OLG Stuttgart, Beschluss vom 08.11.2011 - 4 Ws 247/11
Fundstelle
openJur 2012, 67539
  • Rkr:

Ist der Angeklagte einer gefährlichen Körperverletzung hinreichend verdächtig und ist die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung wegen eines tateinheitlichen begangenen versuchten Tötungsdelikts ungefähr gleich groß wie die Wahrscheinlichkeit eines strafbefreienden Rücktritts hiervon, ist das Hauptverfahren statt vor dem Amtsgericht vor der Schwurgerichtskammer zu eröffnen (im Anschluss an OLG Stuttgart Justiz 2011, 218).

Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird der Beschluss des Landgerichts - Schwurgerichtskammer - Tübingen vom 26. September 2011 aufgehoben.

2. Die Anklage der Staatsanwaltschaft Tübingen vom 19. November 2010 wird unverändert zur Hauptverhandlung zugelassen.

3. Das Hauptverfahren wird vor dem Landgericht - Schwurgerichtskammer - Tübingen eröffnet.

4. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Angeklagte.

Gründe

I.

Gegen den Angeklagten hat die Staatsanwaltschaft Tübingen am 19. November 2010 Anklage zum Landgericht - Schwurgerichtskammer - wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung erhoben. Ihm wird zur Last gelegt, am ... gegen ... Uhr im Aufenthaltsraum der Fa. ... seine Ex-Freundin angegriffen zu haben, indem er mit seiner rechten Hand ihren Hals umfasste und mit seinen Fingern im Bereich ihres Kehlkopfs kraftvoll zudrückte, wobei er sie zugleich rücklings auf einen Tisch drückte. Unmittelbar vor seinem Angriff habe er erklärt: Wenn Du nicht mir gehörst, gehörst Du keinem mehr. Ich bring Dich jetzt um. Er habe der Geschädigten eine Abreibung verpassen und sie hierzu nötigenfalls töten wollen. Arbeitskolleginnen seien jedoch auf das Geschehen im Aufenthaltsraum aufmerksam geworden. Die Zeugin ... sei hinzugeeilt und habe den Angeklagten aufgefordert, die Geschädigte loszulassen, woraufhin dieser jedoch - mit den Worten Das hast du verdient, Mädchen! - den Hals der ... nur umso fester zugedrückt habe. Erst als die Zeugin ... den Angeklagten nochmals angeschrien und ihn von der Geschädigten weggezogen habe, habe der Angeklagte von dieser abgelassen.

Durch den angefochtenen Beschluss hat die Schwurgerichtskammer die Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen, die Tat allerdings - abweichend von der Anklageschrift - lediglich als gefährliche Körperverletzung gewürdigt und das Hauptverfahren deshalb vor dem Amtsgericht - Strafrichter - ... eröffnet. Mit ihrer sofortigen Beschwerde erstrebt die Staatsanwaltschaft Tübingen die Eröffnung des Hauptverfahrens vor der Schwurgerichtskammer unter unveränderter Zulassung der Anklage.II.

Das nach § 210 Abs. 2 Alt. 2 StPO statthafte und zulässig erhobene Rechtsmittel hat Erfolg. Das Hauptverfahren war unter unveränderter Zulassung der Anklage vor dem Schwurgericht zu eröffnen, da entgegen der Auffassung des Landgerichts hinreichender Tatverdacht auch hinsichtlich eines tateinheitlich begangenen versuchten Tötungsdelikts besteht.

1) Hinreichender Tatverdacht im Sinne des § 203 StPO liegt immer dann vor, wenn nach vorläufiger Würdigung die Wahrscheinlichkeit einer späteren Verurteilung in der Hauptverhandlung höher ist als die Wahrscheinlichkeit eines Freispruchs (OLG Nürnberg NJW 2010, 3793; Schneider in KK StPO, 6. Aufl. § 203 Rn 4). Dementsprechend hat das Landgericht den hinreichenden Tatverdacht einer gefährlichen Körperverletzung zutreffend bejaht. Aus den in der Anklage dargestellten Gründen ist die Verurteilung des Angeklagten jedenfalls insoweit überwiegend wahrscheinlich. Es kann deshalb dahinstehen, ob und unter welchen Voraussetzungen das Beschwerdegericht befugt ist, auf das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft die gesamte Eröffnungsentscheidung ohne Beschränkung auf die geltend gemachten Beschwerdepunkte zu überprüfen und ggfs. zugunsten des Angeklagten abzuändern (vgl. BayObLG NJW 1987, 511).

