VG Karlsruhe, Beschluss vom 06.09.2011 - A 3 K 2046/11
Fundstelle
openJur 2012, 67207
  • Rkr:

Die Fiktion eines Asylfolgeantrags nach § 20 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG wegen Nichtbefolgung der Weiterleitung an die zuständige Aufnahmeeinrichtung erfordert einen qualifizierten Schuldvorwurf (hier verneint bei einer an Epilepsie und einer Angstpsychose leidenden Irakerin).

Tenor

Der Antragstellerin wird für das vorliegende Verfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt xxx aus xxx bewilligt; es sind keine Raten zu zahlen. Die Beiordnung erfolgt zu den Bedingungen eines am Gerichtsort ansässigen Rechtsanwalts.

Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21.07.2011 wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Gründe

Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe liegen vor (§ 114 Satz 1 ZPO i.V.m. § 166 VwGO). Die Antragstellerin hat durch Vorlage einer entsprechenden Erklärung glaubhaft gemacht, dass sie die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, und ihre Rechtsverfolgung hat hinreichende Aussicht auf Erfolg, wie sich aus den folgenden Ausführungen ergibt.

Der Antrag der am 01.01.1986 in Sinun/Irak geborenen Antragstellerin,

die aufschiebende Wirkung ihrer Klage (A 3 K 2045/11) gegen den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21.07.2011 anzuordnen,

ist zulässig. Ihre Klage entfaltet keine aufschiebende Wirkung. Die Klage gegen Entscheidungen nach dem Asylverfahrensgesetz hat nur in den Fällen des § 38 Abs. 1 und § 73 AsylVfG aufschiebende Wirkung (§ 75 Satz 1 AsylVfG). Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) hat den Asylantrag der Klägerin als Folgeantrag gewertet und den Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens abgelehnt. Dieser Entscheidung basiert auf § 71 Abs. 4 AsylVfG; ein Fall des § 38 AsylVfG liegt dann nicht vor. Der Antrag ist auch fristgerecht gestellt. Der Bescheid des Bundesamts ist der Antragstellerin am 26.07.2011 zugestellt worden; der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1, 1. Alt. VwGO i.V.m. § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG ist am 28.07.2011 bei Gericht eingegangen und damit innerhalb der Frist von einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheids.

Der Antrag ist auch begründet. Das Interesse der Antragstellerin, einstweilen von Vollzugsmaßnahmen aus der Abschiebungsandrohung in dem Bescheid vom 21.07.2011 verschont zu bleiben, überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung dieser Verfügung, da ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheides bestehen (vgl. § 71 Abs. 4 i.V.m. § 36 Abs. 4 AsylVfG).

Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG hat sich ein Ausländer, der den Asylantrag bei einer Außenstelle des Bundesamtes zu stellen hat (§ 14 Abs. 1 AsylVfG), in einer Aufnahmeeinrichtung persönlich zu melden. Diese nimmt ihn auf oder leitet ihn an die für seine Aufnahme zuständige Aufnahmeeinrichtung weiter (§ 22 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG). Nach Maßgabe des § 22 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG ist der Ausländer verpflichtet, der Weiterleitung an die für ihn zuständige Aufnahmeeinrichtung unverzüglich oder bis zu einem ihm von der Aufnahmeeinrichtung genannten Zeitpunkt zu folgen. Kommt der Ausländer der Verpflichtung nach Satz 1 vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nach, so gilt § 20 Abs. 2 und 3 AsylVfG entsprechend (§ 22 Abs. 3 Satz 2 AsylVfG). Gemäß § 22 Abs. 3 Satz 3 AsylVfG ist der Ausländer auf diese Rechtsfolgen schriftlich und gegen Empfangsbekenntnis hinzuweisen. Nach § 20 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG findet für einen später gestellten Asylantrag § 71 AsylVfG entsprechende Anwendung.

