OLG Nürnberg, Beschluss vom 11.02.2009 - 4 U 2506/08
Fundstelle
openJur 2012, 98540
  • Rkr:
Gründe

I.

Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 27.11.2008, Az. 4 O 4589/08 durch einstimmigen Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil das Rechtsmittel keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt und weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts durch Urteil erfordern.

Der Senat hat die gegen das angefochtene Urteil erhobenen Einwände geprüft und gewürdigt. Die mit der Berufung vorgetragenen Gesichtspunkte können ihr jedoch nicht zum Erfolg verhelfen.

II.

Der Beklagte hat keine neuen berücksichtigungsfähigen Tatsachen vorgetragen (§ 529 Abs. 1 Nr. 2 ZPO) oder konkrete Anhaltspunkte aufgezeigt, die Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Tatsachenfeststellungen des Landgerichts begründen (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Es ist daher von dem im angefochtenen Urteil zugrunde gelegten Sachverhalt auszugehen. Dieser rechtfertigt weder eine andere Entscheidung noch ist eine Rechtsverletzung vorgetragen, auf der die erstinstanzliche Entscheidung beruhen würde (§ 513 Abs. 1 ZPO).

Der Senat gelangt in Übereinstimmung mit dem Landgericht zu dem Ergebnis, dass die vom Kläger gemäß § 131 Abs. 1 Nr. 2 InsO erklärte Anfechtung der an den Beklagten geleisteten Scheckzahlungen über 70.000,00 Euro durchgreift und der Kläger daher gemäß § 143 Abs. 1 S. 1 InsO einen Rückzahlungsanspruch in dieser Höhe gegen den Beklagten hat.

Im Hinblick auf die Berufungsbegründung ist ergänzend zu den Entscheidungsgründen des Landgerichts noch Folgendes auszuführen:

1.) Zu Recht hat das Landgericht, auf dessen zutreffende und sorgfältig begründete Ausführungen Bezug genommen wird, nicht die ... (Organträgerin), sondern den Beklagten für den streitgegenständlichen Rückzahlungsanspruch als passivlegitimiert angesehen, da der Kläger als Insolvenzverwalter über das Vermögen der Schuldnerin (...; Organgesellschaft) ihm gegenüber wirksam die Anfechtung der geleisteten Zahlungen nach § 131 Abs. 1 Nr. 2 InsO erklären konnte.

a) Gemäß § 131 Abs. 1 InsO sind Rechtshandlungen des Schuldners anfechtbar. Zwar wurden die Scheckzahlungen von der Schuldnerin auf Vollstreckungsdruck des Finanzamts Erlangen hin geleistet, jedoch schließt das die Annahme einer Rechtshandlung im Sinne des § 129 InsO nicht aus. Nur dann, wenn der Schuldner lediglich noch die Wahl hat, die geforderte Zahlung sofort zu leisten oder die Vollstreckung durch die bereits anwesende Vollziehungsperson zu dulden, kann es an einer willensgeleiteten Rechtshandlung des Schuldners fehlen (vgl. BGH, Urt. v. 10.02.2005, NJW 2005, 1121/1123; BGH, Urt. v. 27.05.2003, NJW 2003, 3347/3348, jeweils m. w. N.).

Anhaltspunkte dafür, dass der für die Schuldnerin handelnden natürlichen Person jede Möglichkeit zu einem selbstbestimmten Handeln genommen gewesen wäre, sind weder vorgetragen, noch ersichtlich. Vielmehr spricht die Tatsache, dass hier von der Schuldnerin nicht Barmittel, sondern Schecks hingegeben worden sind und dass es sich um sieben Teilzahlungen gehandelt hat dafür, dass die Schuldnerin über die bezahlten Beträge nach eigenem Ermessen verfügen konnte.

b) Entgegen der Auffassung des Beklagten war er als Empfänger der Scheckzahlungen auch Insolvenzgläubiger der späteren Insolvenzschuldnerin im Sinne des § 131 InsO.

