OLG Köln, Beschluss vom 30.04.1993 - 2 W 50/93
Fundstelle
openJur 2012, 73795
  • Rkr:

1. Die materielle Rechtskraft eines ersten erfolglosen Vollstreckungsschutzverfahrens steht einem weiteren Vollstreckungsschutzverfahren nach § 765 a ZPO nicht entgegen, wenn es auf neue Tatsachen gestützt ist. Gleichgültig, ob diese schon früher geltend gemacht werden konnten. Dies ist aber bei der Abwägung der Gläubiger- und Schuldnerinteressen zu berücksichtigen.

2. Eine amtsärztlich bestätigte Selbsttötungsgefahr für den Fall der Zwangsräumung begründet nicht als solche eine sittenwidrige Härte, sondern dies ist nur ein gewichtiger Gesichtspunkt bei der Abwägung der Gläubiger- und Schuldnerinteressen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, ob der suizidgefährdete Schuldner den Versuch macht, durch laufende ärztliche Behandlung die extreme Reaktion auf die drohende Räumung zu überwinden. Weder das Fehlen der (späteren) Eintragung in das Grundbuch noch das Fehlen eines urkundlichen Beweises schließt die Existenz eines solchen Rechts aus.

Tenor

Die sofortige weitere Beschwerde der Schuldner gegen den Beschluß der 9. Zivilkammer des Landgerichts Köln vom 12. März 1993 wird auf Kosten der Schuldner zurückgewiesen.

Gründe

I.

Durch Urteil des Amtsgerichts

Wipperfürth vom 29.04.1992 sind die Schuldner zur Räumung

verurteilt worden, und es ist ihnen eine Räumungsfrist bis zum

31.07.1992 eingeräumt worden. Die Berufung gegen diese Entscheidung

haben die Schuldner zurückgenommen, nachdem die Gläubiger im

Termin vom 12.08.1992 vor dem Landgericht erklärt haben, nicht vor

dem 31.10.1992 zu vollstrecken.

Einen Vollstreckungsschutzantrag gemäß

§ 765 a ZPO, nachdem die Räumung zum 31.10.1992 nicht erfolgt war,

hat das Landgericht durch Beschluß vom 29.01.1993 (9 T 17/93)

zurückgewiesen.

Die Schuldner haben sodann am

31.01.1993 - Räumungstermin war auf den 01.02.1993 angesetzt -

einen erneuten Antrag nach § 765 a ZPO gestellt und damit erstmals

vorgetragen, daß der Ehemann mit dem Freitod für den Fall der

Zwangsräumung gedroht habe. Sie haben weitere Einstellung der

Zwangsvollstreckung bis zum 01.06.1993 beantragt.

Durch Beschluß vom 11.02.1993 hat das

Amtsgericht nach Vorlage einer amtsärztlichen psychiatrischen

gutachtlichen Stellungnahme des Arztes für Psychiatrie Dr. Sch.

diesem Antrag entsprochen. Auf den Inhalt des amtsärztlichen

Gutachtens wird Bezug genommen.

Auf die Beschwerde der Gläubiger hat

das Landgericht unter Aufhebung der Entscheidung des Landgerichts

den Einstellungsantrag zurückgewiesen. Es hat seine Entscheidung in

erster Linie damit begründet, daß die Ernsthaftigkeit der

Selbsttötungsdrohung nicht glaubhaft gemacht sei, weil die

Schuldner selbst diese Gefahr im durch Beschluß vom 29.01.1993

beendeten ersten Vollstrekkungsschutzverfahren nicht geltend

gemacht hätten, sondern nur mit Rücksicht auf die Dauer des

beabsichtigten Umzugs in die Massagepraxis der Ehefrau

Vollstreckungsschutz beantragt hätten.

Gegen diese Entscheidung richtet sich

die weitere Beschwerde der Schuldner, auf deren Inhalt wegen aller

Einzelheiten Bezug genommen wird.

Der Senat hat die Zwangsvollstreckung

durch Beschluß vom 13.04.1993 bis zu dieser Entscheidung

einstweilen eingestellt und den Schuldnern die psychiatrische

gutachtliche Stellungnahme unter Fristsetzung bis zum 27.04.1993

zugeleitet, da deren Nichtkenntnis mit der weiteren Beschwerde

gerügt worden war.

II.

Die weitere Beschwerde ist zulässig. Gemäß

§§ 576, 568 II, 793 ZPO ist die weitere

Beschwerde im Zwangsvollstreckungsverfahren auch dann statthaft,

wenn der Rechtsstreit in der Hauptsache nicht zum Oberlandesgericht

gelangen kann. Wegen aller Einzelheiten der Begründung verweist der

Senat auf die Senatsentscheidung vom 09.09.1991 (2 W 126/91),

veröffentlicht in ZMR 1991, 436.

Die weitere Beschwerde ist aber in der Sache

nicht begründet.

