OLG Stuttgart, Urteil vom 02.03.2010 - 4 Ss 1558/09
Fundstelle
openJur 2012, 63134
  • Rkr:

1. Der Anwendung von Art. 31 Abs. 1 GK steht nicht entgegen, dass der Flüchtling aus einem sicheren Drittstaat nach Deutschland kommt, den er nur als Durchgangsland durchquert hat, sofern dort kein schuldhaft verzögerter Aufenthalt vorgelegen hat. Allerdings sind in einem solchen Fall gesteigerte Anforderungen an die Unverzüglichkeit der Meldung und an die Darlegung der Gründe zu stellen, die die unrechtmäßige Einreise und den unrechtmäßigen Aufenthalt rechtfertigen sollen.

2. Die Inanspruchnahme von Schleusern schließt die Anwendung von Art. 31 Abs. 1 GK nicht grundsätzlich aus.

Tenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Amtsgerichts Tübingen vom 14. Oktober 2009 mit den Feststellungena u f g e h o b e n .

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Tübingenz u r ü c k v e r w i e s e n .

Gründe

I.

1. Das Amtsgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der unerlaubten Einreise und des unerlaubten Aufenthalts aus rechtlichen Gründen freigesprochen. Es hat folgende Feststellungen getroffen:

Am 02. September 2008 reiste der Angeklagte mit Hilfe von Schleusern über die & und & in die Bundesrepublik Deutschland ein und wurde hier am 03. September 2008 gegen 4.36 Uhr von der Polizei an der Bundesautobahn Gemarkung &, aufgegriffen. Er war nicht im Besitz der erforderlichen Reise- oder Aufenthaltsdokumente. Nach seiner nicht widerlegbaren Einlassung sei er zunächst in die & und dann an einen Schleuser, für den sein Vater die Bezahlung aufgebracht habe, mit fünf anderen in einen Lkw gebracht worden, in dem sich sowohl Lebensmittel für die Fahrt als auch Behältnisse für die Notdurft befanden. Er habe während der sechstägigen Fahrt nach Deutschland den Lkw nicht verlassen. Gelegentlich habe der Fahrer angehalten und den Müll weggeworfen. Einen Aufenthalt in einem angrenzenden Land habe er nicht gehabt. Am 05. September 2008 wurde er beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erkennungsdienstlich behandelt und belehrt. Die formale Asylantragstellung erfolgte am 18. September 2008. Seine Anhörung als Asylbewerber fand am 01. Oktober 2008 in & statt.

Auf der Grundlage dieser Feststellungen sei der Angeklagte aus Rechtsgründen freizusprechen. Ihm stehe der Strafausschließungsgrund des Artikel 31 Genfer Flüchtlingskonvention (GK) zu. Seine Einreise nach Deutschland sei unmittelbar im Sinne dieser Bestimmung, da nicht auszuschließen sei, dass er bei seiner Flucht keinen Aufenthalt hatte, der ihm einen Asylantrag in einem anderen sicheren Drittstaat ermöglicht hätte. Unerheblich sei, dass er bei seiner Flucht ein sicheres Drittland lediglich passiert habe. Wie der zeitliche Ablauf zeige, habe er seinen Asylantrag unverzüglich gestellt. Artikel 31 GK sei auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil er sich der Hilfe eines Schleusers bedient habe. Es sei unerheblich, ob sich der Flüchtling auf illegale Weise einen Zugang über den Luftweg verschaffe oder ob er sich der Hilfe eines Schleusers bediene. Dass sich der Schleuser selbst strafbar mache, könne für die Frage der Bestrafung des Flüchtlings keine Rolle spielen.

2. Gegen dieses Urteil hat die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt und die Verletzung sachlichen Rechts gerügt. Das Gericht habe die Reichweite des Strafausschließungsgrundes des Artikel 31 GK i. V. m. § 95 Abs. 5 AufenthG verkannt. Eine Anwendbarkeit des Artikel 31 GK komme nicht in Betracht, wenn sich der Einreisende der Hilfe von Schleppern bediene, da er die zur Einreise geltenden Bestimmungen des Einreiselandes gezielt zu umgehen suche.

Der Angeklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

II.

Das Rechtsmittel hat Erfolg.

Der Freispruch hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.

1. Das Amtsgericht ist, ohne dies ausdrücklich auszuführen, zutreffend davon ausgegangen, dass der Angeklagte den Tatbestand der unerlaubten Einreise in Tateinheit mit unerlaubtem Aufenthalt im Bundesgebiet verwirklicht hat.

