SG Stuttgart, Urteil vom 26.08.2010 - S 10 KA 8917/08
Fundstelle
openJur 2012, 67668
  • Rkr:

1. Bei der Bildung der arztgruppenspezifischen Fallpunktzahl sind die Vertragspartner des Honorarverteilungsmaßstabes (HVM) an die Vorgaben des Bewertungsausschusses gebunden.

2. Der HVM der KV Baden-Württemberg für das Quartal I/2008 ist rechtswidrig, da die Vorgaben des Bewertungsausschusses im Beschluss der 139. Sitzung zur Anpassung der Punktzahlvolumen an die Änderungen im EBM 2008 nicht beachtet werden.

3. Der HVM kann Anpassungen des Punktzahlgrenzvolumens zur Sicherstellung einer ausreichenden medizinischen Versorgung vorsehen. Die KV darf von dem individuellen Mehrbedarf an Fallpunktzahlen einen 20%igen Abschlag vornehmen.

Tenor

1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Honorarbescheids für das Quartal I/2008 vom 17.07.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.11.2008 verurteilt, die Honoraransprüche des Klägers für das Quartal I/2008 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

2. Die Beklagte trägt 3/4 der Kosten des Verfahrens, der Kläger trägt 1/4 der Kosten des Verfahrens.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger eine Erhöhung der Fallpunktzahl des Punktzahlgrenzvolumens (PZGV) im Quartal I/2008 beanspruchen kann.

Der Kläger ist Facharzt für Chirurgie und nimmt in P. an der vertragsärztlichen Versorgung teil.

Mit Bescheid vom 17.07.2008 setzte die Beklagte das Honorar des Klägers für das erste Quartal 2008 mit ... EUR fest. Der Berechnung des PZGV legte die Beklagte die im Honorarverteilungsmaßstab mit Gültigkeit ab 01.01.2008 in § 4 i. V. m. Anlage 2 ausgewiesenen arztgruppenspezifischen Fallpunktzahlen für Fachärzte für Chirurgie (746/666/743) zugrunde. Außerdem gewährte sie zusätzliche Aufschläge nach Anlage 3 des HVM für Chirotherapie (30), physikalische Therapie (22) und Teilradiologie (150). Daraus ergab sich ein Anteil abgestaffelt honorierter Leistungen in Höhe von 40 %.

Hiergegen legte der Kläger am 28.07.2008 Widerspruch ein. Zur Begründung trug er vor, es sei nicht rechtens die ihm zuletzt gewährte Fallpunktzahl für chirotherapeutische Leistungen in Höhe von 242 Punkten auf 33 Punkte zu reduzieren. Schon im Jahr 2000 habe er diese Punktzahl vor dem Sozialgericht Karlsruhe erstreiten müssen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 27.11.2008 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Zur Begründung gibt sie an, der Vorstand der Beklagten habe Kriterien festgelegt, nach denen eine Erweiterung des PZGV möglich sei. Nach diesen Kriterien müsse der begehrte Leistungsbereich mindestens einen 10 %igen Anteil im Referenzzeitraum I/2006 bis IV/2006 im Verhältnis zum budgetrelevant angeforderten Leistungsbedarf der Praxis einnehmen. Im Bereich der Chirotherapie habe der Anteil ca. 37 % im Verhältnis zum budgetrelevant abgerechneten Gesamtleistungsbedarf betragen. Desweiteren müsse eine Spezialisierung der Praxis nachweisbar sein. Hierzu müsse die eigene durchschnittliche Fallpunktzahl die durchschnittliche Fallpunktzahl im spezifischen Leistungsbereich um mindestens 30 % überschreiten. Ein Aufschlag könne jedoch nur dann erfolgen, wenn sich aus einer Vergleichsberechnung zwischen dem individuellen PZGV aus dem Referenzzeitraum und einem fiktiven PZGV für 2008 ein hoher Bedarf errechnen ließe. Diese Kriterien seien weder auf der Basis der Zahlen des Jahres 2006 noch auf Basis des Jahres 2007 erfüllt. Der eingetretene Honorarverlust im Vergleich zum ersten Quartal 2007 sei auf den Rückgang der Fallzahlen zurückzuführen.