(1) Gemäß § 38 InsO sind Insolvenzgläubiger Personen, die zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens einen begründeten Vermögensanspruch gegen den Schuldner haben. Das Gesetz spricht hier nicht von einem fälligen oder durchsetzbaren Vermögensanspruch, sondern lediglich von einem begründeten Anspruch. Daher kann nicht auf die Fälligkeit oder Durchsetzbarkeit des Anspruches abgestellt werden, sondern lediglich auf die Erfüllung der materiell-rechtlichen Anspruchsvoraussetzungen. Steuerforderungen im Sinne des § 38 InsO sind deshalb schon dann "begründet", wenn sie zwar im steuerrechtlichen Sinne noch nicht entstanden sind, der zivilrechtliche Tatbestand, der zur Entstehung der Steueransprüche führt, aber vom Schuldner vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereist verwirklicht worden ist (vgl. Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung/Ehricke, 2. Aufl., § 38 Rdn. 25 m. w. N.).

So liegt der Fall hier. Die Schuldnerin war in das Unternehmen der Organträgerin eingegliedert und bildete mit ihr eine steuerrechtliche Organschaft gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG. Dies hatte gemäß § 73 AO zur Folge, dass die Schuldnerin als Organgesellschaft für solche Steuern der Organträgerin haftete, für welche die Organschaft zwischen ihnen steuerlich von Bedeutung ist. Hierdurch sollen die steuerlichen Risiken ausgeglichen werden, die mit der Verlagerung der steuerlichen Rechtszuständigkeit auf den Organträger verbunden sind (vgl. BGH, BB 1993, 22/23; BFH, ZIP 1991, 1081/1082; BFH, BB 2004, 2673/2674).

Die angefochtenen Scheckzahlungen erfolgten hier auf Umsatzsteuerrückstände der Organträgerin, für welche die Schuldnerin gemäß § 73 S. 1 AO haftete. Es entspricht dem Anliegen des Gesetzgebers, den Organkreis als einheitliches Ganzes zu betrachten (BGH, BB 1993, 22/23; BFH, BB 2004, 2673/2675). Personen, die nebeneinander dieselbe Leistung schulden oder für sie haften, sind Gesamtschuldner (§ 44 Abs. 1 Satz 1 AO). Diese Vorschrift gilt nicht nur zwischen mehreren Steuerschuldnern oder einer Mehrzahl von Haftenden, sondern auch dann, wenn die Finanzbehörde den einen als Steuerschuldner, den anderen dagegen als Haftungsschuldner in Anspruch nehmen kann (BGH, BB 1993, 22/23). Soweit die Haftung besteht, ist die Organgesellschaft ebenfalls Schuldnerin des Gläubigers. Deshalb ist bei einer umsatzsteuerrechtlichen Organschaft zwischen der Insolvenzschuldnerin als Organgesellschaft und einer Organträgerin im Falle einer Zahlung der Umsatzsteuerschulden durch die Organgesellschaft die Finanzbehörde Insolvenzgläubigerin im Sinne des § 131 InsO (so ausdrücklich OLG Köln, Urt. v. 14.12.2005, 2 U 89/05, BeckRS 2006 10950 m. w. N.).

(2) Die Stellung als Insolvenzgläubigerin ist auch nicht davon abhängig, ob der Haftungsanspruch bereits durch Erlass eines Haftungsbescheides oder einer Zahlungsaufforderung konkretisiert oder geltend gemacht worden ist.

