AG Nürtingen, Beschluss vom 10.11.2011 - 11 XIV 80/11
Fundstelle
openJur 2012, 67395
  • Rkr:

Behandlungsbedürftige psychisch Kranke, die krankheitsbedingt für sich oder andere gefährlich sind, können nach UBG Baden-Württemberg nur untergebracht, aber nicht gegen ihren Willen behandelt werden.

Tenor

1. Die Unterbringung des Betroffenen in der Klinik N oder in einer anderen anerkannten Einrichtung wird angeordnet.

2. Der Betroffene ist spätestens zum 22. Dezember 2011 aus der Unterbringung zu entlassen.

3. Die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung wird angeordnet.

4. Die Entscheidung ergeht ohne Erhebung von Gerichtsgebühren.

Gründe

I.

Mit dem Unterbringungsantrag vom 09.11.2010 hat die Klinik N die Unterbringung des Betroffenen nach dem Unterbringungsgesetz für Baden-Württemberg beantragt. In dem Antrag ist ausgeführt, der Betroffene sei psychisch krank. Er leide an einer paranoiden Psychose, am ehesten aus dem schizophrenen Formenkreis.

Als Unterbringungsgrund wird Selbst- und Fremdgefährdung geltend gemacht. Das Gericht hat den Betroffenen angehört und im Rahmen der Anhörung ein mündliches Sachverständigengutachten eingeholt. Dabei wurden auch die Mutter des Betroffenen Frau VL und die Lebensgefährtin des Betroffenen, die mit dem Betroffenen einen gemeinsamen Hausstand führt, Frau BK, angehört. Insoweit wird auf die Protokollierung vom 10.11.2011 Bezug genommen.

II.

Gem. § 1 UBG können psychisch Kranke gegen ihren Willen untergebracht werden, wenn sie unterbringungsbedürftig sind. Gem. § 1 Abs. 4 UBG sind unterbringungsbedürftig psychisch Kranke, die infolge ihrer Krankheit ihr Leben oder ihre Gesundheit erheblich gefährden oder eine erhebliche gegenwärtige Gefahr für Rechtsgüter anderer darstellen, sofern die Gefährdung oder die Gefahr nicht auf andere Weise abgewendet werden kann.

Der Betroffene ist psychisch krank.

Der Betroffene wurde bereits im Jahre 2004 mit Beschluss des Amtsgerichts Nürtingen, Aktenzeichen XIV 24/04, vom 11.05.2004 für die Zeit vom 11.05.2004 bis 22.06.2004 nach dem UBG Baden-Württemberg untergebracht.

Auch zum damaligen Zeitpunkt lautete die ärztliche Spezifikation der psychischen Erkrankung des Betroffenen paranoide Psychose.

Dass der Betroffene auch weiterhin psychisch krank ist ergibt sich für das Gericht aufgrund der ärztlichen Feststellungen im Unterbringungsantrag in Verbindung mit dem im Rahmen der Anhörung gewonnenen persönlichen Eindruck sowie aufgrund des mündlichen Sachverständigengutachtens von Frau Dr. J vom 10.11.2011.

Der Betroffene war nach Angaben seiner Angehörigen und auch nach eigenen Angaben seit der Unterbringung im Jahre 2004 ambulant in ärztlicher Behandlung und hat die Symptome seiner Erkrankung mit dem Neuroleptikum Zyprexa behandelt bekommen.

Der Betroffene hat in der Urlaubsabwesenheit seiner ihn behandelnden Ärztin Frau Dr. R ... die ihm zugedachte Medikation ohne Kontakt mit einem Arzt zu halten, abgesetzt. Die Folge war, dass er massiv unruhig war, kaum mehr schlafen konnte und in sich zurückgezogen war. Er legte im häuslichen Bereich und auch bei der Ankunft in der Klinik, die durch seine Angehörigen organisiert wurde, ein mutistisches Verhalten an den Tag. Er fühlte sich durch seine Angehörigen gegängelt, da diese ihn immer wieder beknieten, doch die ihm zugedachte Medikation einzunehmen, was er nicht tat. Dabei kam es nach dem Bericht seiner Angehörigen auch dazu, dass er aus dem Hause, das die Angehörigen vorsorglich abgeschlossen hatten, entwich und unter Nichtbeachtung des Straßenverkehrs die Straße überquerte bzw. überqueren wollte, wobei er auch mit einem Kraftfahrzeug als Fußgänger in Konflikt kam. Er litt in jüngster Zeit an einem diffusen Verfolgungswahn, den er insoweit konkretisierte, als er als Opfer dieser Wahnvorstellungen seine Eltern und seine Lebensgefährtin ausmachte. Der Betroffene weiß zwar abstrakt, dass er an einer psychischen Krankheit leidet. Er hat jedoch kein Krankheitsgefühl. Wie anlässlich der Anhörung deutlich zutage trat, lehnt er nach eigener Beurteilung die weitere Einnahme von Medikamenten ab. Bei der Aufnahme im Krankenhaus hat er ein raptusartiges Verhalten gegenüber seiner Umgebung an den Tag gelegt.