Das Asylgrundrecht aus Artikel 16a Abs. 1 GG greift als Rechtfertigungsgrund nicht ein, da die Einreise über &, einem Mitgliedsstaat der Europäischen Gemeinschaft, erfolgte (Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG; § 26a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG). Hierbei genügt die bloße Durchreise durch einen Mitgliedsstaat der Europäischen Union oder einen sicheren Drittstaat, um Asylrechtsschutz auszuschließen (OLG Köln NStZ-RR 2004, 24 m.w.N), und zwar auch dann, wenn der Flüchtling sich auf einer verplombten Ladefläche eines LKW befunden hat (BVerwGE 105, 194).

2. Die Darlegungen im angefochtenen Urteil lassen jedoch nicht den Schluss zu, dass der persönliche Strafausschließungsgrund des Artikel 31 Abs. 1 GK eingreift.

a) Die Anwendung dieser Bestimmung ist nicht dadurch ausgeschlossen, dass die Einreise nach Deutschland aus einem sicheren Drittland (hier & ) & erfolgte. Für diese Ansicht wird zwar angeführt, dass der Ausländer mit Erreichen dieses Staates kein Flüchtling i.S.d. Art. 31 Abs. 1 GK mehr sei (so Senge in Erbs-Kohlhaas, § 95 AufenthG Rn. 67; s. OLG Köln aaO). Dagegen sprechen jedoch der ausdrückliche Hinweis auf Art. 31 Abs. 1 GK in § 95 Abs. 5 AufenthG sowie der Umstand, dass die seit dem 1. Juli 1993 bestehenden verschärften Möglichkeiten der Zurückweisung von Asylanten nach dem Ausländerrecht die Fortgeltung des Art. 31 Abs. 1 GK für die strafrechtliche Beurteilung unberührt gelassen haben (OLG Köln aaO).

Artikel 31 Abs.1 GK macht die Straffreiheit zunächst davon abhängig, dass der Flüchtling unmittelbar aus einem Gebiet kommt, in dem sein Leben oder seine Freiheit bedroht waren. Dies ist auch dann der Fall, wenn er vor der unerlaubten Einreise in das Bundesgebiet das Territorium eines sicheren Drittstaates durchquert, also nur als Durchgangsland berührt hat, solange dort kein schuldhaft verzögerter Aufenthalt vorgelegen hat (OLG Stuttgart, Beschluss vom 22. April 1998 - 1 Ws 62/98, OLG Düsseldorf StV 2009, 138 f).

Weiter muss sich der Flüchtling unverzüglich bei den Behörden melden und die Gründe darlegen, die die unrechtmäßige Einreise oder den unrechtmäßigen Aufenthalt rechtfertigen. Er ist gehalten, mit stichhaltigen Gründen darzulegen, dass ein legaler Grenzübertritt für ihn mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit weiterer politischer Verfolgung verbunden gewesen wäre. Wenn sein Reise- oder Fluchtweg über Drittstaaten geführt hat, hat er mitzuteilen, weshalb er sich nicht schon dort vor Verfolgung sicher fühlte oder aus welchem Grund er weiter in die Bundesrepublik Deutschland gereist ist oder sich hat bringen lassen. Handelt es sich dabei um einen sicheren Drittstaat im Sinne des § 26 a AsylVfG oder um einen Mitgliedsstaat der Europäischen Gemeinschaft, können die Gründe in aller Regel nicht stichhaltig sein (OLG Köln a.a.O.). In diesem Fall ergeben sich auch gesteigerte Anforderungen in Bezug auf das Merkmal der Unverzüglichkeit in Art. 31 Abs. 1 GK; es bedarf eines besonders zeitnahen Nachsuchens um Asyl. Bei Überschreiten der grünen Grenze hat der Flüchtling bereits gegenüber dem festnehmenden Polizeibeamten zum Ausdruck zu bringen, dass er um Asyl nachsucht (s. § 13 Abs. 3 Satz 2 AsylVfG und BayObLGSt 1998, 172). Allerdings muss eine Verständigung trotz eventueller Sprachbarrieren möglich und der Flüchtling dazu physisch und psychisch in der Lage sein.

b) Diesen Vorgaben genügen die Feststellungen des Amtsgerichts nicht.

aa) Im Hinblick auf das Merkmal der Unmittelbarkeit wird im Urteil lediglich ausgeführt, dass der Angeklagte mit Hilfe von Schleusern über die & und & in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sei. Er sei zunächst in die ... und dann an einen Schleuser ... in einen Lkw verbracht worden. Aus den Feststellungen ergibt sich nicht, wie lange er sich in der & aufgehalten hat. Läge ein längerer Zeitraum zwischen der Einreise in die & und der Ausreise aus der & vor, würde die Annahme naheliegen, dass er nicht unmittelbar aus einem Gebiet kam, in dem Leben oder Freiheit bedroht waren, es sei denn, dass er sich auch in der & in einer entsprechenden Bedrohungssituation befunden hätte, worüber das Urteil aber keine Feststellungen enthält.

