschulden gekürzt. Der Senat bemißt das Schmerzensgeld der Klägerin mit 35.000,00 DM.

1.

Der Beklagte zu 1) war verpflichtet, den Vorrang der Klägerin zu beachten, welche eher als er in die durch eine dauernde bauliche Verengung der Fahrbahn entstandene Engstelle eingefahren war (vgl. Jagusch/Hentschel §6 StVO Rdn. 8). Da die 6,1 m breite Fahrbahn durch ein 2,4 m breites Pflanzbeet verengt war, reichte der verbleibende Fahrbahnraum nicht für eine gefahrlose Begegnung der Fahrzeuge in der Engstelle. Denn die Klägerin benötigte als Radfahrerin während der Kurvenfahrt mehr als 1 m der verbleibenden Fahrbahnbreite. Außerdem war mindestens 1 m Sicherheitsabstand einzuhalten. Schließlich konnte der mit Spiegeln ca. 1,80 m breite Pkw des Erstbeklagten in Höhe des für ihn links befindlichen Pflanzbeetes nicht äußerst rechts fahren. Denn er mußte in Höhe dieses Pflanzbeetes bereits nach links hinüber schwenken, da sich etwa 10 m weiter für ihn rechts ein weiteres Pflanzbeet befand. Deswegen wäre schon die Begegnung mit nur einer Radfahrerin in der Engstelle nicht gefahrlos möglich gewesen. Da ihm aber nicht nur die Klägerin entgegenkam, sondern auch die Zeugin ..., welche versuchte, sich mit ihrem Fahrrad vor dasjenige der Klägerin zu setzen, war eine Begegnung im Bereich der Engstelle vollends ausgeschlossen. Um seiner Wartepflicht zu genügen und den beiden Radfahrerinnen ein gefahrloses Passieren zu ermöglichen, hätte der Erstbeklagte, wie es der Sachverständige Dipl.-Ing. ... einleuchtend erläutert hat, seinen Pkw bereits 10 m eher abbremsen müssen und nicht erst, als er sah, daß die Klägerin nach dem Anstoß durch das andere Fahrrad auf seiner Fahrbahnseite auf ihn zufuhr.

2.

Die Voraussetzungen eines anspruchskürzenden Mitverschuldens auf seiten der Klägerin gemäß §9 StVG, §254 BGB lassen sich nicht feststellen. Daß sie mit dem Fahrrad nach links geraten ist, gereicht ihr nicht zum Verschulden, denn die Zeugin ... war ihrer glaubhaften Bekundung zufolge mit dem Hinterrad ihres Fahrrades gegen das Vorderrad desjenigen der Klägerin gestoßen, wodurch deren Fahrt instabil geworden war, so daß sie nicht beliebig ihr Fahrrad nach rechts ziehen konnte.

Es kann auch nicht festgestellt werden, daß die Klägerin den Anstoß durch die Zeugin ... dadurch mitverschuldet hat, daß sie ihre Fahrt nicht eher verlangsamt hat, um es der Zeugin ... zu ermöglichen, den Überholvorgang eher abzuschließen, ohne die Fahrlinie der Klägerin in der gefährlichen Art zu schneiden, die dann letztlich zum Anstoß geführt hat. Hätte der Beklagte zu 1) entsprechend seiner Wartepflicht seine Fahrt eher verlangsamt und den entgegenkommenden Radfahrerinnen genügend Raum eingeräumt, um nach dem Passieren der Engstelle ihre Räder wieder nach rechts zu ziehen, so hätte die Zeugin ... die Fahrlinie der Klägerin nicht zu schneiden brauchen. Sie ist dazu nur durch den entgegenkommenden Pkw des Klägers veranlaßt worden, der zunächst in unzulässiger Weise seine Fahrt ungebremst fortsetzte. Mit einem derartigen Verhalten des Erstbeklagten brauchte die Klägerin umso weniger zu rechnen, als dieser seiner unwiderlegten Darstellung zufolge die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h einhielt, aus der eine ordnungsgemäße Reduzierung der Geschwindigkeit in ausreichendem Abstand vor der Engstelle ohne Schwierigkeiten möglich gewesen wäre. Daß der Beklagte zu 1) schneller gefahren wäre und dadurch das Vertrauen der Klägerin darauf, daß ihr Vorrang und derjenige der Zeugin ... in der Engstelle respektiert werden würde, eingeschränkt worden wäre, behaupten die Beklagten selbst nicht.

3.

Bei der Bemessung des der Klägerin zustehenden Schmerzensgeldes waren zunächst die nicht unerheblichen Primärverletzungen zu berücksichtigen. Ausweislich des ärztlichen Berichtes des ... vom 19.04.1995 und des Befundberichtes des Neurologen ... vom 05.05.1995 hat die Klägerin einen Schädelbruch und ein schweres HWS-Syndrom erlitten. Sie mußte zwei Wochen lang stationär behandelt werden und war, wie sich aus dem Bericht vom 18.08.1995 ergibt, über 4 Monate lang arbeitsunfähig. Besonders fallen die beim Unfall erlittenen Dauerschäden ins Gewicht. Aus dem in erster Instanz eingeholten Gutachten des Dr. ... vom 11. April 1996 ergibt sich, daß die Klägerin infolge eines Abrisses der Riechnerven das Geruchsvermögen irreparabel verloren hat. Da dieser Verlust im zeitlichen Zusammenhang damit aufgetreten ist, daß die Klägerin bei dem Unfall unter Hirnbeteiligung einen Schädelbruch erlitten hat, ist der Senat davon überzeugt (§287 ZPO), daß die Riechnerven bei dem Unfall abgerissen sind. Durch den Verlust des Geruchssinns wird die Lebensfreude nicht unerheblich beeinträchtigt, da auch der Wohlgeschmack von Speisen und Getränken, der bekanntlich weitgehend auf dem Aroma beruht, nicht mehr wahrgenommen werden kann. Unter Berücksichtigung, aller Umstände erschien dem Senat - auch bei einem Vergleich mit ähnlich gravierenden Dauerschäden - ein Schmerzensgeld von 35.000,00 DM auf Grund des vorliegenden Gesamtschadensbildes erforderlich, andererseits aber auch selbst im Hinblick auf die in den letzten Jahren deutlich gewordene Steigerung von Schmerzensgeldern für erhebliche Dauerschäden auch ausreichend.

Entsprechend dem mit der Anschlußberufung gestellten Antrag war gemäß §§284, 288 BGB die Pflicht zur Verzinsung des Schmerzensgeldes seit Verzugseintritt auszusprechen.

4.

Der materielle Schaden der Klägerin ist in dieser Instanz nicht mehr im Streit.

Im Hinblick auf die Schwere der Verletzung und auf den eingetretenen Dauerschaden ist auch das Feststellungsbegehren zulässig und begründet.

5.

Bei der auf §§92, 97 I ZPO beruhenden Kostenentscheidung ist berücksichtigt worden, daß die Klägerin in erster Instanz dem Privathaftpflichtversicherer der Zeugin ... den Streit verkündet, diese unzulässige Streitverkündung später aber wieder zurückgenommen hat. Die prozessualen Nebenentscheidungen im übrigen beruhen auf §§708 Nr. 10, 713, 546 ZPO.

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