BVerfG, Beschluss vom 09.12.1999 - 1 BvR 1287/99
Fundstelle
openJur 2012, 24695
  • Rkr:
Tenor

Der Beschluß des Landgerichts Gera vom 23. April 1999 - 1 S 23/99 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen. Der Beschluß des Landgerichts Gera vom 24. Juni 1999 - 1 S 23/99 - ist danach gegenstandslos.

Der Freistaat Thüringen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Verwerfung einer Berufung gegen ein amtsgerichtliches Urteil und die Ablehnung eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

I.

1. Der Beschwerdeführer ist im Ausgangsverfahren vom Amtsgericht zur Zahlung von 3.694,39 DM verurteilt worden. Dagegen hat er Berufung zum Landgericht eingelegt und beantragt, die Berufungsbegründungsfrist bis zum 1. März 1999 zu verlängern. Das Landgericht hat dem Antrag unter dem 10. Februar 1999 entsprochen und dem Beschwerdeführer gleichzeitig unter Hinweis auf § 225 Abs. 2 ZPO mitgeteilt, daß eine nochmalige Fristverlängerung nur nach Anhörung des Gegners gewährt werde.

Mit der Begründung, wegen Krankheit des allein sachbearbeitenden Rechtsanwalts habe die Besprechung mit dem Beschwerdeführer nicht stattfinden können, haben dessen Prozeßbevollmächtigte mit Schriftsatz vom 26. Februar 1999 unter Beifügung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für den Sachbearbeiter erneut die Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist - bis zum 8. März 1999 - beantragt. An diesem Tag ist die Berufungsbegründung beim Landgericht eingegangen. Daraufhin hat dieses den Beschwerdeführer mit Schreiben vom 10. März 1999 darauf hingewiesen, die Berufung sei innerhalb der Begründungsfrist nicht begründet worden. Eine nochmalige Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist habe gemäß der Verfügung, mit der der Erstverlängerung stattgegeben wurde, nur nach Anhörung des Gegners erfolgen sollen. Dieser habe der nochmaligen Verlängerung jedoch widersprochen. Die Prozeßvertreter des Beschwerdeführers könnten daher nicht auf eine nochmalige Fristverlängerung durch die Kammer vertrauen. Zwar entspreche es der Kammerübung, die erstmalig und rechtzeitig beantragte Berufungsbegründungsfristverlängerung zu gewähren. Weitere Verlängerungen erfolgten jedoch nur mit Zustimmung der Gegenseite, die hier nicht vorliege. Es sei beabsichtigt, gemäß § 519 b ZPO zu verfahren und das Rechtsmittel zu verwerfen.

Der Beschwerdeführer hat dazu Stellung genommen, noch einmal die Gründe dargelegt, die die neuerliche Fristverlängerung aus seiner Sicht notwendig machten, und gebeten, dem Verlängerungsantrag stattzugeben. Das Landgericht hat jedoch, ohne über diesen Antrag ausdrücklich zu entscheiden, mit dem angegriffenen Beschluß vom 23. April 1999 die Berufung verworfen. Begründet hat es dies im wesentlichen wie folgt:

Das Rechtsmittel sei unzulässig, weil es nicht fristgerecht begründet worden sei. Gemäß § 225 ZPO dürfe eine wiederholte Verlängerung nur nach Anhörung des Gegners bewilligt werden. Darauf sei der Prozeßvertreter des Beschwerdeführers bei der erstmalig gewährten Fristverlängerung hingewiesen worden. Außerdem entspreche es der dem Prozeßvertreter bekannten Praxis der Berufungskammer, weitere Verlängerungen der Berufungsbegründungsfrist von der Zustimmung der Gegenseite abhängig zu machen. Zwar sei die Kammer nicht zwingend an die Stellungnahme der Gegenseite gebunden. Der Prozeßvertreter des Beschwerdeführers habe aber unter den gegebenen Umständen nicht auf eine nochmalige Fristverlängerung vertrauen können. Er hätte deshalb von einem Fristablauf am 1. März 1999 ausgehen müssen.

Unter dem 19. Mai 1999 hat der Beschwerdeführer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Das Landgericht hat den Antrag mit dem weiter angegriffenen Beschluß vom 24. Juni 1999 verworfen, vor allem aus folgenden Gründen:

Weil das Landgericht die Berufung des Beschwerdeführers bereits verworfen habe, bestehe kein Raum mehr für die Gewährung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Das Verfahren sei bereits rechtskräftig abgeschlossen. Im übrigen wäre der Wiedereinsetzungsantrag auch unabhängig davon als unzulässig zu verwerfen gewesen.

Der Antrag sei erst mit Schriftsatz vom 19. Mai 1999 gestellt und damit begründet worden, daß der Prozeßbevollmächtigte des Beschwerdeführers auf die nochmalige Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist habe vertrauen dürfen, zumal er die Rechtsprechung der Kammer nicht gekannt habe. Deren Vorsitzender habe den Prozeßbevollmächtigten jedoch schon mit Schreiben vom 10. Februar 1999 darauf hingewiesen, daß eine nochmalige Fristverlängerung nur nach Anhörung des Gegners gewährt werden würde. Die Gegenseite habe einer nochmaligen Verlängerung ausdrücklich widersprochen. Unter diesen Umständen habe für den Prozeßbevollmächtigten des Beschwerdeführers kein Vertrauensschutz mehr dahin gehend bestanden, nochmals eine Fristverlängerung gewährt zu bekommen.

