LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 08.04.2010 - L 7 AS 304/10 ER-B
Fundstelle
openJur 2012, 62688
  • Rkr:

1. Widerspruch und Klage gegen Versagungsbescheide haben aufschiebende Wirkung (arg. § 39 Nr. 1 SGB II i.d.F. ab 01.01.2009).

2. Im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes gegen Versagungsbescheide ist zusätzlich zu einem Antrag entsprechend § 86b Abs. 1 SGG unter Beachtung des Grundsatzes der Effektivität des Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) auch eine einstweilige Anordnung statthaft.

3. Zur Versagung von Arbeitslosengeld II nach den §§ 62, 66 SGB I bei Weigerung des Leistungsempfängers, sich einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen.

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Mannheim vom 22. Dezember 2009 abgeändert.

Es wird festgestellt, dass die Klage des Antragstellers gegen den Bescheid vom 29. September 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. Dezember 2009 aufschiebende Wirkung hat.

Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller ab 9. April 2010 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch bis auf Weiteres, längstens jedoch bis 31. Mai 2010 zu gewähren.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen

Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Gründe

Die gemäß §§ 172, 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde des Antragstellers hat in dem aus dem Beschlussausspruch ersichtlichen Umfang Erfolg.

Das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist in § 86b SGG geregelt, und zwar für Anfechtungssachen in Abs. 1 a.a.O., für Vornahmesachen in Abs. 2 a.a.O. Das vorliegende Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist - wie nachstehend noch auszuführen sein wird - unter beide Regelungen zu fassen. Gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache ferner, soweit nicht ein Fall des Abs. 1 a.a.O. vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2 a.a.O.).

Mit seiner - zeitgleich mit der zum Az. S 11 AS 4271/09 beim Sozialgericht Mannheim (SG) erhobenen Klage wegen des Versagungsbescheids vom 29. September 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. Dezember 2009 - am 14. Dezember 2009 eingegangenen Antragsschrift vom 12. Dezember 2009 hat der Antragsteller beantragt, seine Klage als Eilsache zu bearbeiten und vorweg einen Beschluss zur Zahlung meiner ausgebliebenen Leistungen anzuordnen. Er hat damit, wie die verständige Würdigung dieses Begehrens (vgl. hierzu Bundessozialgericht SozR 4-1500 § 158 Nr. 2; BSG SozR a.a.O. § 151 Nr. 3) ergibt, hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es ihm entgegen der Auffassung des SG nicht allein um eine einstweilige Anordnung geht, sondern dass er Eilrechtsschutz über sämtliche statthaften Rechtsbehelfe suchen wollte. Zwar ist vorrangig in Anfechtungssachen das Eilverfahren nach § 86b Abs. 1 SGG (vgl. Senatsbeschluss vom 5. September 2007 - L 7 AS 3930/07 ER-B -; Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 2. Auflage, Rdnr. 271); allerdings sind Ausnahmen hiervon unter Umständen nach dem Grundsatz der Effektivität des Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes ) geboten, sodass in solchen Fällen die einstweilige Anordnung (§ 86b Abs. 2 SGG) neben den Eilantrag nach § 86b Abs. 1 SGG tritt. So liegt der Fall hier.