Die Angehörigen des Betroffenen fühlen sich im derzeitigen Umgang mit dem Betroffenen überfordert und wünschen eine Unterbringung und ärztliche Behandlung des Betroffenen. Der Betroffene selbst hat erst am Ende der Anhörung geäußert, dass er bereit sei, sich freiwillig im Krankenhaus aufzuhalten, allerdings wollte er sich nicht behandeln lassen und sein weiteres Verhalten erst nach Rücksprache mit der derzeit im Urlaub weilenden, ihn sonst behandelnden Ärztin, Dr. R festlegen.

Kurz nach der Aufnahme in der Klinik am 08.11.2011 trat er derart angespannt und drängend auf, dass sich die Klinik entschloss, ihn 5-Punkt zu fixieren. Der Betroffene wurde in diesem Zustand auch mit einer intravenösen Gabe des Medikaments Glianimon versorgt. Er hat am Abend des 09.11.2011 nach gutem Zureden auch oral dieses Medikament in zwei Medikamentengaben zu sich genommen.

Im Laufe der Anhörung, die sich über 1 3/4 Stunden erstreckte, taute der Betroffene auf und gab sein mutistisches Verhalten zumindest zeitweise auf. Er war in der Lage, dem Geschehen zu folgen, bestand aber darauf, nicht weiter mediziert zu werden.

Der Betroffene ist nach Auffassung des Gerichts auch unterbringungsbedürftig. Bei ihm liegt sowohl der Unterbringungsgrund der Fremdgefährdung als auch der Unterbringungsgrund der Selbstgefährdung vor. Die Fremdgefährdung und die Selbstgefährdung lassen sich erkennen an dem Auftreten des Betroffenen im Straßenverkehr als Fußgänger, wobei er aufgrund seines psychischen Zustandes das Geschehen auf der Straße nicht berücksichtigt, um von einem Punkt zum anderen zu gelangen. Dabei riskierte der Betroffene eigene Verletzungen und auch massive Schädigungen Dritter.

Ohne den Einfluss der ihm vor Anhörung in der Klinik verabreichten Medikamente kam es im übrigen zu raptusartigem Auftreten nach vorangegangenem mutistischen Verhalten, woraus das Gericht schließt, dass der Betroffene in seinem Zustand keiner ausreichenden Selbststeuerung unterliegt.

Das Geschehen, das der Aufnahme des Betroffenen am 08.11.2011 voranging, und der Zustand des Betroffenen ähneln sehr jenen Umständen, die im Beschluss vom 11.05.2004 zum Aktenzeichen XIV 34/04 beschrieben sind. Auch jetzt meint der Betroffene, er könne an sich und sofort wieder in seine Wohnung zurückkehren und nach einer Entspannungsphase den Alltag aufnehmen. Beim Betroffenen fehlt die anhaltende Krankheitseinsicht.

Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Betroffene, sollte er nicht zur geregelten Einnahme der ihm zugedachten Medikamente zurückkehren, auf Dauer in den für ihn quälenden Zustand der akuten paranoiden Psychose zurückkehrt, die zum Zeitpunkt der Anhörung noch nicht überwunden ist.

Nachdem das Bundesverfassungsgericht im Verfahren - 2 BvR 633/11 - mit Beschluss vom 12.10.2011 § 8 Abs. 2 S. 2 des Baden-Württembergischen Gesetzes über die Unterbringung psychisch Kranker ( UBG ) als mit Artikel 2 Abs. 2 S. 1 Grundgesetz in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz unvereinbar und nichtig erklärt hat, ist allerdings die im Jahre 2004 für zulässig erachtete Behandlung auch gegen den Willen des Betroffenen nicht mehr möglich.

