BVerfG, Beschluss vom 01.12.2007 - 1 BvR 3041/07
Fundstelle
openJur 2012, 133469
  • Rkr:
Tenor

Die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage der Antragstellerin gegen die Verbotsverfügung des Landrats als Kreispolizeibehörde Kleve vom 21. November 2007 ? VL 1-57.02.01 - wird wiederhergestellt.

Gründe

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betrifft ein für sofort vollziehbar erklärtes Versammlungsverbot. Die Kammer hat die Begründung ihrer Entscheidung gemäß § 32 Abs. 5 in Verbindung mit § 93d Abs. 2 BVerfGG nach Bekanntgabe des Beschlusses schriftlich abgefasst.

I.

Die Antragstellerin meldete für Samstag, den 1. Dezember 2007 eine öffentliche Versammlung unter freiem Himmel zu dem Thema ?Todesstrafe für Kinderschänder/gegen Inländerdiskriminierung? an. Diese Versammlung verbot die Kreispolizeibehörde mit für sofort vollziehbar erklärter Verfügung vom 21. November 2007.

Die Antragstellerin erhob hiergegen Klage und beantragte Eilrechtsschutz gem. § 80 Abs. 5 VwGO, den das Verwaltungsgericht Düsseldorf mit Beschluss vom 28. November 2007 versagte. Die hiergegen gerichtete Beschwerde wies das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen mit Beschluss vom 30. November 2007 zurück.

Die gebotene Interessenabwägung gehe zu Lasten der Antragstellerin, weil alles dafür spreche, dass das Versammlungsverbot nach § 15 Abs. 1 VersG gerechtfertigt sei. Angesichts des Versammlungsthemas sei zu befürchten, dass bei Durchführung der Versammlung die öffentliche Sicherheit gefährdet werde, weil der Tatbestand des § 130 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB verwirklicht werde. Die betroffenen Sexualtäter seien ?Teile der Bevölkerung? im Sinne des § 130 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB; sie würden ungeachtet der Schwere ihrer Schuld als Menschen ohne jede Würde und minderwertige Wesen ohne Lebensrecht hingestellt. Die in der Bevölkerung vorhandene feindselige Haltung gegen die betroffene Gruppe solle ins Maßlose gesteigert und als ?Ventil? die Wiedereinführung der Todesstrafe angeboten werden. Damit sei zu erwarten, dass die Versammlung im Sinne des § 130 Abs. 1 StGB zum Hass aufstacheln werde. Jedenfalls in der hier vorgetragenen - die Aspekte ?Schuld? und ?Schwere der Tat? ausblendenden - Form sei die Wiedereinführung der Todesstrafe verfassungsrechtlich unhaltbar und ihr Verbot auch von Art. 79 Abs. 3 GG garantiert. Da die Stimmungslage weiter Teile der Bevölkerung infolge aktueller Fälle von Kindesmissbrauch bereits aufgebracht sei, sei insbesondere die Verwendung des emotional aufgeladenen Begriffs ?Kinderschänder? konkret geeignet, das Klima aufzuhetzen und das Vertrauen in die Rechtssicherheit zu erschüttern. Daraus ergebe sich eine Eignung zur Gefährdung des öffentlichen Friedens.

Es sei angesichts der Umstände des Falles auch keine andere, der Antragstellerin günstigere Deutungsmöglichkeit des Versammlungsmottos zu erkennen. Der Wortlaut des Mottos erfasse pauschal alle Personen, die Kinder sexuell missbrauchen und drücke ihnen gegenüber Verabscheuung aus. Eine differenzierende Betrachtungsweise, wie sie etwa dem Parteiprogramm der NPD zu entnehmen sei, werde hier gerade nicht vorgenommen. Sie komme insbesondere auch in den die geplante Versammlung begleitenden Flugblättern nicht zum Ausdruck. Auch dort werde auf das Thema in emotionaler Sprache und in einer Form eingegangen, die ersichtlich auf Herabwürdigung der Täter und solcher Personen ziele, die sich nicht für die Todesstrafe einsetzen.