Vorliegend hat die Antragsgegnerin den bereits oben genannten, auf § 66 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I) gestützten Bescheid vom 29. September 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. Dezember 2009 erlassen, mit dem die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit (nach Ablauf des vorherigen Bewilligungsabschnitts) ab 1. November 2009 versagt worden ist und gegen welchen sich der Antragsteller im Klageverfahren (S 11 AS 4271/09) grundsätzlich zulässigerweise allein mit der isolierten Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. SGG; vgl. BSG SozR 1200 § 66 Nr. 13; SozR 4-1200 § 66 Nr. 1; BSG, Urteil vom 1. Juli 2009 - B 4 AS 78/08 R - ) zu wehren vermag. Zwar hat diese Klage - entgegen einer zur früheren Fassung des § 39 Nr. 1 SGB II vertretenen Auffassung (vgl. Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 27. Oktober 2008 - L 13 AS 4562/08 ER-B - ; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 14. Januar 2008 - L 7 AS 772/07 ER - FEVS 59, 469) - nach § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG aufschiebende Wirkung; keiner der Ausnahmefälle des § 86a Abs. 2 SGG ist gegeben. Nach § 39 Nr. 1 SGB II (in der ab 1. Januar 2009 geltenden Fassung des Gesetzes zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente vom 21. Dezember 2008 ) haben Widerspruch und Anfechtungsklage lediglich gegen Verwaltungsakte, die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende aufheben, zurücknehmen, widerrufen oder herabsetzen oder Leistungen zur Eingliederung in Arbeit oder Pflichten des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen bei der Eingliederung in Arbeit regeln, keine aufschiebende Wirkung. Die vollständige Versagung von Leistungen nach § 66 SGB I wird mithin von den in § 39 Nr. 1 SGB II bezüglich einer Leistungsverweigerung abschließend aufgeführten Fallvarianten nach dem eindeutigen Wortlaut der Norm nicht erfasst (vgl. auch Groth in GK-SGB II, § 39 Rdnr. 25; Hengelhaupt in Hauck/Noftz, SGB II, K § 39 Rdnr. 75; ferner Coseriu/Holzhey in Linhart/Adolph, SGB II § 39 Rdnr. 10); denn eine solche Leistungsversagung ist gerade nicht auf die Kassation einer früheren Leistungsbewilligung oder aber auf eine Leistungsherabsetzung gerichtet. Im Gegenteil wird über die Anspruchsvoraussetzungen der Leistung in einem Verfahren nach § 66 SGB I gerade nicht entschieden (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 1986 - 7 RAr 91/84 - ; BSG SozR 1200 § 66 Nr. 13; Bundesverwaltungsgericht BVerwGE 71, 8, 10 f.). Da die Antragsgegnerin indessen die aufschiebende Wirkung der rechtzeitig erhobenen Klage des Antragsgegners im Verfahren S 11 AS 4271/09 missachtet, hält es der Senat in entsprechender Anwendung des § 86b Abs. 1 SGG für geboten, vorliegend die aufschiebende Wirkung der Klage festzustellen (vgl. hierzu LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 2. Juli 2004 - L 13 RJ 2467/04 ER-B - ; Binder in Hk-SGG, 3. Auflage, § 86b Rdnr. 2; Krodel, a.a.O., Rdnr. 179). Diese entsprechend § 86b Abs. 1 SGG zu treffende stattgebende vorläufige Entscheidung hilft dem Antragsteller hier freilich allein nicht weiter, weil damit noch nichts über eine einstweilige Leistungsgewährung durch den Grundsicherungsträger gesagt ist und jener somit - bei fehlender anderweitiger Bedarfsdeckung - gleichsam schutzlos wäre (vgl. Senatsbeschluss vom 12. Januar 2006 - L 7 AS 5532/05 ER-B - ). Deshalb ist in derartigen Fällen der Leistungsversagung ausnahmsweise auch die Statthaftigkeit des Rechtsbehelfs nach Abs. 2 a.a.O. zu bejahen (vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 27. Oktober 2008 a.a.O.; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 14. Januar 2008 a.a.O.; Krodel, a.a.O., Rdnr. 288b; offengelassen von LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 18. Januar 2010 - L 13 AS 412/09 B - ).

Der Antrag auf eine einstweilige Anordnung ist in dem aus dem Beschlusstenor ersichtlichen Umfang auch begründet. Hinsichtlich dieses Begehrens des Antragstellers kommt nur eine Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 1 2. Alt. SGG in Betracht. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung hängt auf der Begründetheitsebene vom Vorliegen der Anordnungsvoraussetzungen ab, nämlich dem Anordnungsanspruch und dem Anordnungsgrund, die glaubhaft zu machen sind (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung ). Die Prüfung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren kann grundsätzlich nur summarisch erfolgen, es sei denn, das sich aus Art. 1 Abs. 1 GG ergebende Gebot der Sicherstellung einer menschenwürdigen Existenz sowie der grundrechtlich geschützte Anspruch auf effektiven Rechtsschutz erforderten eine abschließende Überprüfung. Ist in diesen Fällen im Eilverfahren eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage nicht möglich, so ist bei besonders folgenschweren Beeinträchtigungen eine Güter- und Folgenabwägung unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange des Antragstellers vorzunehmen (ständige Senatsrechtsprechung; vgl. etwa Beschlüsse vom 13. Oktober 2005 - L 7 SO 3804/05 ER-B - und vom 6. September 2007 - L 7 AS 4008/07 ER-B - , jeweils unter Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ; z.B. BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - NVwZ 2005, 927; Kammerbeschluss vom 29. November 2007 - 1 BvR 2496/07 - NZS 2008, 365). Maßgebend für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. z.B. Beschlüsse vom 1. August 2005 und vom 17. August 2005 a.a.O.) regelmäßig die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Eilentscheidung. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung erscheint vorliegend bereits deswegen geboten, weil ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 29. September 2009 in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid vom 7. Dezember 2009 gefunden hat, bestehen.