2) Vom Erfordernis einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit der Verurteilung kann in Ausnahmefällen abgesehen werden; dann kann eine offene Beweislage genügen. So nimmt die Rechtsprechung hinreichenden Tatverdacht auch dann an, wenn es bei ungefähr gleicher Wahrscheinlichkeit von Verurteilung und Nichtverurteilung notwendig erscheint, die besonderen Erkenntnismittel der Hauptverhandlung in Anspruch zu nehmen, etwa in Konstellationen von Aussage gegen Aussage, bei denen es zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit einander widersprechender Angaben auch auf den persönlichen Eindruck des erkennenden Gerichts von den Beweispersonen ankommen kann. Denn diffizile Beweiswürdigungsfragen dürfen nicht im Wege einer nicht-unmittelbaren vorläufigen Tatbewertung des über die Eröffnung entscheidenden Gerichts womöglich endgültig - § 211 StPO - entschieden werden (OLG Stuttgart Justiz 2011, 218).

Entsprechendes gilt dann, wenn die Beweislage hinsichtlich eines bestimmten Delikts offen ist und von der Beurteilung dieser Beweislage nicht die Frage abhängt, ob überhaupt eine Hauptverhandlung stattfindet, sondern nur die Frage, welches Gericht sachlich zuständig ist. In diesen Fällen ist das Hauptverfahren vor dem Gericht höherer Ordnung zu eröffnen, wenn andernfalls die Gefahr bestünde, dass das Gericht niedrigerer Ordnung in der Hauptverhandlung die Beweise anders würdigt als in der Eröffnungsentscheidung und das Verfahren mangels eigener sachlicher Zuständigkeit nach § 270 Abs. 1 Satz 1 StPO verweisen muss. Denn aus Gründen der Beschleunigung des Verfahrens verbietet es sich, ein solches Hin- und Herschieben des Verfahrens zu riskieren; auch im Interesse der besseren Sachaufklärung ist dies tunlichst zu vermeiden.

Nach diesen Maßstäben besteht hier auch der hinreichende Tatverdacht eines versuchten Tötungsdelikts.

a) Der hinreichende Verdacht auf ein Handeln mit Tötungsvorsatz ergibt sich aus der Gefährlichkeit des Angriffs. Auch das Landgericht hat dies nicht in Abrede gestellt. Die von der Zeugin ... beschriebenen Tatfolgen deuten darauf hin, dass der Angeklagte die Zeugin kraftvoll gewürgt hat. Nach Einschätzung des telefonisch gehörten medizinischen Sachverständigen ist davon auszugehen, dass er sie dadurch in konkrete Lebensgefahr gebracht hat.

b) Das Landgericht hat den hinreichenden Tatverdacht eines versuchten Mordes deshalb verneint, weil der Angeklagte vom unbeendeten Versuch durch freiwillige Aufgabe der weiteren Tatausführung gem. § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 StGB strafbefreiend zurückgetreten sei. Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Angeklagte habe bei seinem Angriff auf die Zeugin nicht auf Heimlichkeit Wert gelegt. Deshalb sei er auch von dem Hinzukommen der Zeugin ... unbeeindruckt gewesen; er habe sogar noch fester zugedrückt. Unabhängig davon, ob die Zeugin ... dem Angeklagten am Schluss noch einen Schubs gegeben habe oder ob er ohne körperliche Berührung der Zeugin ... von der Geschädigten abgelassen habe, werde deutlich, dass er nicht gegen seinen Willen von der Geschädigten getrennt worden sei. Seine abschließende Bemerkung Das hast du verdient, Mädchen! deute darauf hin, dass er gemeint habe, die Geschädigte damit in ausreichender Weise bestraft zu haben, zumal er keinerlei Anstalten gemacht habe, sie erneut körperlich zu attackieren oder die Flucht zu ergreifen.

c) Zutreffend geht das Landgericht zwar davon aus, dass es sich um einen unbeendeten Versuch handelte, da der Angeklagte, als er von der Geschädigten abließ, nicht verkannt haben wird, dass er die Geschädigte noch nicht tödlich verletzt hatte. Ebenso wenig ist die Annahme des Landgerichts zu beanstanden, dass das Erscheinen Dritter und die damit verbundene Entdeckung der Tat sowie das Einschreiten Dritter einen strafbefreienden Rücktritt nicht zwangsläufig ausschließen (vgl. BGH NStZ-RR 2008, 335, 336; NStZ 2007, 399, 400; 1988, 69). Vielmehr ist nach der Rechtsprechung des BGH allein auf das Vorstellungbild des Angeklagten nach Abschluss seiner letzten Ausführungshandlung abzustellen; nimmt der Täter zu diesem Zeitpunkt an, den Taterfolg mit den bereits eingesetzten oder anderen zur Hand liegenden Mitteln nicht mehr ohne zeitliche Zäsur herbeiführen zu können, ist der Versuch fehlgeschlagen. Für einen Rücktritt ist dann kein Raum mehr (BGH NStZ 2007, 399). Dies setzt eine sorgfältige Würdigung aller Umstände des Einzelfalls voraus.