Die Antragstellerin sieht sich in ihrer Versammlungsfreiheit verletzt. Thema der Versammlung sei nicht die Einführung der Todesstrafe ohne Rücksicht auf die Schwere der Tat und die Schuld des Täters. Das Anliegen der Antragstellerin ziele auch nicht darauf, den Tätern ihr Recht auf ein faires Strafverfahren zu nehmen. Es müsse zulässig sein, im Rahmen einer Versammlung solche Forderungen aufzustellen, deren Verwirklichung im Rahmen des Grundgesetzes nicht völlig ausgeschlossen sei. Die Wiedereinführung der Todesstrafe sei ein Anliegen, das mit dem Grundgesetz zu vereinbaren wäre. Insbesondere stehe Art. 102 GG einem solchen Anliegen nicht grundsätzlich entgegen, da diese Vorschrift geändert werden könne und insbesondere nicht der Garantie des Art. 79 Abs. 3 GG unterliege. Die Todesstrafe sei nicht in jedem Fall ein Verstoß gegen die Menschenwürde. Sie sei in verschiedenen Ländern zulässig; ihre Einführung werde auch andernorts gefordert.

II.

Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet.

1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.

Im Eilrechtsschutzverfahren sind die erkennbaren Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde zu berücksichtigen, wenn - wie hier - aus Anlass eines Versammlungsverbots über einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zur Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs zu entscheiden ist und ein Abwarten bis zum Abschluss des Verfassungsbeschwerdeverfahrens oder des Hauptsacheverfahrens den Versammlungszweck mit hoher Wahrscheinlichkeit vereitelte. Ergibt die Prüfung im Eilrechtsschutzverfahren, dass eine Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet wäre, läge in der Nichtgewährung von Rechtsschutz der schwere Nachteil für das gemeine Wohl im Sinne des § 32 Abs. 1 BVerfGG (vgl. BVerfGE 111, 147 <153>).

2. Die dem Bundesverfassungsgericht im Eilrechtsverfahren allein mögliche vorläufige Prüfung lässt eine Rechtsgrundlage für das ausgesprochene Versammlungsverbot nicht erkennen. Das Bundesverfassungsgericht legt der Prüfung des Eilantrags in aller Regel die Tatsachenfeststellungen und Tatsachenwürdigungen in den angegriffenen Entscheidungen zugrunde. Etwas anderes gilt, wenn die Tatsachenfeststellungen offensichtlich fehlsam sind oder die Tatsachenwürdigung unter Berücksichtigung der betroffenen Grundrechtsnormen offensichtlich nicht trägt (vgl. BVerfGE 110, 77 <87 f.>; 111, 147 <153>; BVerfGK 3, 97 <99>). Einstweiliger Rechtsschutz ist insbesondere zu gewähren, wenn die Behörde oder die Gerichte ihre Gefahrenprognose auf Umstände gestützt haben, deren Berücksichtigung dem Schutzgehalt des Art. 8 GG offensichtlich widerspricht (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 18. August 2000 - 1 BvQ 23/00 -, NJW 2000, S. 3053 <3054>; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 1. September 2000 - 1 BvQ 24/00 -, NVwZ 2000, S. 1406 <1407>; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 6. Juni 2007 ? 1 BvR 1423/07 ?, NJW 2007, S. 2167 <2168>).

Die Anordnung eines Versammlungsverbots lässt sich hier nicht auf eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit im Sinne des § 15 Abs. 1 VersG stützen. Das Verbot gründet im vorliegenden Fall auf der Annahme, angesichts des Themas der Versammlung sei davon auszugehen, dass bei deren Durchführung der Tatbestand der Volksverhetzung nach § 130 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB erfüllt werde, weil zu erwarten sei, dass die Antragstellerin die Forderung nach der Wiedereinführung der Todesstrafe zum Gegenstand ihrer Versammlung mache, welche die Täter des sexuellen Missbrauchs von Kindern pauschal ohne Differenzierung nach der Schwere der Tat und ohne Rücksicht auf die Schuld des Täters treffen und ihnen so die Menschenwürde absprechen solle.

Es ist schon zweifelhaft, ob der rechtliche Ausgangspunkt des Oberverwaltungsgerichts, die pauschale und undifferenzierte Forderung nach Einführung der Todesstrafe für Kinderschänder könne den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllen, verfassungsrechtlich tragfähig ist. Jedenfalls aber hält die Einschätzung des Oberverwaltungsgerichts einer verfassungsrechtlichen Prüfung schon deshalb nicht stand, weil das Gericht seiner die Entscheidung tragenden rechtlichen Bewertung eine offensichtlich nicht tragfähige Deutung des Versammlungsthemas zugrunde gelegt hat.