Am 23.12.2008 erhob der Kläger anwaltlich vertreten zum Sozialgericht Stuttgart Klage. Zur Begründung lässt er im Wesentlichen vortragen, der Honorarbescheid sei bereits deshalb rechtswidrig, da der HVM der Beklagten für das Quartal I/2008 keinen festen Punktwert vorsehe. Darüber hinaus müsse dem Kläger ein Aufschlag auf die Fallpunktzahl gewährt werden. Die Praxis des Klägers habe seit jeher ihren Schwerpunkt in der Chirotherapie. Dem sei auch sozialgerichtlich bereits in der Vergangenheit Rechnung getragen worden. Durch die geringfügige Änderung in den Fallzahlen sei die Tätigkeit im Bereich der Chirotherapie nicht berührt worden. Der Anteil der Chirotherapie betrage 37 %. Zudem überschreite seine Fallpunktzahl im Versorgungsschwerpunkt die durchschnittliche Fallpunktzahl um mindestens 30 %. Schließlich sei auch die dritte Voraussetzung eines Aufschlags erfüllt, da sich unter Ansatz beider Referenzzeiträume eine Differenz zwischen dem fiktiven PZGV für 2008 und dem individuellen PZGV aus den Jahren 2006 bzw. 2007 ergebe.

Die Beklagte entgegnet, eine Erhöhung der Fallpunktzahl scheide aus. Dem Kläger sei bereits das Zusatzmodul Chirotherapie gewährt worden. Darüber hinaus könne kein Aufschlag für die chirotherapeutischen Leistungen erfolgen, da die Differenz zwischen dem fiktiven PZGV für 2008 und dem individuellen PZGV aus den Jahren 2006 bzw. 2007 negativ sei. Es bestünde daher kein Bedarf für eine Erhöhung. Auch unter Härtefallgesichtspunkten habe der Kläger keinen Anspruch auf höhere Vergütung. Zunächst habe er keinen entsprechenden Antrag gestellt. Zum anderen seien die Voraussetzungen nicht erfüllt. Die Praxis des Klägers habe gegenüber dem Vorjahresquartal einen Rückgang im Gesamthonorar um 7,67 % zu verzeichnen. Der Fallwert sei hingegen um 2,95 % angestiegen. Die Fallzahlen seien dagegen um 10,32 % gesunken. Hierauf sei der Honorarrückgang zurückzuführen.

In der mündlichen Verhandlung vom 26.08.2010 erklärte die Beklagte im Wege eines Teilanerkenntnisses, dass sie den streitgegenständlichen Honoraranspruch für das Quartal I/2008 unter Zugrundelegung fester Punktwerte im Sinne der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 17.03.2010 (B 6 KA 43/08 R) neu bescheiden werde.

Der Kläger nahm dieses Teilanerkenntnis an und beantragt im Hinblick auf die weiteren Streitgegenstände,

die Beklagte unter Aufhebung des Honorarbescheids vom 17.07.2008 für das Quartal I/2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.11.2008 zu verurteilen, die Honoraransprüche des Klägers für das Quartal I/2008 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes, insbesondere des Beteiligtenvortrages, wird auf die Sozialgerichtsakte, die Verwaltungsakte und das Protokoll des Termins zur mündlichen Verhandlung vom 26.08.2010 verwiesen.

Gründe

Die form- und fristgerecht beim örtlich und sachlich zuständigen Sozialgericht Stuttgart erhobene Klage ist zulässig und in Teilen begründet. Der angefochtene Honorarbescheid für das Quartal I/2008 vom 17.07.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.11.2008 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, soweit der Beschluss des Bewertungsausschusses in der 139. Sitzung von der Beklagten nicht beachtet wurde. Insoweit hat die Beklagte den Honoraranspruch des Klägers für das Quartal I/2008 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden. Soweit der Kläger einen individuellen Aufschlag auf die Fallpunktzahl wegen Praxisbesonderheiten begehrt, hat die Klage dagegen keinen Erfolg.

I.