§ 8 Abs. 2 S. 2 UBG lautete:

Der Untergebrachte hat diejenigen Untersuchungs- und Behandlungsmaßnahmen zu dulden, die nach den Regeln der ärztlichen Kunst erforderlich sind, um die Krankheit zu untersuchen und zu behandeln, soweit die Untersuchung oder Behandlung nicht unter Abs. 3 fällt.

Das Bundesverfassungsgericht hat diese Entscheidung getroffen mit der Argumentation, dass die medizinische Zwangsbehandlung des Untergebrachten nach der beanstandeten Vorschrift nicht, wie verfassungsrechtlich geboten, auf die Fälle der krankheitsbedingt fehlenden Einsichtsfähigkeit des Betroffenen begrenzt ist.

Im Fall des hier Betroffenen geht das Gericht nach dem Ergebnis der Anhörung davon aus, dass bei dem Betroffenen aufgrund seiner paranoiden Psychose die Einsichtsfähigkeit in die Notwendigkeit der medizinischen Behandlung fehlt.

Da das Bundesverfassungsgericht jedoch die gänzliche Verfassungswidrigkeit des § 8 Abs. 2 S. 2 UBG Baden-Württemberg festgestellt hat und gleichzeitig bestimmt hat, dass die Voraussetzungen für eine bloße Unvereinbarerklärung nicht vorliegen, geht das Gericht davon aus, dass, solange keine gesetzliche Regelung anstelle der für nichtig erklärten Norm vorliegt, eine Eingriffsermächtigung für eine Zwangsbehandlung des Betroffenen auch gegen seinen Willen fehlt. Das bedeutet (bedauerlicherweise), dass die Klinik gegen den Willen des Betroffenen ihm nach der jetzt geltenden Rechtslage, gestützt auf das UBG, keine Behandlung ohne seine Zustimmung angedeihen lassen darf.

Sollte der Betroffene nicht zur Einsicht kommen und sollte es in der Folgezeit Frau Dr. R auch nicht gelingen, ihn von der Notwendigkeit der Fortführung der Medikation zu überzeugen, ist abzusehen, dass der Zustand des Betroffenen erneut eskaliert und die Unterbringungsbedürftigkeit nicht durch eine Medikamentengabe beseitigt werden kann. Dies führt dazu, dass die Unterbringung sich in einer bloßen Verwahrung des Betroffenen erschöpfen wird.

Aus diesem Grunde sieht das Gericht es für dringend geboten, dass für den Betroffenen eine Betreuung gem. § 1896 ff. BGB angeordnet wird, um die Möglichkeit zu eröffnen, eine Unterbringung gem. § 1906 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 BGB mit richterlicher Genehmigung herbeizuführen.

Das erkennende Gericht entnimmt insbesondere aus dem Wortlaut von § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB, wonach eine Unterbringung des Betreuten durch den Betreuer, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, nur zulässig ist, solange sie zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, weil eine Untersuchung des Gesundheitszustandes, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff notwendig ist, ohne die Unterbringung des Betreuten nicht durchgeführt werden kann und der Betreute aufgrund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit der Unterbringung nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann, gerade die Voraussetzungen erfüllt, die das Bundesverfassungsgericht in § 8 Abs. 2 Satz 2 UBG vermisst hat. Dies bedeutet, um den Betroffenen einer sinnvollen nachhaltigen Heilbehandlung zuzuführen, ist die Anordnung einer rechtlichen Betreuung kaum zu umgehen.

Das Gericht wird daher einen Abdruck des Unterbringungsantrages, des Anhörungsprotokolls und dieses Beschlusses dem für den Wohnsitz des Betroffenen zuständigen Notariat ... zuleiten, mit der Anregung, unverzüglich die für erforderlich gehaltene Betreuung zum Wohle des Betroffenen anzuordnen.

Das Gericht geht davon aus, dass aufgrund der nunmehr geltenden Rechtslage das Notariat ... die Dringlichkeit einer Entscheidung durch das Notariat erkennen kann und innerhalb von 6 Wochen bis zum Ende der mit diesem Beschluss angeordneten Unterbringung das Betreuerbestellungsverfahren durchgeführt hat.

Daher wurde die höchstzulässige Dauer der Unterbringung gem. § 323 Nr. 2 FamFG auf den 22.12.2010 festgesetzt, den Zeitvorstellungen im Unterbringungsantrag folgend.

Gem. § 324 Abs. 2 Satz 1 FamFG wurde die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung angeordnet, bezüglich welcher gem. § 128 b KostO keine Gerichtsgebühren zu erheben sind.

Zitiert0
Referenzen0
Schlagworte