Soweit sich das Verbot einer Versammlung auf den Inhalt von Aussagen bezieht - dies ist bei der Anknüpfung an das Motto der Versammlung und die zu erwartenden Äußerungen der Versammlungsteilnehmer der Fall -, ist es auch am Maßstab des Art. 5 Abs. 1, 2 GG zu beurteilen (vgl. BVerfGK 7, 221 <227>). Der Inhalt einer Meinungsäußerung, der im Rahmen des Art. 5 GG nicht unterbunden werden darf, kann daher auch nicht zur Begründung von Maßnahmen herangezogen werden, die das Grundrecht des Art. 8 GG beschränken (vgl. BVerfGE 90, 241 <246>; 111, 147 <155>).

Eine inhaltliche Begrenzung von Meinungsäußerungen kommt, soweit sie nicht dem Schutze der Jugend oder dem Recht der persönlichen Ehre dient, nur im Rahmen der allgemeinen Gesetze im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG in Betracht. Werden die entsprechenden Strafgesetze durch Meinungsäußerungen missachtet, so liegt darin zugleich eine Verletzung der öffentlichen Sicherheit. Eine so begründete Gefahr kann durch die Ordnungsbehörden abgewehrt werden, und zwar auch mit Auswirkungen auf Versammlungen (vgl. BVerfGE 111, 147 <156>).

Bei der Auslegung und Anwendung der insoweit in Betracht gezogenen Strafgesetze ? hier des § 130 StGB ? haben die Gerichte der wertsetzenden Bedeutung der Meinungsfreiheit für eine demokratische Gesellschaft Rechnung zu tragen. Es gilt hierbei die Vermutung zugunsten freier Rede in öffentlichen Angelegenheiten (vgl. BVerfGE 7, 198 <208>; stRspr). Die Bürger sind grundsätzlich auch frei, grundlegende Wertungen der Verfassung in Frage zu stellen oder die Änderung tragender Prinzipien zu fordern (vgl. BVerfGK 2, 1 <5>; 7, 221 <227>). Weichenstellend für die Prüfung einer Grundrechtsverletzung ist die Erfassung des Inhalts der betreffenden Äußerung, der unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls aus der Sicht eines unvoreingenommenen und verständigen Durchschnittspublikums zu ermitteln ist (vgl. allgemein BVerfGE 93, 266 <295>; 114, 339 <348>); im Falle mehrdeutiger Äußerungen ist bei der Anwendung sanktionierender Normen die dem sich Äußernden günstigere Deutung zugrundezulegen (vgl. BVerfGE 93, 266 <295 ff.>; 94, 1 <9>; 114, 339 <349>).

Die Notwendigkeit der Berücksichtigung begleitender Umstände ergibt sich in besonderer Weise dann, wenn die betreffende Formulierung ersichtlich ein Anliegen nur in schlagwortartiger Form zusammenfasst. Ein solcher Fall liegt typischerweise bei dem ?Motto? einer Versammlung vor, das in der Regel nur den Kern eines Anliegens in knappen Worten zum Ausdruck bringen kann. Die Versammlungsfreiheit schützt auch das Interesse des Veranstalters, auf einen Beachtungserfolg nach seinen Vorstellungen zu zielen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 6. Juni 2007 ? 1 BvR 1423/07 ?, NJW 2007, S. 2167 <2168>), so dass auch das Interesse, ein schlagwortartiges Versammlungsmotto zu formulieren, dem Schutz des Art. 8 Abs. 1 GG unterfällt. Dass ein solches Motto eine Forderung nur pauschal und undifferenziert zum Ausdruck bringt, erlaubt für sich allein nicht die Prognose, auch die Versammlung werde sich undifferenziert mit dem Thema befassen.

Die im vorliegenden Fall die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts tragende Prognose, es seien im Verlauf der Versammlung Äußerungen zu erwarten, die aufgrund ihrer Pauschalität und Undifferenziertheit den Straftatbestand des § 130 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB erfüllen würden, kann daher nur dann gerechtfertigt sein, wenn sich diese Prognose aus weiteren, dem Veranstalter zuzuordnenden Umständen, insbesondere Aussagen ergibt, bei deren Deutung wiederum die einschlägigen verfassungsrechtlichen Maßstäbe anzulegen sind.