d) Vor diesem Hintergrund stellt sich die Würdigung des Landgerichts zwar als eine mögliche Interpretation des Tatgeschehens dar; sie ist aber nicht etwa überwiegend wahrscheinlich. Ein strafbefreiender Rücktritt liegt keineswegs so nahe, dass er hier der Annahme eines hinreichenden Tatverdachts hinsichtlich eines versuchten Tötungsdelikts entgegenstünde. Vielmehr kommt ebenso gut ein fehlgeschlagener Versuch in Betracht.

aa) Der Angeklagte beendete seinen Angriff auf die Zeugin ..., nachdem die Zeugin ... im Aufenthaltsraum erschienen war und ihn aufgefordert hatte, die Zeugin ... loszulassen. Durch das Erscheinen der Zeugin ... war seine Tat mithin nicht nur entdeckt; vielmehr mischte sich die Zeugin ein und ergriff zugunsten der Geschädigten jedenfalls verbal Partei. Nach Angaben der Zeugin ... scheute sie sich auch nicht vor einem körperlich wirkenden Eingreifen. Nach ihrer Darstellung ließ der Angeklagte von der Zeugin erst ab, als ihn weggeschubst hatte (Bl. 110 d. A.). Dies kann ein wesentliches Indiz für die Annahme eines fehlgeschlagenen Versuchs sein. Angesichts des entschlossenen Dazwischengehens der Zeugin liegt es jedenfalls nicht gerade nahe, dass der Angeklagte zu diesem Zeitpunkt noch immer davon ausging, er könnte seine Tat in dieser Situation, in der sich ein Dritter seinem Vorhaben entgegenstellte, mit bloßen Händen noch vollenden.

bb) Nichts anderes ergibt sich aus der Schilderung der Geschädigten, nach der die Zeugin ... den Angeklagten zunächst anschrie, dann zum Eingang des Aufenthaltsraums zurücklief, dort um Hilfe rief und der Angeklagte daraufhin von ihr - der Geschädigten - abließ. Zum einen wird diese Schilderung durch das übrige Ermittlungsergebnis nicht gestützt. So bekundete die Zeugin ... (Bl. 124 ff d.A.), sich mit der Zeugin ... in dem vor dem Aufenthaltsraum befindlichen Gang aufgehalten zu haben, als sie die Geschädigte schreien gehört hätten und deshalb in den Aufenthaltsraum gelaufen seien. Die Zeugin ... sei die Erste gewesen, die diesen Raum betreten hätte; sie selbst sei vier oder fünf Sekunden später eingetroffen; zu diesem Zeitpunkt seien die Geschädigte und der Angeklagte bereits voneinander getrennt gewesen. Dass die Zeugin am Eingang gestanden oder gar um Hilfe geschrien hätte, berichtet sie nicht. Zum anderen liegt auch unter Zugrundelegung der Schilderung der Geschädigten ein fehlgeschlagener Versuch nicht fern. So kommt in Betracht, dass der Angeklagte das baldige Erscheinen weiterer hilfsbereiter Personen erwartete und die Vollendung der Tat deshalb für aussichtslos hielt.

cc) Schließlich ist die Deutung der abschließenden Bemerkung des Angeklagten Das hast du verdient, Mädchen! zwar nicht fernliegend. Das Landgericht hat jedoch nicht in den Blick genommen, dass der Angeklagte wenige Tage später in einem Telefonat mit der Geschädigten erklärte, da er das mit dem Umbringen bei ihr nicht geschafft habe, werde er es nun bei ihren Kindern (Geschwistern) versuchen. Diese Äußerung könnte dafür sprechen, dass der Angeklagte selbst seinen Versuch jedenfalls im Nachhinein als fehlgeschlagen bewertete.

e) Da die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung wegen eines tateinheitlich begangenen versuchten Tötungsdelikts nach alledem jedenfalls nicht geringer ist als eine Verurteilung lediglich wegen gefährlicher Körperverletzung war das Hauptverfahren vor dem Schwurgericht zu eröffnen. Hierfür spricht nicht zuletzt, dass die entscheidungserheblichen Beweiswürdigungsfragen diffizil sind. Es geht um die Klärung innerer Vorgänge beim Angeklagten. Da dieser die Tat insgesamt bestreitet, wird seine Einlassung zur Aufklärung der Frage, welche Vorstellungen er sich zum maßgeblichen Zeitpunkt machte und aus welchen Motiven er handelte, wenig beitragen können. Vielmehr wird maßgeblich sein, welche Rückschlüsse aus dem äußeren Tatgeschehen gezogen werden können. Diese Entscheidung kann von zahlreichen Details abhängen, etwa von der Kraft, welche die Zeugin beim Wegschubsen aufwenden musste, möglicherweise aber auch von ihrer Persönlichkeit, der Art ihres Auftretens und den räumlichen Verhältnissen. Die erforderliche Gesamtwürdigung wird der Urteilsberatung überlassen bleiben müssen.

3) Soweit die Staatsanwaltschaft in der Anklage der Auffassung ist, der Angeklagte habe aus niedrigen Beweggründen im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB gehandelt, kann sich der Senat dem nicht verschließen.