Nach der teilweisen Erledigung des Rechtsstreits durch Annahme des Teilanerkenntnisses der Beklagten in Bezug auf den Punktwert war nur noch über die Rechtmäßigkeit der von der Beklagten angesetzten Fallpunktzahl zu entscheiden, wobei allerdings nur das erste Quartal 2008 streitgegenständlich war, da nur dieser Honorarbescheid mit der Klage angefochten war. Die gerichtliche Prüfung umfasste neben der Frage, ob und inwieweit wegen Praxisbesonderheiten Aufschläge zur arztgruppenspezifischen Fallpunktzahl zu gewähren sind, auch die Rechtmäßigkeit der arztgruppenspezifischen Fallpunktzahl selbst. Denn der Honorarbescheid ist in Bezug auf die Fallpunktzahl nicht in Bestandskraft erwachsen. Der Kläger begehrt eine höhere Fallpunktzahl, was die Prüfung der Rechtmäßigkeit der zugrundeliegenden arztgruppenspezifischen Fallpunktzahl einschließlich aller Aufschläge mit umfasst (vgl. SG Marburg, Urt. v. 08.10.2008, S 12 KA 84/08, veröffentlicht bei juris.de, Rd. 55).

II.

Nach § 85 Abs. 4 Satz 7 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (< SGB V >, in der Fassung des GKV-Modernisierungsgesetzes vom 14.11.2003, BGBl. I 2190) sind im Honorarverteilungsvertrag arztgruppenspezifische Grenzwerte festzulegen, bis zu denen die von einer Arztpraxis erbrachten Leistungen mit festen Punktwerten zu vergüten sind (Regelleistungsvolumina). Gemäß § 85 Abs. 4a Satz 1, 2. HS SGB V bestimmt der Bewertungsausschuss u. a. den Inhalt der nach § 85 Abs. 4 Satz 7 zu treffenden Regelungen. Die getroffenen Regelungen sind Bestandteil des Honorarverteilungsvertrages (§ 85 Abs. 4 Satz 10 SGB V).

Der Bewertungsausschuss hat entsprechende Regelungen nach § 85 Abs. 4a SGB V u. a. durch den Beschluss in seiner 93. Sitzung am 29.10.2004 zur Festlegung von Regelleistungsvolumen durch die Kassenärztlichen Vereinigungen gemäß § 85 Abs. 4 SGB V mit Wirkung zum 1. Januar 2005 (Deutsches Ärzteblatt 101, Ausgabe 46 vom 12.11.2004, Seite A-3129) getroffen. Darin bestimmt er, dass Regelleistungsvolumen gemäß § 85 Abs. 4 SGB V arztgruppenspezifische Grenzwerte sind, bis zu denen die von einer Arztpraxis oder einem medizinischen Versorgungszentrum (Arzt-Abrechnungsnummer) im jeweiligen Kalendervierteljahr (Quartal) erbrachten ärztlichen Leistungen mit einem von den Vertragspartnern des Honorarverteilungsvertrages (ggf. jeweils) vereinbarten, festen Punktwert (Regelleistungspunktwert) zu vergüten sind. Für den Fall der Überschreitung der Regelleistungsvolumen ist vorzusehen, dass die das Regelleistungsvolumen überschreitende Leistungsmenge mit abgestaffelten Punktwerten (Restpunktwerten) zu vergüten ist (Teil III Ziff. 2.1 Abs. 2 des Beschlusses vom 29.10.2004). Die Höhe des Regelleistungsvolumens einer Arztpraxis ergibt sich für die in Anlage 1 des Beschlusses benannten Arztgruppen aus der Multiplikation der zum jeweiligen Zeitpunkt gültigen KV-bezogenen arztgruppenspezifischen Fallpunktzahl und der Fallzahl der Arztpraxis im aktuellen Abrechnungsquartal (Teil III Ziff. 3.1 Abs. 2).

Mit Beschluss in seiner 139. Sitzung änderte der Bewertungsausschuss den Beschluss vom 29.10.2004 mit Wirkung zum 01.01.2008. Teil III Ziff. 3.1 Abs. 3 des Beschlusses vom 29.10.2004 wurde dahingehend neugefasst, dass im Honorarverteilungsvertrag (HVM) Anpassungen des Regelleistungsvolumens insbesondere unter Berücksichtigung der Neufassung des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes (EBM) zum 01.01.2008 vorzunehmen sind (Teil A Ziff. 2.10 des Beschlusses der 139. Sitzung). Die Vorgaben des Bewertungsausschusses zur Anpassung der Regelleistungsvolumen und des diesbezüglichen Punktwertes gemäß Anlage 3 seien zu beachten. In dieser Anlage 3 (Teil A Ziff. 4 des Beschlusses der 139. Sitzung) gibt der Bewertungsausschuss den Partnern der Honorarverteilungsverträge ein bestimmtes Verfahren zur Feststellung und ggf. Anpassung eines infolge der EBM-Novellierung geänderten arztgruppenspezifischen Punktzahlvolumens vor.