Der auf dieser Grundlage beruhende Bescheid des Bundesamts vom 21.07.2011 begegnet nach Auffassung des Gerichts ernstlichen Zweifeln. Denn die Voraussetzungen des 20 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG sind hier wohl nicht erfüllt. Nach Maßgabe dieser Norm gilt § 71 Abs. 4 AsylVfG einschließlich seines ausdrücklichen Rechtsfolgenverweises auf § 36 Abs. 1 AsylVfG und der damit mittelbar einhergehenden Folge der Unanwendbarkeit von § 75 AsylVfG nur dann entsprechend, wenn ein Ausländer nach der Stellung seines Asylgesuchs vorsätzlich oder grob fahrlässig der Verpflichtung, sich bis zu einem von der Behörde genannten Zeitpunkt in der zuständigen Aufnahmeeinrichtung zu melden, nicht nachkommt. Die Anwendung des § 20 Abs. 2 Satz 1 AsylVfG verlangt einen qualifizierten Schuldvorwurf gegenüber dem Ausländer. Dies ergibt sich über den Wortlaut hinaus auch daraus, dass die Vorschrift in ihrer jetzigen Fassung erst im Zuge einer Beschlussempfehlung des Innenausschusses (vgl. BT-Drucksache 14/8395, S. 80) Eingang in das Gesetzgebungsverfahren gefunden hat; zuvor genügte einfache Fahrlässigkeit. Ein qualifizierter Schuldvorwurf ist einem Ausländer jedoch nur dann zu machen, wenn er in grober Achtlosigkeit seine Pflicht aus § 20 Abs. 1 AsylVfG verletzt hat (vgl. VG Magdeburg, Beschl. v. 21.03.2006 - 9 B 129/06.MD -, juris m.w.N.). Gesundheitliche Beeinträchtigungen können diesen Verschuldensvorwurf entfallen lassen, wenn sie von einem solchen Gewicht sind, dass sie der Pflichterfüllung tatsächlich entgegen stehen (vgl. VG Dresden, Beschl. v. 30.07.2010 - A 3 L 352/10 -, juris).

Gemessen an diesen Grundsätzen kann der Antragstellerin vorliegend wohl kein qualifizierter Schuldvorwurf im Sinne einer groben Fahrlässigkeit gemacht werden. Die Antragstellerin hat glaubhaft vorgetragen, dass sie sich im Zeitraum Dezember 2010 bis Januar 2011 bei einem Arzt in xxx bei xxx in ärztlicher Behandlung befand. Dies wird durch ein vorgelegtes ärztliches Attest eines Facharztes für Allgemeinmedizin vom 10.12.2010 bestätigt. Des Weiteren wird darin bescheinigt, dass die Antragstellerin unter einem Krampfanfallleiden (Epilepsie) und einer Angstpsychose leide. Aufgrund dieser Erkrankung sei sie auf Betreuung bzw. Dauerbeaufsichtigung angewiesen. Auch anlässlich ihrer persönlichen Anhörung beim Bundesamt am 14.02.2011 gab die Antragstellerin an, es gehe ihr psychisch nicht gut. Manchmal wache sie auf und dann schlage sie sich selbst und tue sich weh und deshalb sei sie beim Arzt gewesen. Sie habe auch früher schon Anfälle gehabt, aber seit dem Jahr 2010 habe es sich verschlimmert.

Das Gericht verkennt nicht, dass die Schilderungen der Antragstellerin nicht frei von Ungereimtheiten sind. So erklärte sie zunächst, sie kenne die Namen der ihr verschriebenen Medikamente nicht, wohingegen sie sich im weiteren Verlauf der Anhörung dahingehend äußerte, der Arzt habe ihr keine Medikamente gegeben und gesagt, sie müsse zu einem anderen Arzt gehen. Dennoch kann bei der vorliegenden Sachlage wohl nicht davon ausgegangen werden, dass die Antragstellerin ihrer Pflicht nach § 22 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG in grober Achtlosigkeit nicht nachgekommen ist. Denn in Anbetracht der bei der Klägerin diagnostizierten Krankheit der Epilepsie und ihren geschilderten psychischen Beeinträchtigungen dürfte ihr kein qualifizierter Schuldvorwurf dahingehend gemacht werden können, dass sie die erforderliche Sorgfalt in besonderem Maße außer Acht gelassen und einfachste Überlegungen nicht angestellt hat.

Es spricht nach alledem vieles dafür, dass die Antragsgegnerin den bei ihr am 26.01.2011 gestellten Asylantrag als Erstantrag hätte behandeln müssen, weshalb die aufschiebende Wirkung der Klage vom 28.07.2011 anzuordnen war.

Damit ist der Aufenthalt der Antragstellerin bis zum rechtskräftigen Abschluss des Asylverfahrens zu gestatten (§ 55 AsylVfG) und sind aufenthaltsbeendende Maßnahmen derzeit unzulässig.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 AsylVfG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).