Für die Entstehung dieses Haftungsanspruchs als abstraktem, materiell-rechtlichem Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis bedarf es nicht des Erlasses eines Haftungsbescheides gemäß § 191 AO. Der Haftungsbescheid konkretisiert lediglich den bereits entstandenen Haftungsanspruch und bildet die Grundlage für die Verwirklichung dieses Anspruches. Der Haftungsbescheid hat deshalb keine konstitutive, sondern nur deklaratorische Bedeutung (BFH, Urt. v. 15.10.1996, VII R 46/96, DStR 1997, 241 mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Bei einer Steuerforderung genügt es, wenn der zugrunde liegende zivilrechtliche Sachverhalt, der zur Entstehung der Steueransprüche führt, vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens verwirklicht worden ist (BFH, BStBl. II 1987, 226; BFH, BStBl. II 1987, 527; BFH, BStBl. II 1989, 343) oder die nach dem Gesetz maßgebenden Besteuerungsmerkmale erfüllt sind (BFH, BStBl. II 1984, 602). Dagegen ist es ohne Bedeutung, ob und wann die Steuer festgesetzt wird und sie zu entrichten, also fällig ist. Vielmehr entsteht der Haftungsanspruch bereits mit dem Steueranspruch gegen den Organträger, für den die Organgesellschaft, vorliegend die Schuldnerin, haftet (vgl. BFH, BStBl. II 1986, 872/874; BFH, ZIP 1991, 1081/1083).

Das Bestehen des Haftungsanspruches setzt also nichts anderes als das Bestehen einer steuerrechtlich bedeutsamen Organschaft sowie das Entstehen einer Steuer zu Lasten des Organträgers voraus (BFH, Urt. v. 10.5.2007, VII R 18/05).

(3) Da diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall vorlagen, hat die Schuldnerin durch die Scheckzahlungen nicht auf eine fremde Schuld, sondern auf einen gegen sie gerichteten, bereits entstandenen materiell-rechtlichen Anspruch des Beklagten geleistet. Ebenso, wie der Beklagte mit diesem Haftungsanspruch bereits vor Erlass eines Haftungsbescheides die Aufrechnung gegen etwaige Gegenforderungen hätte erklären können (BFH, a. a. O.), konnte die Schuldnerin den Anspruch unabhängig vom Erlass eines Haftungsbescheides erfüllen. Dagegen dienen der Haftungsbescheid nach § 191 AO und die anschließende Zahlungsaufforderung nach § 219 AO lediglich der Durchsetzung des materiell-rechtlichen Anspruches. Der Haftungsbescheid konkretisiert lediglich den bereits materiell entstandenen Haftungsanspruch und stellt die Grundlage für die zwangsweise Durchsetzung des Anspruchs dar. Freiwillige Zahlungen vor Erlass der Zahlungsaufforderung sind möglich und bei Erlass der Zahlungsaufforderung zu berücksichtigen (Pahlke/Koenig, Kommentar zur Abgabenordnung, § 191, Rdn. 16; § 219 Rdn. 45).

c) Die Zahlungen der Schuldnerin gewährten dem Beklagten eine Befriedigung, die er nicht zu beanspruchen hatte, § 131 Abs. 1 S. 1 InsO.

Es ist zwischen den Parteien unstreitig, dass zum Zeitpunkt der Scheckzahlungen weder ein Haftungsbescheid, noch gar eine Zahlungsaufforderung erlassen war, so dass der Haftungsanspruch noch nicht fällig war. Eine Deckung ist nicht zu der Zeit zu beanspruchen, wenn der Gläubiger sie früher erhält als geschuldet, also wenn der Anspruch darauf im Zeitpunkt der Erfüllung entweder noch nicht fällig oder befristet war. Dass der Schuldner die Leistung im Zweifel vor der Fälligkeit bewirken darf (§ 271 Abs. 2 BGB), begründet noch nicht deren Kongruenz (vgl. Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung/Kirchhof, 2. Aufl., § 131 Rdn. 40 m. w. N.).