Die Schuldner haben erst im zweiten Voll-

streckungsschutzverfahren nach § 765 a

ZPO vorgetragen, die sittenwidrige Härte der Zwangsvollstreckung

ergebe sich daraus, daß der Ehemann bei Durchführung der Räumung

akut suizidgefährdet sei. Die Prüfung dieses Vortrags ist nicht

durch die materielle Rechtskraft der vorangegangenen Entscheidung

(vgl. Schuschke, Zwangsvollstreckung, Bd. I (1992), § 765 a, Rn. 19

m.w.N.) ausgeschlossen, denn neues Vorbringen kann auch dann

Gegenstand eines weiteren Vollstreckungsschutzverfahrens sein,

wenn es zwar hätte geltend gemacht werden können, aber nicht

geltend gemacht worden ist, so daß eine gerichtliche Entscheidung

über diesen Härtegrund gemäß § 765 a ZPO noch nicht ergangen ist.

Ein vorsätzliches oder fahrlässiges Zurückhalten von Härtegründen

im ersten Vollstreckungsschutzverfahren kann sich zwar auf das

Ergebnis der Abwägung zwischen Gläubiger- und Schuldnerinteressen

auswirken, es schließt aber nicht die Sachprüfung der neu

vorgebrachten Gründe aus.

Bei der Prüfung, was als eine sittenwidrige

Härte i.S.v. § 765 a ZPO anzusehen ist,

hat das Landgericht zutreffend berücksichtigt, daß in die Abwägung

der Gläubiger- und Schuldnerinteressen der auch in der

Zwangsvollstreckung geltende Grundrechtsschutz besonders zu

berücksichtigen ist, wenn aufgrund einer Selbsttötungsgefahr ein

schwerer Eingriff in Leben oder körperliche Unversehrtheit zu

besorgen ist (BVerfG NJW 1979, 2607; NJW 1991, 3207). Die

Interessen der Schuldner können bei dieser Sachlage wesentlich

schwerer wiegen als die Interessen der Gläubiger an der alsbaldigen

Durchsetzung des rechtskräftigen Titels.

Ein solches Ergebnis der Abwägung setzt aber

voraus, daß die ohne Einstellung der

Zwangsvollstreckung unbehebbare schwere Rechtsgutgefährdung mit

hinreichender Wahrscheinlichkeit anhand objektiv feststellbarer

Merkmale festgestellt werden kann (Senat Rpfleger 1990, 30; Scholz

ZMR 1986, 227 (228)).

Hier führte das amtsärztliche Attest

zur Selbsttötungsgefahr des 59-jährigen Schuldners aus: "Herr K.

leidet an einer starken depressiven Störung, verbunden mit

agitiertem Verhalten und agressiven Impulsen, die sich aufgrund

seiner Struktur verstärkt nach innen wenden. Aufgrund dieser

Umstände ist aus psychiatrischer Sicht davon auszugehen, daß er

einen ernsthaften Suizidversuch machen wird, wenn er zwangsgeräumt

wird. Mit einer Kurzschlußreaktion von Herrn K. muß gerechnet

werden.

Aus psychiatrischer Sicht ist es

notwendig zur Vermeidung einer erheblichen derartigen

Selbstbeschädigung Herrn K. eine Frist einzuräumen (bis mindestens

01.06.1993), innerhalb derer er eine neue Wohnung beziehen

kann."

Es kann dahinstehen, ob der Auffassung

des Landgerichts, die Selbsttötungsdrohung des Ehemanns sei hier

ungeachtet des amts-ärztlichen Gutachtens nicht als ernsthaft

anzusehen, weil der Schuldner die Selbsttötungsgefahr erst nach

dem Mißerfolg des ersten Vollstreckungsschutzverfahrens geltend

gemacht hat, zu folgen ist. Insbesondere kann auch dahinstehen, ob

das Landgericht die erforderliche Sachkunde hatte, um ohne eine

ergänzende ärztliche Stellungnahme zum Verfahrensverlauf zu diesem

Ergebnis zu kommen.

Es kommt auf diese Fragen nicht an,

weil das Gericht eine Abwägung der Gläubiger- und

Schuldnerinteressen selbständig vornehmen muß und hier die

Vollstreckung auch unter Zugrundelegung des Ergebnisses der

amtsärztlichen Begutachtung bei dieser Abwägung nicht als

sittenwidrige Härte anzusehen ist.

Eine Selbsttötungsgefahr begründet nicht als

solche eine sittenwidrige Härte,

sondern sie ist nur ein gewichtiger Umstand, der in die Abwägung

der gegenläufigen Interessen einzubeziehen ist. Dabei ist nicht

nur die Selbsttötungsgefahr als solche zu berücksichtigen, sondern

auch die Umstände, auf denen sie beruht, sind von Gewicht. Ferner

sind das sonstige Verhalten des Schuldners in der

Zwangsvollstreckung und das Gewicht der objektiven

Beeinträchtigung für ihn zu berücksichtigen. Diese Umstände sind

abzuwägen gegen das Interesse des Gläubigers an der Durchsetzung

des rechtskräftigen Titels, wobei auch die Dauer des bisherigen

Verfahrens zu berücksichtigen ist.