Die Antragsgegnerin hat ihre die Leistung ab 1. November 2009 versagende Verwaltungsentscheidung auf § 66 SGB I gestützt. Nach § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I kann der Leistungsträger ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen, soweit die Voraussetzungen der Leistung nicht nachgewiesen sind, wenn derjenige, der eine Sozialleistung beantragt oder erhält, seinen Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 62, 65 SGB I nicht nachkommt und hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert wird. Die Antragsgegnerin beruft sich insoweit auf einen Verstoß gegen eine Mitwirkungsobliegenheit nach § 62 SGB I; hiernach soll derjenige, der Sozialleistungen beantragt oder erhält, sich auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers ärztlichen oder psychologischen Untersuchungsterminen unterziehen, soweit diese für die Entscheidung über die Leistung erforderlich sind. Die Antragsgegnerin erachtet eine amtsärztliche Untersuchung des Antragstellers, der Inhaber eines unbefristeten Schwerbehindertenausweises mit einem Grad der Behinderung von 70 sowie dem Merkzeichen G ist, für erforderlich, weil sie dessen Erwerbsfähigkeit, die gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 8 Abs. 1 SGB II grundsätzlich Anspruchsvoraussetzung für Leistungen nach den §§ 19 ff. SGB II ist, für fraglich hält. Der Antragsteller, der 1985 im kindlichen Alter an einem Hirntumor erkrankte, operiert und bestrahlt werden musste, konnte im erlernten Beruf des Bauzeichners nach Abschluss der Ausbildung (Februar 1997) nicht Fuß fassen und ist seitdem fast durchgehend arbeitslos. Er hat im Rahmen einer Arbeitsgelegenheit (§ 16 Abs. 3 Satz 2 SGB II) in der Zeit vom 19. September 2007 bis 18. März 2008 im Tafelladen des Deutschen Roten Kreuzes in Mosbach mitgeholfen und ist nunmehr - ebenfalls über eine Arbeitsgelegenheit - seit 7. Juli 2008 bei der I. S. O. gGmbH (ISO) tätig und dort mit Montagearbeiten befasst; sein Arbeitstempo scheint sehr langsam und die Leistungen mittlerweile stark schwankend zu sein (vgl. etwa die Beurteilungsbögen der ISO vom 17. Dezember 2008 und 12. Februar 2010; ferner Abschlussbericht des Integrationsfachdienstes Mosbach vom 7. Juli 2009). Insoweit könnten sich durchaus Hinweise auf eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit des Antragstellers aufgrund seines Gesundheitszustandes ergeben, sodass eine Abklärung seiner Erwerbsfähigkeit - auch zur Vorbereitung eines etwaigen Verfahrens nach § 44a Abs. 1 Satz 3 SGB II mit vorheriger Einschaltung des Trägers der Leistungen nach dem SGB XII (vgl. hierzu BSGE 97, 231 = SozR 4-4200 § 22 Nr. 2 ) - angezeigt erscheinen dürfte. Eine derartige ärztliche Untersuchung ist bislang allerdings nicht zustande gekommen, weil der Antragsteller - auf der Grundlage der während seiner Berufsausbildung erstellten Arbeitsmedizinischen Stellungnahme des früheren Chefarztes der Ärztlichen Abteilung des Berufsbildungswerks Mosbach Dr. S. vom 9. September 1995 - eine amtsärztliche Begutachtung nicht für erforderlich hält.