Diese Anforderungen hat das Oberverwaltungsgericht ersichtlich verfehlt. In den Vordergrund seiner der Prüfung des Straftatbestandes des § 130 StGB zugrunde liegenden Deutung des Versammlungsanliegens stellt es das pauschal formulierte Motto der Versammlung. Das Gericht geht zwar davon aus, dass auch die Begleitumstände zu berücksichtigen sind, wobei jedenfalls die Heranziehung des in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der geplanten Versammlung verbreiteten Flugblattes verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Jedoch stellt das Oberverwaltungsgericht lediglich fest, dass das Flugblatt der Einschätzung, das Versammlungsmotto sei pauschal und undifferenziert formuliert, nicht entgegenstehe und greift in diesem Zusammenhang einzelne als pauschal herabwürdigend angesehene Ausdrücke und Formulierungen heraus. Die stattdessen gebotene Würdigung dahin, ob sich gerade aus dem Flugblatt eine lediglich pauschale und undifferenzierte Forderung ergebe, nimmt das Oberverwaltungsgericht dagegen nicht vor.

Soweit es ferner auf die Frage eingeht, ob die Ausführungen im Flugblatt der über das Motto getroffenen Einschätzung entgegenstehen könnten, würdigt das Oberverwaltungsgericht den Aussagegehalt des Flugblattes ersichtlich unvollständig und erfasst ihn damit nicht zutreffend. So hätte das Gericht zu seiner Einschätzung, auch das Flugblatt fordere pauschal und ohne Differenzierung nach Tatschwere und Schuld die Todesstrafe für alle Täter von Sexualstraftaten gegen Kinder, nicht gelangen dürfen, ohne in Betracht zu ziehen, dass das Flugblatt nicht pauschal die Todesstrafe, sondern ?Todesstrafe oder tatsächlich lebenslange Haft? fordert und zwar lediglich ?für Schwerverbrecher?, wobei insoweit insbesondere ein Zusammenhang zu den Begriffen ?Mörder? und ?Kindermorde? hergestellt wird. Als weitere Alternative zum Umgang mit ?Triebtätern? wird ferner gefordert, das ?Prinzip der Sicherungsverwahrung? müsse ?konsequent zur Anwendung kommen?. Ohne hierauf einzugehen, hätte das Oberverwaltungsgericht nicht zu seiner Einschätzung gelangen dürfen, die zum Thema der Versammlung gemachte Forderung erlaube keine Differenzierung nach der Schuld der Täter und blende die Möglichkeit eingeschränkt oder vollständig schuldunfähiger Täter aus. Die ferner in dem Flugblatt ausdrücklich enthaltene Unterscheidung zwischen ?Kinderschändern? und ?Kindermördern? hätte das Oberverwaltungsgericht bei seiner Deutung ebenso wenig außer Betracht lassen dürfen wie den Umstand, dass im Vordergrund der dort formulierten Forderungen weniger die Tötung der Täter steht als vielmehr das Ziel, diese ?aus dem Verkehr? zu ziehen, wobei die Todesstrafe nur als eines der dafür in Betracht kommenden Mittel bezeichnet wird.

Ohne Würdigung dieser Aussagegehalte des von ihm zur Beurteilung der Gefahr herangezogenen Flugblattes hätte das Oberverwaltungsgericht nicht zu dem Ergebnis gelangen dürfen, während der Versammlung seien undifferenzierte Äußerungen zur Frage der Wiedereinführung der Todesstrafe zu erwarten, die hinter der im Parteiprogramm der NPD enthaltenen Forderung zurückbleibe, für bestimmte Fälle nach streng rechtsstaatlichem Verfahren die Todesstrafe wieder einzuführen. Eine solche Forderung wiederum hätte nach der eigenen Einschätzung des Oberverwaltungsgerichts den Straftatbestand des § 130 StGB nicht erfüllt und somit keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit bedeutet.

3. Nicht ersichtlich und von den Gerichten und der Versammlungsbehörde nicht geltend gemacht ist, dass bei Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung anderweitige Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu befürchten stünden, denen nicht anders als durch ein Verbot der Versammlung entgegengewirkt werden könnte.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.