OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12.02.1997 - 7 B 2608/96
Fundstelle
openJur 2012, 76215
  • Rkr:
Tenor

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen als Gesamtschuldner.

Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 4.000,-- DM festgesetzt.

Gründe

Die zulässige Beschwerde mit dem sinngemäßen Begehren,

den Beschluß des Verwaltungsgerichts

zu ändern und die aufschiebende Wirkung

der Klage der Antragsteller vom

12. April 1996 - 5 K 1160/96 - gegen

die der Beigeladenen erteilte

Baugenehmigung des Antragsgegners vom

23. Januar 1996 - 292/96 - anzuordnen,

ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf

Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zu Recht und mit im

wesentlichen zutreffender Begründung, auf die der Senat nach

§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO zur Vermeidung von Wiederholungen

Bezug nimmt, abgelehnt.

Der Senat teilt allerdings nicht die Auffassung des

Verwaltungsgerichts, daß die mit Zugehörigkeitsvermerk zur

Baugenehmigung versehenen Bauvorlagen hinsichtlich der

Errichtung der hinteren Gebäudeabschlußwand widersprüchlich

sind. Zwar wird auf dem Lageplan (Blatt 7 der Beiakte 1a) die

hintere Gebäudeabschlußwand des Wohnbauvorhabens der

Beigeladenen durchgängig mit 11,30 m bezeichnet, ohne einen

Versprung um 0,6 m vorzusehen. Durch die auf Anregung der

Baugenehmigungsbehörde unter dem 23. Januar 1996 durch den

Architekten der Beigeladenen vorgenommenen handschriftlichen

Änderungen im Erdgeschoßgrundriß ("geändert bezüglich

Abstandfläche, gilt für alle Geschosse") und der der

Abstandsflächenberechnung beigefügten Skizze ("Abstandfläche

Änderung siehe Erdgeschoßgrundriß") wird indessen hinreichend

deutlich, daß die Beigeladene jedenfalls im Zeitpunkt der

Genehmigung einen Bauantrag zur Genehmigung gestellt hat, der

zur Wahrung der hinteren Abstandfläche einen Versprung in der

Gebäudeabschlußwand auf einer Länge von 60 cm vorsieht. Diesen

hinsichtlich des Erdgeschoßgrundrisses geänderten Bauantrag

hat der Antragsgegner durch eigene Grüneintragungen in den

Plänen hinsichtlich der Grundrisse des Keller- und des

Obergeschosses in einer Weise ergänzt, daß insoweit Bedenken

an der Bestimmtheit der erteilten Baugenehmigung nicht

aufkommen können.

Mit diesem Inhalt verstößt die angefochtene Baugenehmigung

nach den insoweit zutreffenden Ausführungen des

Verwaltungsgerichts auf Seite 3 unten/4 oben des angefochtenen

Beschlusses nicht gegen nachbarschützende Vorschriften des

Bauordnungs- und Bauplanungsrechts.

Das Beschwerdevorbringen gibt im übrigen Anlaß zu folgender

ergänzender Anmerkung hinsichtlich des gerügten Verstoßes

gegen die Nachbarschutz vermittelnde Vorschrift des § 6

BauO NW durch die hintere Gebäudeabschlußwand des

Vorhabens:

Der Senat läßt offen, ob das Verwaltungsgericht die

notwendige Abstandfläche für die hintere Gebäudeabschlußwand

mit 5,60 m zutreffend ermittelt hat oder - wie die

Antragsteller meinen - ein Abstandflächenverstoß vorliegt,

weil die hintere Dachfläche wegen der dort geplanten

Dachaufbauten nach § 6 Abs. 4 Nr. 2, 2. Fall BauO NW zu einem

Drittel zur Wandhöhe hinzugerechnet werden muß. Der

vermeintliche Abstandflächenverstoß wäre jedenfalls zwingend

nach § 73 Abs. 1 Satz 1 BauO NW zu legalisieren. Nach der

genannten, anstelle des ursprünglich in § 68 BauO NW 1984

enthaltenen Systems von Ausnahmen und Befreiungen neu

eingeführten Regelung kann die Genehmigungsbehörde

Abweichungen von bauaufsichtlichen Anforderungen dieses

Gesetzes und aufgrund dieses Gesetzes erlassener Vorschriften

zulassen, "wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der

jeweiligen Anforderungen und unter Würdigung der nachbarlichen

Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar sind,

soweit in diesem Gesetz oder in aufgrund dieses Gesetzes

erlassenen Vorschriften nichts anderes geregelt ist".