Es kann im Rahmen des vorliegenden Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes offenbleiben, ob die von der Antragsgegnerin herangezogene Vorschrift des § 62 SGB I in einem Regelungskonflikt mit der allgemeinen Meldepflicht nach § 59 SGB II i.V.m. § 309 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch (SGB III) steht oder aber auch im SGB II Anwendung finden kann. Zwar ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung mittlerweile geklärt, dass auf die §§ 60 bis 67 SGB I ergänzend zurückgegriffen werden kann, solange und soweit nicht im Regelungsgefüge des SGB II hiervon abweichend bereichsspezifische Ausgestaltungen ausdrücklich oder stillschweigend normiert sind (vgl. BSG, Urteil vom 19. September 2008 - B 14 AS 45/07 R - BSGE 101, 260 = SozR 4-1200 § 60 Nr. 2 ; BSG, Urteil vom 19. Februar 2009 - B 4 AS 10/08 R - ). Ob indes die Mitwirkungsobliegenheit nach § 62 SGB I durch § 59 SGB II verdrängt wird, sodass die Sanktionierung eines derartigen Verstoßes nicht nach § 66 SGB I, sondern nach § 31 SGB II zu erfolgen hätte (so LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 20. Februar 2009 - L 5 B 376/08 AS ER - ; Blüggel in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Auflage, § 59 Rdnrn.13, 13a, 25; ferner Düe in Niesel, SGB III, 4. Auflage, § 309 Rdnr. 4), erscheint auch in Ansehung der vorgenannten Entscheidungen des BSG, die andere Fallgestaltungen betrafen, offen. In einer Entscheidung zur Vorläuferregelung des § 309 SGB III, der Bestimmung des § 132 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) in der damaligen Fassung des Arbeitsförderungs-Konsolidierungsgesetzes vom 22. Dezember 1981 (BGBl. I S. 1497), hatte das BSG (Urteil vom 29. September 1987 - 7 RAr 17/86 - BSGE 62, 173, 177 f. = SozR 4100 § 132 Nr. 4) die Anwendbarkeit der §§ 62, 66 SGB I bei Verletzung von Mitwirkungsobliegenheiten im Rahmen der Duldung ärztlicher Untersuchungsmaßnahmen ohne weitere Begründung vorausgesetzt; es war offenkundig davon ausgegangen, dass die genannten Vorschriften mit ihrem Inkrafttreten mit Wirkung vom 1. Januar 1976 die durch Art. II § 3 des Gesetzes vom 11. Dezember 1975 (BGBl. I S. 3015) gestrichenen Bestimmungen der §§ 121, 144 Abs. 1 Satz 3 AFG (in der Fassung des Gesetzes vom 25. Juni 1969 ) hinsichtlich der Mitwirkungspflichten bei ärztlichen Untersuchungen und der Rechtsfolgen bei etwaigen Verstößen hiergegen abgelöst hatten. Demgegenüber hatte das BSG im Urteil vom 20. März 1980 - 7 RAr 21/79 - (SozR 4100 § 132 Nr. 1) das Verhältnis der Mitwirkungsobliegenheit nach §§ 61, 66 SGB I zum Meldeversäumnis nach § 132 AFG und dessen Sanktionierung nach § 120 AFG - beide Bestimmungen waren auch nach Inkrafttreten des SGB I gültig geblieben - noch offengelassen. Bei rechtshistorischer Betrachtung könnte mithin viel für die Auffassung der Antragsgegnerin sprechen, dass § 62 SGB I mit den sich aus § 66 SGB I ergebenden Rechtsfolgen neben § 59 SGB II i.V.m. § 309 Abs. 1 Satz 1 SGB III anwendbar sein kann, und zwar dann, wenn der Leistungsempfänger nicht allein einen Untersuchungstermin versäumt, sondern sich entweder von vornherein weigert, sich einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, oder aber an ärztlichen Untersuchungsmaßnahmen nicht aktiv mitwirkt (so auch Voelzke in Hauck/Noftz, SGB II, K § 59 Rdnr. 7; ders. in Hauck/Noftz, SGB III, K § 309 Rdnr. 8; vgl. ferner BSG SozR 4-1500 § 103 Nr. 5; Winkler in Gagel, SGB III, § 309 SGB III Rdnrn. 16, 22; im Ergebnis ebenso LSG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 23. Mai 2007 - L 19 B 47/07 AS ER - und vom 28. September 2009 - L 19 B 255/09 AS ER - ). All dies bedarf im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes indessen keiner weiteren Vertiefung, weil der Bescheid vom 29. September 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. Dezember 2009 bereits aus anderen Gründen erheblichen Bedenken hinsichtlich seiner Rechtmäßigkeit begegnet.