Durch die Verfügung vom 10. Februar 1999 sei dem Prozeßbevollmächtigten auch die Rechtsauffassung der Kammer hinsichtlich einer wiederholten Gewährung von Fristverlängerungen mitgeteilt worden. Mithin hätte ein Wiedereinsetzungsantrag binnen zwei Wochen nach Behebung des maßgeblichen Hindernisses, also spätestens zwei Wochen nach Zustellung des Schriftsatzes der Gegenseite, in dem diese sich - im März 1999 - gegen eine weitere Verlängerung ausgesprochen gehabt habe, erfolgen müssen. Der Wiedereinsetzungsantrag vom Mai 1999 sei also auch verspätet.

2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung des Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Eine Praxis, die ausnahmslos eine nochmalige Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist von der Zustimmung der Gegenpartei abhängig mache, obwohl die Zustimmung oder deren Versagung nicht bindend sei, verkenne die Tragweite der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantie. Gerade wenn wie hier der Prozeßbevollmächtigte in erster Instanz nicht mandatiert gewesen sei, müsse er vor Abfassung der Berufungsbegründung eine ausführliche Besprechung mit dem Mandanten durchführen können. Andernfalls werde ein effektiver Rechtsschutz unzumutbar erschwert. Falle die Besprechung wegen nachgewiesener Arbeitsunfähigkeit des Anwalts aus und könne sie auch nicht rechtzeitig nachgeholt werden, bedeute die Versagung der Fristverlängerung faktisch eine nachträgliche Verkürzung des Rechtsschutzes. Das gelte jedenfalls dann, wenn wie hier eine Verlängerung nur in dem Umfang beantragt worden sei, in dem die ursprünglich gewährte Frist infolge Arbeitsunfähigkeit fruchtlos verstrichen sei. Da im Verlängerungsantrag ein unabweisbarer konkreter Grund dargelegt worden sei, habe auf die beantragte Fristverlängerung um eine Woche vertraut werden dürfen.

3. Gelegenheit zur Stellungnahme hatten das Thüringer Ministerium für Justiz und Europaangelegenheiten sowie die Klägerin des Ausgangsverfahrens. Diese hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Das Landgericht habe in dem Beschluß vom 23. April 1999 konkludent auch über den nochmaligen Verlängerungsantrag entschieden; erhebliche Gründe für eine nochmalige Verlängerung hätten nicht vorgelegen.

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde, soweit sie sich gegen die Verwerfung der Berufung des Beschwerdeführers gegen das Urteil des Amtsgerichts in dem Beschluß des Landgerichts vom 23. April 1999 richtet, zur Entscheidung an und gibt ihr insoweit statt. Die gesetzlichen Voraussetzungen dafür sind erfüllt.

1. Die Verfassungsbeschwerde gegen den genannten Beschluß ist zulässig, insbesondere fristgerecht erhoben. Da der Beschwerdeführer im Hinblick auf den Subsidiaritätsgrundsatz gehalten war, nach Verwerfung der Berufung wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu beantragen (vgl. BVerfGE 10, 274 <281>), und der Rechtsbehelf der Wiedereinsetzung zum Rechtsweg im Sinne des § 90 Abs. 2 BVerfGG gehört (vgl. BVerfGE 42, 252 <256>), ist die Beschwerdefrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG auch hinsichtlich des Beschlusses vom 23. April 1999 gewahrt.

2. Es liegen auch die Voraussetzungen des § 93 c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG vor.

a) Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die insoweit geltend gemachte Grundrechtsverletzung hat besonderes Gewicht, weil sich das Landgericht für seine Entscheidung auf eine offenbar ständige Praxis dieses Gerichts bezogen hat (vgl. BVerfGE 90, 22 <25>).

b) Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG sind gegeben. Die Verfassungsbeschwerde ist, wie sich anhand der vorliegenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts feststellen läßt, begründet. Die Verwerfung der vom Beschwerdeführer gegen das amtsgerichtliche Urteil eingelegten Berufung und die darin eingeschlossene Ablehnung des zweiten Antrags des Beschwerdeführers auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist verletzen Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip.