Der für das Quartal I/2008 gültige HVM der Beklagten sah in § 4 die Bildung sogenannter Punktzahlgrenzvolumen vor, die sich aus der Multiplikation der in Anlage 2 festgelegten arztgruppenspezifischen Fallpunktzahl und der nach Anwendung der Fallzahlzuwachsbegrenzungsregelung gemäß § 3 HVM anerkannten Fallzahl der Arztpraxis im aktuellen Abrechnungsquartal errechneten. In § 4, Ziff. 3 HVM war geregelt, dass sich die Berechnung der arztgruppenspezifischen Fallpunktzahl nach der Zugehörigkeit zu einer Arztgruppe gemäß Anlage 2 und den Berechnungsvorgaben des Bewertungsausschusses zur Festlegung von Regelleistungsvolumen in der jeweils gültigen Fassung richte.

Damit genügte der HVM der Beklagten grundsätzlich der gesetzlichen Vorgabe, dass arztgruppenspezifische Grenzwerte festzulegen seien (§ 85 Abs. 4 Satz 7 SGB V). Denn dies muss nicht als arztgruppen"einheitliche" Festlegung ausgelegt werden in dem Sinne, dass der gesamten Arztgruppe dieselben Regelleistungsvolumen zugewiesen werden müssten. Vielmehr kann dem Erfordernis arztgruppenspezifischer Grenzwerte auch eine Regelung genügen, die eine arztgruppeneinheitliche Festlegung nur bei den Fallpunktzahlen vorgibt, dann deren Multiplikation mit den individuellen Behandlungsfallzahlen vorsieht und so zu praxisindividuellen Grenzwerten führt (BSG, Urt. v. 17.03.2010, B 6 KA 43/08 R, veröffentlicht bei juris.de).

Bei der Bildung der arztgruppenspezifischen Fallpunktzahl sind die Vertragspartner des HVM allerdings an die Vorgaben des Bewertungsausschusses gebunden. Denn nach § 85 Abs. 4a Satz 1, 2. HS SGB V bestimmt der Bewertungsausschuss den Inhalt der nach § 85 Abs. 4 Satz 7 zu treffenden Regelungen, also auch die Festlegung arztgruppenspezifischer Grenzwerte. Im Beschluss vom 29.10.2004 in der Fassung des Änderungsbeschlusses der 139. Sitzung hat der Bewertungsausschuss mit Wirkung zum 01.01.2008 konkrete Vorgaben zur Ermittlung der Fallpunktzahlen gemacht. Aus dem Rundschreiben der Beklagten vom 25.03.2008 ergibt sich jedoch, dass - entgegen der Vorgaben des Bewertungsausschusses im Beschluss der 139. Sitzung - die Anpassung der Punktzahlvolumen an den EBM 2008 erst zum Quartal II/2008 erfolgte. Die Vertragspartner sind jedoch an die Vorgaben des Bewertungsausschusses gebunden (BSG, Urt. v. 03.02.2010, B 6 KA 31/08 R, juris Rd. 21; Urt. v. 18.08.2010, B 6 KA 28/09 R). Die getroffenen Regelungen sind Bestandteil des Honorarverteilungsvertrages (§ 85 Abs. 4 Satz 10 SGB V).

Der Umsetzung der Regelung zur Anpassung der Punktzahlvolumen an die Änderungen im EBM 2008 standen auch keine tatsächlichen Hindernisse entgegen. Wie dem Rundschreiben vom 25.03.2008 entnommen werden kann lagen der Beklagten die Daten zur Transcodierung vor. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt sogar bereits die Änderungen der Punktzahlvolumen errechnet, die ab dem Quartal II/2008 zum Ansatz kommen sollten. Einer Anwendung dieser erhöhten Punktzahlvolumen auf die Abrechnungen des ersten Quartals 2008, die am 25.03.2008 noch ausstand, standen demnach keine praktischen Umsetzungsschwierigkeiten entgegen. Die Beklagte hatte sich vielmehr (im Einvernehmen mit den Kassenverbänden) bewusst gegen eine Umsetzung des Beschlusses des Bewertungsausschusses entschieden. Damit aber verstößt der HVM für das Quartal I/2008 in Bezug auf die arztgruppenspezifischen Fallpunktzahlen gegen zwingendes Recht. Die Regelungen sind daher entsprechend der allgemeinen Grundsätze der Normengeltung und -hierarchie rechtswidrig und somit unwirksam. Die Beklagte war mithin insoweit zur Neubescheidung unter Zugrundelegung gemäß den Vorgaben des Bewertungsausschusses im Beschluss der 139. Sitzung errechneter Fallpunktzahlen zu verurteilen.

