BVerfG, Beschluss vom 15.04.2003 - 1 BvR 710/03
Fundstelle
openJur 2012, 133322
  • Rkr:
Tenor

Es wird angeordnet, dass der Antrag der Beschwerdeführerin vom 22. Oktober 2002 in die noch ausstehenden Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Hamburg über die Vergabe von Studienplätzen im Fach Humanmedizin aufgrund mangelhafter Nutzung von Ausbildungskapazitäten durch die Universität Hamburg im Wintersemester 2002/2003 einbezogen wird.

Gründe

Die Beschwerdeführerin begehrt die Zuweisung eines Studienplatzes im verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren.

1. Die Beschwerdeführerin bewarb sich bei der Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS) um einen Studienplatz im Fach Humanmedizin für das Wintersemester 2002/03. Ihr Antrag wurde abgelehnt; auch im Nachrückverfahren konnte ihr kein Studienplatz zugeteilt werden. Mit Schriftsatz vom 22. Oktober 2002 - das Semester hatte am 21. Oktober 2002 begonnen - beantragte die Beschwerdeführerin bei der Universität H. die Zulassung zum Studium im Fach Humanmedizin außerhalb der festgesetzten Zulassungszahl. Gleichzeitig wurde beim Verwaltungsgericht ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, gerichtet auf vorläufige Zulassung zum Humanmedizinstudium an der Universität H., gestellt. Die Beschwerdeführerin begründete ihr Begehren mit der mangelhaften Ausnutzung von Ausbildungskapazitäten. Die Universität H. lehnte den Antrag mit Bescheid vom 28. Oktober 2002 ab. Über den hiergegen eingelegten Widerspruch ist noch nicht entschieden worden.

Ebenfalls am 28. Oktober 2002 hat das Verwaltungsgericht Hamburg den Eilantrag mit der Begründung abgelehnt, die Beschwerdeführerin könne keinen Anordnungsgrund im Sinne von § 123 Abs. 1 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) geltend machen. Eine einstweilige Anordnung zum Schutz eines semesterbezogenen Zulassungsanspruchs sei nicht notwendig, wenn der Studienbewerber den Antrag an das Gericht erst nach Beginn der Vorlesungen im Bewerbungssemester stelle, da er dann nicht das seinerseits Erforderliche und Mögliche veranlasst habe, damit er das Studium in dem von ihm gewünschten Ausbildungssemester noch mit Aussicht auf Erfolg aufnehmen könne.

Die gegen diese Entscheidung eingelegte Beschwerde der Beschwerdeführerin wies das Hamburgische Oberverwaltungsgericht durch Beschluss vom 27. Februar 2003 unter Hinweis auf seine ständige Rechtsprechung zum fehlenden Anordnungsgrund bei Antragsstellung nach Semesterbeginn zurück.

2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 3 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG. Zur Begründung macht sie im Wesentlichen geltend, ihr Anspruch auf effektiven Rechtschutz werde verletzt. Die von den Verwaltungsgerichten festgesetzten Bewerbungsstichtage zum Vorlesungsbeginn seien willkürlich, insbesondere wenn der Antrag nur wenige Tage nach Vorlesungsbeginn bei Gericht eingehe und das Verwaltungsgericht bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch immer nicht über die "rechtzeitig" gestellten Anträge entschieden habe.

3. Zusammen mit der Verfassungsbeschwerde hat die Beschwerdeführerin einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt, um noch an den unmittelbar bevorstehenden Vergabeentscheidungen beim Verwaltungsgericht teilnehmen zu können.

4. Wegen der besonderen Dringlichkeit hat die Kammer gemäß § 32 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG davon abgesehen, den Äußerungsberechtigten Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.

5. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Prüfung, ob diese Voraussetzungen vorliegen, haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, der in der Hauptsache gestellte Antrag ist von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (stRspr; vgl. BVerfGE 84, 286 <288>).

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Die Beschwerdeführerin kann nicht darauf verwiesen werden, zunächst das verwaltungsgerichtliche Verfahren in der Hauptsache durchzuführen. Hier steht prozessuales Vorgehen im Eilrechtsschutz in Frage, welches der Natur der Sache nach im Hauptsacheverfahren keiner Klärung zugeführt werden kann.

Die Verfassungsbeschwerde ist auch nicht offensichtlich unbegründet. Im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird vor allem die Frage zu klären sein, ob es mit Art. 19 Abs. 4 GG vereinbar ist, den Anordnungsgrund nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO davon abhängig zu machen, ob der vorläufige Rechtsschutz vor oder nach dem ersten Vorlesungstag in Anspruch genommen wird, obwohl das Verwaltungsgericht beim Scheitern der auf eine unstreitige Erledigung abzielenden Vorgespräche mit der Universität regelmäßig nicht alsbald entscheidet, um den Antragstellern die Teilnahme am laufenden Semester noch zu ermöglichen.

Die danach gebotene Abwägung der eintretenden Folgen fällt zugunsten der Beschwerdeführerin aus.

Erginge die einstweilige Anordnung nicht, würde der Beschwerdeführerin die Chance genommen, einen Studienplatz aufgrund gegebenenfalls freistehender Kapazitäten zu bekommen. Dies trifft sie umso härter, als auch die Zuteilung eines Studienplatzes im laufenden Sommersemester ungewiss ist. Nachdem ohnehin ein erheblicher Überhang an Bewerbern für die noch durch die Universität H. zu vergebenden Studienplätze gegeben ist, wiegt der für die Beschwerdeführerin entstehende Nachteil bedeutend schwerer als die Nachteile, die entstünden, wenn eine einstweilige Anordnung erlassen, die Verfassungsbeschwerde aber später zurückgewiesen würde. Insoweit sind die Interessen der übrigen Bewerber sowie der Universität H. berührt. Die Rechtsschutzgewähr für die übrigen nach Auskunft des Verwaltungsgerichts noch rund 300 Studienbewerber fällt jedoch bei einer Beteiligung einer weiteren Bewerberin im noch ausstehenden Verteilungsverfahren nicht nennenswert ins Gewicht; denn es geht lediglich um eine relative Minderung der Erfolgschancen für alle. Für die Universität H. sind derzeit keine Nachteile erkennbar, weil die noch freien Kapazitäten nicht von der Anzahl der Bewerber abhängen.