Im Urteil wird weiter ausgeführt, der Angeklagte habe während der sechstägigen Fahrt nach Deutschland den Lkw nicht verlassen. Das Urteil enthält keine Feststellungen dazu, ob er wusste, sich in einem sicheren Drittland zu befinden, und ob er dort die Möglichkeit hatte, den Lkw zu verlassen. Es wird auch nicht mitgeteilt, wie lange die Fahrt durch & gedauert hat. Hätte er dort den Lkw verlassen können und sich dort längere Zeit aufgehalten, wäre die Einreise nicht mehr unmittelbar gewesen, da dann ein schuldhaft verzögerter Aufenthalt in einem sicheren Drittstaat vorgelegen hätte.

bb) Anhand der Feststellungen des Amtsgerichts kann nicht beurteilt werden, ob sich der Angeklagte unverzüglich i.S.d. Art. 31 Abs. 1 GK bei den Behörden gemeldet hat.

Hätte der Angeklagte in & die Möglichkeit zur Asylantragstellung gehabt und hat er hiervon in vorwerfbarer Weise keinen Gebrauch gemacht, wäre das Asylgesuch - erst im Bundesgebiet gestellt - nicht mehr unverzüglich gewesen. Es hätte dargelegt werden müssen, weshalb er sich nicht schon dort vor Verfolgung sicher gefühlt und um Asyl nachgesucht hat. Er hätte insoweit triftige Gründe vortragen müssen.

Auch in Bezug auf das Geschehen nach erfolgter Einreise in das Bundesgebiet sind die Ausführungen nicht vollständig. Insoweit wird lediglich mitgeteilt, der Angeklagte sei am 03. September 2008 gegen 4.36 Uhr von der Polizei aufgegriffen und am 05. September 2008 beim Bundesamt für Migranten und Flüchtlinge erkennungsdienstlich behandelt und belehrt worden. Die formale Asylantragstellung sei am 18. September 2008 erfolgt. Es wird nicht mitgeteilt, wann und wem gegenüber er erstmals um Asyl nachsuchte und wieso dies nicht bereits an der Grenze geschehen ist.

III.

Für die neue Hauptverhandlung wird auf folgendes hingewiesen:

Nimmt ein Flüchtling Schleuser in Anspruch nimmt, schließt dies die Anwendbarkeit von Art. 31 Abs. 1 GK nicht von vornherein aus (ebenso OLG Stuttgart a.a.O., a.A. BayObLG a.a.O, OLG Düsseldorf a.a.O, OLG Köln a.a.O, Senge a.a,O. Rn. 70). Dies gilt insbesondere dann, wenn die Inanspruchnahme von Schleppern aufgrund der konkreten Bedrohungssituation im Heimatland notwendig ist, um dieses verlassen zu können. Wird der Flüchtling von dem Schleuser in das erste Land gebracht, in dem er vor Verfolgung sicher ist, stehen einer Anwendbarkeit des Artikel 31 Abs. 1 GK keine Bedenken entgegen. Erfolgt die Schleusung über ein sicheres Land (z.B. & ) hinaus in ein weiteres Land (Bundesrepublik Deutschland), kann eine Bestrafung nicht erfolgen, wenn die Voraussetzungen des Art. 31 Abs. 1 GK erfüllt sind. Da Deutschland von sicheren Drittstaaten umgeben ist, werden in der Vielzahl der Fälle die Tatbestandsvoraussetzungen der Unmittelbarkeit und der Unverzüglichkeit des Artikel 31 Abs. 1 GK nicht vorliegen. Gleichwohl kann dieser Strafausschließungsgrund in seltenen Fällen auch bei Inanspruchnahme von Schleusern bei einer Einreise auf dem Landweg Anwendung finden. Zwar liegt es nicht im Schutzbereich der Norm, kriminellem Tun Vorschub zu leisten. Dieser Gedanke darf aber nicht so weit führen, dem Flüchtling generell den Schutz von Artikel 31 GK zu verwehren, weil er sich Schleusern anvertraut hat.