Im Übrigen erfolgte die Leistung der Schuldnerin unstreitig unter dem Druck der Zwangsvollstreckungsmaßnahmen der Finanzbehörden. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist eine während der "kritischen Zeit" im Wege der Zwangsvollstreckung erlangte Sicherung oder Befriedigung als inkongruent anzusehen (vgl. z. B. BGH, Urt. v. 11.04.2002, IX ZR 211/01, ZIP 2002, 1159 m. w. N.). Denn § 131 bezweckt, während der letzten drei Monate vor dem Eröffnungsantrag den Grundsatz des Vorrangs des schnelleren Gläubigers, der in der Einzelzwangsvollstreckung nach § 804 Abs. 2 ZPO gilt, durch den Grundsatz der Gleichbehandlung aller Gläubiger zu ersetzen; dieser soll nicht gerade vom Staat mit seinen Zwangsmitteln eingeschränkt werden (vgl. Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung/Kirchhof, a. a. O., § 131 Rdn. 26).

d) Der Senat vermag sich der im Urteil vom 23.01.2007 (DStRE 2008, 51) zum Ausdruck gebrachte Rechtsauffassung des FG Köln nicht anzuschließen, wonach die Leistung einer Organgesellschaft auf Steuerschulden einer Organträgerin nicht anfechtbar gemäß § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO sei, da das Finanzamt nicht Insolvenzgläubiger der Organgesellschaft sei, sondern ausschließlich Gläubiger der Organträgerin. Diese Auffassung steht – wie ausgeführt – in Widerspruch zu insolvenzrechtlichen Grundsätzen und zu der hierzu ergangenen obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. nur OLG Köln, Urt. v. 14.12.2005, 2 U 89/05, BeckRS 2006 10950 mit zahlreichen weiteren Nachweisen aus Rechtsprechung und Literatur) und wurde vom FG Köln auch nicht näher begründet.

2.) Die vom Beklagten nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin erklärte Aufrechnung mit dem aus § 73 AO folgenden Haftungsanspruch gegen den Rückforderungsanspruch des Klägers gemäß §§ 131 Abs. 1 Nr. 2, 143 Abs. 1 S. 1 InsO ist gemäß § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO unzulässig. Der Rückforderungsanspruch des Insolvenzverwalters entsteht originär erst mit und deshalb nach Verfahrenseröffnung (vgl. BGHZ 83, 102/105; BGHZ 113, 98/105; BGH, Urt. v. 11.12.2008, IX ZR 195/07). Eine Aufrechnung gegen den anfechtungsrechtlichen Rückgewähranspruch scheitert daher an § 91 Abs. 1 Nr. 1 InsO (vgl. Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung/Brandes, 2. Aufl., § 96 Rdn. 10).

III.

Aus den unter II. genannten Gründen beabsichtigt der Senat, die Berufung durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen.

Der Senat regt daher die Rücknahme der Berufung an. Dies hätte gegenüber der unanfechtbaren Entscheidung nach § 522 Abs. 2 ZPO Kostenvorteile (vgl. KV Nr. 1222).

Der Senat weist darauf hin, dass beabsichtigt ist, denStreitwertbeschlusserster Instanz gemäß § 63 Abs. 3 S. 1 GKG dahingehend abzuändern, dass der Streitwert erster und zweiter Instanz jeweils 70.000,00 Euro beträgt. Der bezifferte Leistungsantrag des Klägers war im gesamten Rechtsstreit auf Zahlung von 70.000,00 Euro gerichtet. Die vom Beklagten erklärte Hilfsaufrechnung mit dem Haftungsanspruch nach § 73 AO erhöhte den Streitwert nicht. Nach § 45 Abs. 3 GKG erhöht eine Hilfsaufrechnung den Streitwert nur dann, wenn über die Gegenforderung eine der Rechtskraft fähige Entscheidung ergeht. Im vorliegenden Fall hat das Landgericht bereits die Aufrechnung als solche gemäß § 96 InsO für unzulässig gehalten und deshalb über die Begründetheit des Haftungsanspruchs nicht entschieden. Die bloße Erklärung der Unzulässigkeit einer Hilfsaufrechnung durch das Gericht vermag die Streitwerterhöhung nicht auszulösen (vgl. BGH Beschluss vom 31.7.2001, NJW 2001, 3616; Hartmann, Kostengesetze, 38. Aufl., § 45 GKG Rdn. 46).