Die Beklagte hat es dagegen zu Recht abgelehnt, eine (weitere) individuelle Erweiterung der Fallpunktzahl des Klägers vorzunehmen.

§ 4 Ziff. 2 des HVM sieht die Möglichkeit von Anpassungen des Punktzahlgrenzvolumens zur Sicherstellung einer ausreichenden medizinischen Versorgung durch den Vorstand der Beklagten vor. Mit dem Vorstandsbeschluss vom 13.02.2008 berücksichtigte die Beklagte in Umsetzung dieser Ermächtigung individuelle Anpassungen der Fallpunktzahl zur Sicherstellung einer ausreichenden medizinischen Versorgung. Danach anerkannte die Beklagte einen Praxisschwerpunkt sowie den Nachweis einer Spezialisierung in Fällen, in denen auf der Basis der Werte der Quartale I/2006 bis IV/2006 ein mindestens 20%iger Anteil des beantragten Leistungsbereichs am budgetrelevanten Leistungsbedarfs zu verzeichnen war und eine Überschreitung des Scheinwertes in Punkten im beantragten Leistungsbereich um 30 % gegenüber dem durchschnittlichen Fachgruppenwert vorlag. Allerdings gewährte sie nur dann einen Aufschlag, wenn der Praxiswert - errechnet aus den individuellen Fallpunktzahlen des Jahres 2006 multipliziert mit dem Faktor 0,8 - höher ausfiel als der entsprechende Fachgruppenwert. Die Höhe des Aufschlags ermittelte die Beklagte anhand des Mehrbedarfs gegenüber der Fachgruppe, multipliziert mit dem Faktor 0,8. Als Obergrenze setzte sie die Differenz aus dem Vergleich des ermittelten Praxiswertes mit dem entsprechenden Fachgruppenwert fest.

Diese Regelung ist grundsätzlich nicht zu beanstanden. Der Bewertungsausschuss macht keine Vorgaben, unter welchen konkreten Voraussetzungen und in welchem Umfang in Ausnahmefällen Erhöhungen der Fallpunktzahl erfolgen können. Wann ein Ausnahmefall aus Gründen der Sicherstellung der ärztlichen und psychotherapeutischen Versorgung vorliegt, wird weder im HVV noch im Beschluss des Bewertungsausschusses noch in den gesetzlichen Regelungen bestimmt und ist daher durch Auslegung zu konkretisieren.

Das Bundessozialgericht hat bereits zur Auslegung des Begriffs "besonderer Versorgungsbedarf" im Rahmen der Erweiterung von Praxis- und Zusatzbudgets gemäß Nr. 4.3 der Allgemeinen Bestimmungen A I Teil B EBM 96 entschieden, dass der besondere Versorgungsbedarf eine im Leistungsangebot der Praxis tatsächlich zum Ausdruck kommende Spezialisierung und eine von der Typik der Arztgruppe abweichende Praxisausrichtung voraussetze, die messbaren Einfluss auf den Anteil der im Spezialisierungsbereich abgerechneten Punkte im Verhältnis zur Gesamtpunktzahl der Praxis habe. Dies erfordere vom Leistungsvolumen her, dass bei dem Arzt das durchschnittliche Punktzahlvolumen je Patient in dem vom Budget erfassten Bereich die Budgetgrenze übersteige und zudem, dass bei ihm im Verhältnis zum Fachgruppendurchschnitt eine signifikant überdurchschnittliche Leistungshäufigkeit vorliegt, die zwar allein noch nicht ausreiche, aber immerhin ein Indiz für eine entsprechende Spezialisierung darstelle (vgl. zuletzt BSG, Urt. v. 22.03.2006, B 6 KA 80/04 R, SozR 4-2500 § 87 Nr. 12, m. w. N.). Zu Erweiterungen der Zusatzbudgets nach den Allgemeinen Bestimmungen A I Teil B Nr. 4.3 EBM 96 hat das Bundessozialgericht ebenfalls entschieden, dies setze voraus, dass im Leistungsangebot der betroffenen Praxis eine Spezialisierung und eine von der Typik der Arztgruppe abweichende Ausrichtung zum Ausdruck komme, die messbaren Einfluss auf den Anteil der auf den Spezialisierungsbereich entfallenden abgerechneten Punkte auf die Gesamtpunktzahl der Praxis habe. Dies erfordere vom Leistungsvolumen her, dass bei dem Arzt das durchschnittliche Punktzahlvolumen je Patient in dem vom Budget erfassten Bereich die Budgetgrenze übersteige und zudem, dass bei ihm im Verhältnis zum Fachgruppendurchschnitt eine signifikant überdurchschnittliche Leistungshäufigkeit vorliegt, die zwar allein noch nicht ausreiche, aber immerhin ein Indiz für eine entsprechende Spezialisierung darstelle (vgl. BSG, Urt. v. 02.04.2003, B 6 KA 48/02, SozR 4-2500 § 87 Nr. 1; BSG, Urt. v. 02.04.2003, B 6 KA 48/02 R, SozR 3-2500 § 87 Nr. 31; zuletzt BSG, Urt. v. 22.03.2006, B 6 KA 80/04 R, SozR 4-2500 § 87 Nr. 12, juris Rd. 15 m. w. N.).