Diese Abwägung ergibt, daß eine

sittenwidrige Härte im Streitfall zu verneinen ist.

Für das Gewicht der Selbsttötungsgefahr kann

nicht unberücksichtigt bleiben, auf

welchen Umständen sie beruht. Der Schuldner trägt hier selbst unter

Vorlage ärztlicher Atteste vor, daß er selbsttötungsgefährdet sei,

weil er die gesellschaftliche Schande einer Zwangsräumung nicht

ertragen könne und weil er sich gegenüber seiner Familie schuldig

fühle, diese Räumung nicht habe abwenden zu können, so daß er sein

Leben bei diesem Mißerfolg als wertlos ansehe. Eine solche Reaktion

muß als psychische Fehlreaktion auf eine vom Gesetz vorgesehene

Maßnahme angesehen werden, die nur dann berücksichtigt werden

kann, wenn der Betroffene durch eine laufende ärztliche Behandlung

alles tut, um diese Fehlreaktion zu behandeln. Zu einer laufenden

bisher erfolglosen ärztlichen Behandlung hat der Schuldner jedoch

nichts vorgetragen.

Der Senat hat den Schuldnern auch

Gelegenheit gegeben, zum Inhalt des amtsärztlichen Attestes

Stellung zu nehmen, ohne daß dazu oder zu sonstigen aus dem

amtsärztlichen Attest nicht erkennbaren Umständen etwas vorgetragen

worden wäre.

Das eigene Verhalten des Schuldners im Voll-

streckungsschutzverfahren spricht

ebenfalls gegen eine sittenwidrige Härte. Nach seinem eigenen

Vortrag zu seinem depressiven Syndrom und einem - allerdings 33

Jahre zurückliegenden - früheren Selbsttötungsversuch muß davon

ausgegangen werden, daß ihm seine Selbsttötungsgedanken für den

Fall eines erfolglosen Vollstreckungsschutzverfahrens schon im

ersten Vollstreckungsschutzverfahren bekannt waren, denn mit einem

negativen Ausgang war zu rechnen. Wenn er es trotzdem unterlassen

hat, auch diesen Gesichtspunkt im ersten Verfahren geltend zu

machen, hat er damit eine erhebliche Verfahrensverzögerung

herbeigeführt, die er sich im Rahmen der Abwägung auch dann

zurechnen lassen muß, wenn die verspätete Geltendmachung nicht

gegen die Ernsthaftigkeit seiner Drohung spricht.

Schließlich ist zu berücksichtigen, daß nach

dem eigenen Vortrag der Schuldner im

ersten Vollstreckungsschutzverfahren eine Möglichkeit zur

Unterstellung der Möbel in Kürze (im Februar 1993) bestand. Auch

wenn ein Umzug in die Massagepraxis der Schuldnerin nicht möglich

ist, so ist nicht dargetan, daß dort nicht die Möbel, wie

ursprünglich vorgetragen, zeitweise untergestellt werden können.

Die verbleibende Dauer des Wohnungsverlustes von einer etwaigen

Zwangsräumung nach der Entscheidung des Senats bis zum 01.06.1993

ist, nachdem der Senat die Zwangsvollstrekkung bis zu seiner

Entscheidung eingestellt hat, so kurz, daß der Schuldner, ohne das

Gesicht zu verlieren, für diese kurze Óbergangszeit in einem Hotel

Unterkunft suchen kann. Es ist nicht dargetan, daß ihm dies aus

finanziellen Gründen unmöglich wäre. Das gilt erst recht, wenn, wie

jetzt vorgetragen, der Umzug voraussichtlich schon Mitte Mai 1993

stattfinden kann.

Die Gläubigerinteressen haben hier schon des-

halb ein erhebliches Gewicht, weil es

sich um die Vollstreckung eines rechtskräftigen Titels handelt, für

den schon eine Räumungsfrist gewährt worden war. Die Gläubiger

haben nunmehr sechs Monate über diesen Termin hinaus auf die

Räumung warten müssen und müssen ihrerseits an den Erwerber des

Hauses wegen der Nichträumung Vertragsstrafen zahlen.

Der Umstand, daß die Schuldner nach

ihrem Vortrag nunmehr in einem Monat in eine andere Wohnung

umziehen können, rechtfertigt keinen weiteren Vollstreckungsschutz.

Die Last der kurzfristigen anderweitigen Unterbringung müssen bei

der geschilderten Abwägung der Gläubiger- und Schuldnerinteressen

die Schuldner tragen. Sollte der Umzugstermin, wie die Gläubiger

befürchten, wiederum nicht eingehalten werden können, wäre ein

weiterer Vollstreckungsaufschub erst recht nicht gerechtfertigt, da

bei der Abwägung dann auch die wiederholte Nichteinhaltung

zugesagter Termine zu berücksichtigen wäre.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97

ZPO.

Beschwerdewert: DM 6.000,00