Die Tatbestandsmerkmale dieser Norm liegen vor. § 73 Abs. 1

Satz 1 BauO NW macht die Anwendbarkeit der Norm davon

abhängig, daß ein Vorhaben "unter Würdigung nachbarlicher

Interessen" mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Ist

ein Verstoß gegen materielle nachbarschützende Vorschriften

des Abstandsrechts und damit ein dadurch bedingter Eingriff in

die materiellrechtlich geschützte Rechtsposition des Nachbarn

gegeben, ist die Zulassung einer Abweichung davon abhängig, ob

die Nichtanwendung der Norm im Einzelfall unter

Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderungen des

Gesetzes mit öffentlichen Belangen vereinbar ist.

Das ist hier der Fall. Im Rahmen einer Gesamtbewertung ist

im konkreten Einzelfall ein Verzicht auf die Einhaltung des an

sich erforderlichen Abstands gerechtfertigt, da die

Grundstückssituation bezogen auf die hier in Rede stehende

Anwendung der Abstandsnormen atypisch ist. Der anzuwendende

Bebauungsplan setzt in dem hier maßgeblichen Bereich für die

Flurstücke 268 bis 279 und 23 entlang der Straße "Im L. "

eine "Grenzbebauung beidseitig zwingend" fest. Im Gegensatz zu

den übrigen von dieser Festsetzung betroffenen Grundstücken

verläuft die gemeinsame Grundstücksgrenze zwischen den

Parzellen der Antragsteller (Flurstück 23) und der

Beigeladenen (Flurstück 279) aber nicht parallel im rechten

Winkel zur Straße, sondern schräg, so daß sich das Grundstück

der Beigeladenen nach hinten einseitig verjüngt, während sich

das der Antragsteller verbreitert. Dieser atypische

Grundstückszuschnitt führt bei der festgesetzten geschlossenen

Bauweise unweigerlich dazu, daß die Abstandfläche der hinteren

Gebäudeabschlußwand nur dann nicht zum Teil auf den

Nachbargrundstücken liegt, wenn die Wand jeweils rechtwinkelig

zu den Grundstücksgrenzen angeordnet wird. Da die

gegenüberliegenden Grundstücksgrenzen aber nicht parallel

zueinander verlaufen, müßte - um den

Abstandsflächenvorschriften zu genügen - die

Gebäudeabschlußwand immer einen "Knick" aufweisen.

Mit dieser Grundstücks- und Bausituation weicht der

vorliegende Sachverhalt von dem der gesetzlichen Regelung der

Abstandflächen zugrundeliegenden Normalfall in so deutlichem

Maße ab, daß die strikte Anwendung des Gesetzes zu Ergebnissen

führt, die der Zielrichtung der Norm nicht entsprechen, so daß

eine Nichtanwendung von § 6 Abs. 4 Nr. 2, 2. Fall BauO NW auf

den vorliegenden Fall dem Zweck der Norm nicht zuwiderläuft.

Da auch öffentliche Belange insoweit nicht berührt werden,

insbesondere allgemeine städtebauliche Aspekte nicht

entgegenstehen, sind insoweit die Voraussetzungen für die

Anwendung von § 73 Abs. 1 BauO NW gegeben. Die Abweichung ist

auch, zumal im Hinblick darauf, daß die Bautiefe des Vorhabens

die Voraussetzungen wahrt, mit nachbarlichen Interessen

vereinbar. Eine ins Gewicht fallende Beeinträchtigung der

durch die Abstandsflächenvorschriften im übrigen geschützten

Belange (insbesondere des Brandschutzes, der Belichtung,

Belüftung und des Sozialfriedens) ist mit Blick auf die im

übrigen zulässige Grenzbebauung ebenfalls nicht erkennbar.

Die Beigeladene hätte auch einen Anspruch auf Erteilung der

Abweichung. Die atypische Grundstücks- und Bausituation

gebietet eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften

in einem Maße, daß das dem Antragsgegner in § 73 Abs. 1 BauO

NW eingeräumte Ermessen auf Null reduziert ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2, 159

Satz 2, 162 Abs. 3 VwGO, die Festsetzung des Streitwerts auf

den §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.

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