Die aus diesem Prinzip abzuleitende Rechtsschutzgarantie gewährleistet in zivilrechtlichen Streitigkeiten - ebenso wie Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG für den Bereich des öffentlichen Rechts - nicht nur, daß überhaupt ein Rechtsweg zu den Gerichten offensteht. Sie garantiert vielmehr auch die Effektivität des Rechtsschutzes. Die Rechtsschutzgewährung durch die Gerichte bedarf allerdings einer normativen Ausgestaltung durch eine Verfahrensordnung. Dabei kann der Gesetzgeber auch Regelungen treffen, die für ein Rechtsschutzbegehren besondere formelle Voraussetzungen aufstellen und sich dadurch für den Rechtsuchenden einschränkend auswirken. Solche Einschränkungen müssen aber mit den Belangen einer rechtsstaatlichen Verfahrensordnung vereinbar sein und dürfen den einzelnen Rechtsuchenden nicht unverhältnismäßig belasten. Der Rechtsweg darf danach nicht in unzumutbarer, durch Sachgründe der genannten Art nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 88, 118 <123 f.> m.w.N.). Den gleichen Anforderungen unterliegen die Gerichte, wenn sie die maßgebliche Verfahrensordnung im Einzelfall auslegen und anwenden.

Gemessen daran hält die angegriffene Entscheidung der verfassungsgerichtlichen Überprüfung nicht stand. Das Landgericht hat die Berufung des Beschwerdeführers mit der Begründung verworfen, daß sie verspätet begründet worden sei. Diese Begründung ist nur nachzuvollziehen, wenn das Gericht den zweiten Antrag des Beschwerdeführers auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist, den dieser vor Ablauf der auf den ersten Verlängerungsantrag bis zum 1. März 1999 bestimmten Frist gestellt hatte, als unbegründet angesehen hat. Das hat es unter Hinweis auf die Praxis des Berufungsgerichts ersichtlich deshalb getan, weil die Prozeßgegnerin des Beschwerdeführers der weiteren Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist nicht zugestimmt hatte.

Mit § 225 Abs. 2 ZPO ist dies nach dem klaren Wortlaut dieser Vorschrift nicht vereinbar. Nach ihr darf die wiederholte Verlängerung einer Frist nur nach Anhörung des Gegners bewilligt werden. Es entspricht, soweit ersichtlich, einhelliger Auffassung des zivilprozessualen Schrifttums, daß Anhörung nicht Zustimmung des Gegners bedeutet (vgl. Feiber, in: Münchener Kommentar zur Zivilprozeßordnung, Bd. 1, 1992, § 225 Rn. 5; Grunsky, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 21. Aufl., Bd. 5 Teilbd. 1, 1993, § 519 Rn. 16; Stöber, in: Zöller, Zivilprozeßordnung, 21. Aufl., 1999, § 225 Rn. 4). Auch das Landgericht hat dies angenommen, wenn es ausgeführt hat, es sei nicht zwingend an die Stellungnahme der Gegenseite gebunden. Konsequenzen daraus hat es aber nicht gezogen. Vor allem hat es nicht nach außen erkennbar geprüft und festgestellt, daß der Beschwerdeführer erhebliche Gründe für die beantragte Fristverlängerung nicht glaubhaft gemacht hat (vgl. § 224 Abs. 2 ZPO). Das kann im Ergebnis nur so verstanden werden, daß das Landgericht auch im Fall des Beschwerdeführers der zuvor schon erwähnten Praxis des Berufungsgerichts gefolgt ist, "weitere Verlängerungen der Berufungsbegründungsfrist von der Zustimmung der Gegenseite abhängig zu machen".

Durch diese Verfahrensweise ist dem Beschwerdeführer der Zugang zur Berufungsinstanz verwehrt worden, ohne daß dafür Rechtfertigungsgründe gegeben wären. Insbesondere kann dem Begehren des Beschwerdeführers nicht, wie es das Landgericht getan hat, entgegengehalten werden, der Prozeßvertreter des Beschwerdeführers habe unter den gegebenen Umständen, also im Hinblick auf die genannte Praxis des Gerichts, nicht auf eine nochmalige Fristverlängerung durch die Kammer vertrauen können. Auch diese Begründung widerspricht rechtsstaatlichen Anforderungen an die Verfahrensgestaltung. Welche Erwartungen der rechtsuchende Bürger hinsichtlich des Erfolgs eines von ihm gestellten Fristverlängerungsantrags hegen darf, richtet sich im Rechtsstaat grundsätzlich nach der Rechtslage, mithin danach, wie das Gericht bei zutreffender Anwendung der Normen verfahren müßte (vgl. BVerfGE 79, 372 <376>). Danach hätte dem Antrag des Beschwerdeführers auf eine weitere Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist und der vom Beschwerdeführer eingelegten Berufung der Erfolg nicht allein mit der Begründung versagt werden dürfen, der Verfahrensgegner habe der Verlängerung nicht zugestimmt.

Da das Landgericht dem Beschwerdeführer die Möglichkeit eines Zugangs zur Berufungsinstanz - unter anderem mit der ebenfalls unzutreffenden Begründung, schon der rechtskräftige Abschluß des Verfahrens stehe der Gewährung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entgegen (vgl. demgegenüber BVerfGE 42, 252 <256>, sowie BGH, NJW 1992, S. 1898 <1899>) - auch nicht im Wege der Wiedereinsetzung eröffnet hat, ist der angegriffene Beschluß vom 23. April 1999 gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache an das Landgericht zurückzuverweisen; der Beschluß des Landgerichts vom 24. Juni 1999 wird damit gegenstandslos.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93 d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).