BVerfG, Beschluss vom 25.05.2001 - 1 BvR 848/01
Fundstelle
openJur 2012, 24984
  • Rkr:
Tenor

Der Beschluss des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 24. April 2001 - L 4 B 6/01 KA ER - wird bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, ausgesetzt. Es gilt einstweilen der Beschluss des Sozialgerichts Magdeburg vom 9. Februar 2001 - S 17 KA 485/00 ER -.

Das Land Sachsen-Anhalt hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen für das einstweilige Anordnungsverfahren zu erstatten.

Gründe

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betrifft eine für sofort vollziehbar erklärte Entziehung der Zulassung zur vertragszahnärztlichen Tätigkeit. Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat Erfolg.

1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile dringend geboten ist und die Verfassungsbeschwerde nicht offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist. Letzteres ist nicht der Fall. Es wird zu prüfen sein, ob die mittelbar angegriffene Vorschrift des § 44 der Zulassungsordnung für Vertragszahnärzte vom 28. Mai 1957 (BGBl I S. 582) von der Ermächtigung in § 98 Abs. 2 Nr. 3 SGB V gedeckt ist und mit § 97 Abs. 3 Satz 1 SGB V, der ohne Einschränkung auf § 84 Abs. 1 SGG verweist, in Einklang steht.

Bei offenem Ausgang eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 71, 158 <161>; 88, 185 <186>; 91, 252 <257 f.>; stRspr).

2. Wegen der besonderen Eilbedürftigkeit ergeht die Entscheidung ohne Anhörung der Beteiligten. Die Abwägung führt vorliegend zu einem Überwiegen derjenigen Gründe, die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechen, mit der letztlich die Aussetzung der vom Berufungsausschuss angeordneten sofortigen Vollziehung durch das Sozialgericht wieder hergestellt wird.

a) Bliebe die sofortige Vollziehbarkeit der Zulassungsentziehung bestehen, hätte die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg, bestünde die Gefahr, dass die Beschwerdeführerin ihre Praxis schließen müsste. Auch wenn die Beschwerdeführerin neben Kassen- auch Privatpatientinnen und -patienten behandelt, kann ihren Ausführungen entsprechend davon ausgegangen werden, dass die Aufrechterhaltung des Praxisbetriebes von der ihr erteilten Zulassung abhängt. Darüber hinaus ist gegenwärtig nicht absehbar, wann das Hauptsacheverfahren vor dem Sozialgericht entschieden sein wird. Der Nachteil, der der Beschwerdeführerin durch die Schließung ihrer Praxis droht, dürfte kaum wieder gutzumachen sein. Sie verliert mit der Schließung den Patientenstamm und vermutlich auch ihre Praxisräume nebst Einrichtung und unter Umständen ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Sofern sie im Falle des Erfolges der Verfassungsbeschwerde wieder tätig sein wollte, müsste sie ihre Praxis neu aufbauen.

Hätte die Verfassungsbeschwerde keinen Erfolg, hätte die Kassenzahnärztliche Vereinigung noch für eine Weile hinnehmen müssen, dass die Beschwerdeführerin ihre Leistungen im Rahmen der vertragszahnärztlichen Versorgung weiterhin erbringen und abrechnen kann. Auch vor dem Hintergrund, dass der Beschwerdeführerin gravierendes Fehlverhalten im Rahmen der Leistungserbringung und -abrechnung vorgeworfen wird, kann ein längerfristiger Nachteil der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Sachsen-Anhalt nicht angenommen werden. Über die endgültige Aufrechterhaltung der Zulassungsentziehung wird im Hauptsacheverfahren entschieden. Der Kassenzahnärztlichen Vereinigung stehen bis dahin für die Absicherung eventuell befürchteter finanzieller Nachteile Maßnahmen wie zum Beispiel die sachlich-rechnerische Richtigstellung, vorläufige Honorareinbehalte oder ein Antrag auf Überprüfung der Wirtschaftlichkeit der Behandlungsweise zur Verfügung.

b) Im Zuge der Folgenabwägung ist es in Verfahren der vorliegenden Art regelmäßig ausgeschlossen, in eine eigenständige Ermittlung und Würdigung des dem Eilrechtsschutzbegehren zu Grunde liegenden Sachverhalts einzutreten. Dies gilt insbesondere dann, wenn es - wie im vorliegenden Verfahren - aus Zeitgründen ausscheidet, die Zulassungs- und Gerichtsakten beizuziehen sowie Stellungnahmen sämtlicher Beteiligter einzuholen und auszuwerten. In Fällen dieser Art hat das Bundesverfassungsgericht seiner Abwägung in aller Regel die Tatsachenfeststellungen und Tatsachenwürdigungen in den vorliegenden Entscheidungen zu Grunde zu legen (vgl. BVerfGE 34, 211 <216>; 36, 37 <40>). Vorliegend hat das Sozialgericht, das - anders als das Landessozialgericht - eine eigene Folgenabwägung vorgenommen hat, einen sofortigen Vollzug der Entziehung nicht für geboten erachtet. Auch dieses von einem sachnäheren Fachgericht gefundene Ergebnis bestätigt die Einschätzung, dass der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ein überwiegendes öffentliches Interesse nicht entgegen steht.

3. Die Entscheidung über die Erstattung der Auslagen beruht auf § 34 a Abs. 3 BVerfGG.