Im vorliegenden Fall liegen unstreitig sowohl ein Praxisschwerpunkt sowie der Nachweis einer Spezialisierung im Bereich chirotherapeutischer Leistungen vor. Eine Erhöhung der Fallpunktzahl scheitert vorliegend jedoch daran, dass die besondere Ausrichtung der klägerischen Praxis keinen Niederschlag im Praxiswert findet. Dies aber ist Voraussetzung für die Feststellung eines Mehrbedarfs. Denn die individuellen Aufschläge auf die Fallpunktzahlen sollen nach dem Vorstandsbeschluss der Beklagten im Sinne einer ergänzenden Feinsteuerung ein spezielles tatsächliches Leistungsgeschehen widerspiegeln, durch das sich die jeweilige Praxis schon in der Vergangenheit - namentlich in den Bezugsquartalen I/2006 bis IV/2006 - ausgezeichnet hat. Eine solche Feinsteuerung ist vorliegend nicht erforderlich.

Die arztgruppenspezifische Fallpunktzahl im Punktzahlgrenzvolumen des Klägers für 2008 zzgl. der gewährten Aufschläge nach Anlage 3 des HVM beträgt je nach Altersgruppe 948, 868 bzw. 945 Punkte. Hieraus errechnet sich unter Zugrundelegung der Fallzahlen der jeweiligen Altersgruppe aus dem Jahr 2006 eine durchschnittliche Fallpunktzahl von 885 Punkte. Unter Ansatz der Fallzahlen der jeweiligen Altersgruppe aus dem Jahr 2007 errechnet sich eine durchschnittliche Fallpunktzahl von 886 Punkten:

Altersgruppe IAltersgruppe IIAltersgruppe IIISumme I/06 0 707 190 II/06 2 800 231 III/069 782 201 IV/06 4 721 213 Summe 15 3.010 835 3.860 Fallpunktzahl HVM 08 948 868 945 Fiktives PZV14.2202.612.680789.0753.415.975Ø-Fallpunktzahl 885 Altersgruppe IAltersgruppe IIAltersgruppe IIISumme I/07 5 762 221 II/07 4 622 194 III/070 653 208 IV/07 1 688 222 Summe 10 2.725 845 3.580 Fallpunktzahl HVM 08948 868 945 Fiktives PZV9.480 2.365.300798.5253.173.305Ø-Fallpunktzahl 886

Die durchschnittlichen individuellen Fallpunktzahlen des Klägers im Vergleichszeitraum (errechnet aus dem angeforderten PZGV-relevanten Leistungsbedarf und der Anzahl der Fälle) lagen abzüglich eines 20%igen Abschlags jedoch unter diesen Werten, im Jahr 2006 bei 685,5 Punkten und im Jahr 2007 bei 724 Punkten:

I/06 II/06 III/06IV/06 Summe Fälle 897 1033 992 938 3.860 AngefordertesPunktzahlvolumen 799.065882.275789.450831.8653.302.655Fallpunktzahl890,82854,1 795,8 886,8 856,88 - 20 %= 686 I/07 II/07 III/07IV/07 Summe Fälle 988 820 861 911 3.580 AngefordertesPunktzahlvolumen1.011.255683.885725.025838.4253.258.590Fallpunktzahl1.023,5834 842,1 920,3 904,98 - 20 %= 724

Ein Vergleich der Zahlen zeigt, dass die individuellen Fallpunktzahlen der Vergleichszeiträume jeweils unter der für 2008 gewährten Fallpunktzahl liegen, so dass sich ein Mehrbedarf der klägerischen Praxis nicht ergibt. Ein Mehrbedarf könnte nur dann errechnet werden, wenn kein 20%iger Abschlag vorgenommen würde und die Vergleichszahlen aus 2007 maßgeblich wären, da nur die durchschnittliche individuelle Fallpunkzahl des Jahres 2007 ohne Abschlag mit (gerundet) 905 Punkten über der für das Jahr 2008 maßgeblichen (durchschnittlichen) Fallpunktzahl liegt. Der Ansatz des Faktors 0,8 ist indes nicht zu beanstanden. Denn auch die arztgruppenspezifischen Fallpunktzahlen werden nach Anlage 2 zum Teil III des Beschlusses des Bewertungsausschusses vom 29.10.2004 (anwendbar im Jahr 2008 über den Beschluss in der 139. Sitzung) auf einer 80 %-Grundlage errechnet, was dem Ausgleich anderer Regelungen, Stützungsmaßnahmen und von der Rechtsprechung geschütztem Wachstum sog. junger oder kleinen Praxen geschuldet ist. Überschreitungswerte in diesem Umfang sind der Berechnung mithin bereits immanent, so dass insoweit Erhöhungen nicht zu erfolgen haben (vgl. SG Marburg, Urt. v. 20.01.2010, S 11 KA 225/08, juris.de Rd. 63).

Dabei ist nicht zu beanstanden, dass die Beklagte in Ausübung ihres Ermessens die Gesamtpunktzahl in die Betrachtung mit einbezieht und nicht isoliert den Praxiswert bezogen auf die chirotherapeutischen Leistungen bewertet, was zur Folge hat, dass Überschreitungen des Punktzahlvolumens im Spezialisierungsbereich mit einem ggf. nicht ausgeschöpften Punktzahlvolumen im arztgruppenspezifischen Leistungsbereich verrechnet bzw. kompensiert werden. Die arztgruppenspezifischen Fallpunktzahlen als Element der vom Bewertungsausschuss vorgegebenen Regelleistungsvolumen sollen den Anreiz zur Ausweitung der Leistungsmenge nehmen und dadurch eine Stabilisierung des Punktwertes bewirken. Regelleistungsvolumen dienen der Kalkulationssicherheit bei der Vergütung der vertragsärztlichen Leistungen. Die Gewährung individueller Aufschläge auf die Fallpunktzahlen darf der Erreichung dieses Ziels nicht zuwiderlaufen. Vor diesem Hintergrund ist es zulässig, die einzelnen (Spezialisierungs-)/Leistungsbereiche nicht isoliert, sondern im Zusammenspiel mit den übrigen Leistungsbereichen der Praxis zu betrachten.

Soweit der Kläger einen Gleichheitsverstoß darin zu erkennen vermag, dass der Aufschlag nach Anlage III des HVM für chirotherapeutische Leistungen der Orthopäden über doppelt so hoch liegt als bei Chirurgen, kann dem nicht gefolgt werden. Denn der Unterschied resultiert allein daraus, dass die Chirurgen in dem für die Berechnung maßgeblichen Vergleichszeitraum weniger chirotherapeutische Leistungen abgerechnet haben. Die Höhe der Aufschläge wird genauso wie die arztgruppenspezifischen Fallzahlen nach den Vorgaben des Bewertungsausschusses berechnet (§ 4 Ziff. 2 Abs. 3 HVM). Sie stehen der Höhe nach nicht zur Disposition der HVM-Vertragspartner. Zudem übersieht der Kläger, dass er als Chirurg im Gegenzug von den im Vergleich zu den Orthopäden deutlich höheren arztgruppenspezifischen Fallpunktzahlen nach Anlage 2 des HVM profitiert.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung. Die Quote entspricht dem teilweisen Obsiegen und Unterliegen der Beteiligten.