Die Sanktion des § 66 Abs. 1 SGB I, die als Ermessensvorschrift ausgestaltet ist (vgl. BSG SozR 3-1200 § 66 Nr. 3), vermag überhaupt nur einzugreifen, wenn der Leistungsträger einerseits unmissverständlich zum Ausdruck bringt, welche Mitwirkung - hier eine solche nach § 62 SGB I - vom Leistungsempfänger verlangt wird (vgl. BSG SozR 4100 § 132 Nr. 1). Darüber hinaus ist dieser auf die Rechtsfolge des § 66 Abs. 1 SGB I schriftlich hinzuweisen (vgl. Abs. 3 a..a.O.); mündliche Belehrungen genügen nicht. Die Belehrung muss konkret, verständlich, richtig und vollständig sowie widerspruchsfrei sein, um ihrer Warnfunktion gerecht zu werden (vgl. BSG SozR a.a.O.; BSG SozR 1200 § 66 Nr. 13; BSG, Urteil vom 1. Juni 2006 - B 7a AL 26/05 R - ). Der - im Übrigen vorErlass des Versagungsbescheids zu gebende - Hinweis muss demnach konkret und auf den jeweiligen Einzelfall des Leistungsempfängers zugeschnitten sein (vgl. BSG SozR 2200 § 1243 Nrn. 2 und 3; vgl. ferner BSGE 102, 201 = SozR 4-4200 § 16 Nr. 4 ); auf eine bloße Wiederholung des Gesetzeswortlauts oder Belehrungen allgemeiner Art darf er sich nicht beschränken (vgl. BSG SozR 4100 § 132 Nr. 1; ferner BSG, Urteile vom 17. Dezember 2009 - B 4 AS 30/09 R - und vom 18. Februar 2010 - B 14 AS 53/08 R - ). Auf das Kennen oder Kennenmüssen der Rechtsfolgen seitens des Leistungsempfängers kommt es insoweit nicht an (vgl. BSG, Urteil vom 1. Juni 2006 a.a.O. ; BSG, Urteil vom 17. Dezember 2009 a.a.O. ).

An all dem dürfte es vorliegend fehlen. Der Antragsteller ist vor Erlass des Bescheids vom 29. September 2009 nicht erneut darauf hingewiesen worden, welche Mitwirkung die Antragsgegnerin nunmehr konkret einfordert; erst recht dürfte es an einer ausreichenden Rechtsfolgenbelehrung mangeln. Die von der Antragsgegnerin insoweit herangezogenen Schreiben vom 29. April, 7. Mai, 29. Juni und 30. Juli 2009 sowie die Hinweise in dem - überdies während des Klageverfahrens S 11 AS 3371/09 mit Blick auf die richterliche Verfügung vom 26. Oktober 2009 (S 11 AS 3400/09 ER) zurückgenommenen - Bescheid vom 17. Juni 2009 (in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. September 2009) erscheinen insoweit schon deswegen nicht ausreichend, weil diese sich auf eine frühere, zu den vorgenannten Bescheiden führende Weigerung des Antragstellers bezogen hatten, welche die Antragsgegnerin auf der Grundlage ihres im Verfahren S 11 AS 3400/09 ER abgegebenen Anerkenntnisses vom 3. November 2009 aber ohnehin nicht mehr sanktionieren wollte. Vor Erlass des Bescheids vom 29. September 2009 dürfte deshalb nach dem oben Gesagten ein nochmaliger schriftlicher Hinweis auf die Folgen einer - fortbestehenden - Weigerung im konkreten Fall erforderlich gewesen sein (vgl. hierzu schon BSG SozR 2200 § 1243 Nr. 3). Eine neuerliche konkrete Belehrung dürfte umso mehr notwendig gewesen sein, als der Antragsteller - wie die Antragsgegnerin in ihrem Schriftsatz vom 12. Oktober 2009 im Verfahren S 11 AS 3400/09 ER selbst eingeräumt hat - offenkundig den Sachverhalt mit demjenigen im Verfahren S 9 AS 4211/08 (jetzt im Berufungsverfahren beim Senat anhängig unter dem Az. L 7 AS 1077/10) vermischt hatte, in dem um eine Sanktionsentscheidung nach § 31 SGB II gestritten wird.

Bereits aus den genannten Gründen spricht viel für eine Rechtswidrigkeit des Bescheids vom 29. September 2009 (Widerspruchsbescheid vom 7. Dezember 2009). Eine Umdeutung des Versagensbescheids in eine Leistungsablehnung dürfte schon aufgrund der Wesensverschiedenheit beider Entscheidungen und der Unterschiedlichkeit der Rechtsfolgen ausgeschlossen sein (vgl. BSG SozR 1200 § 66 Nr. 13; BSGE 96, 40 = SozR 4-1200 § 66 Nr. 3 ; Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein, Urteil vom 1. November 1993 - 5 L 3/92 - ). Aus den soeben dargestellten Gründen soll vorliegend nicht weiter darauf eingegangen werden, dass das oben genannte Schreiben des Geschäftsführers der Antragsgegnerin vom 30. Juli 2009 überhaupt keine Belehrung enthalten hat, der Bescheid vom 17. Juni 2009 und das Schreiben der Widerspruchsstelle vom 29. Juni 2009 sich im wesentlichen in der Wiederholung des Gesetzeswortlauts erschöpfen und sich zudem auf eine - später nicht mehr sanktionierte - vom Antragsteller geforderte Mitwirkungshandlung bezogen haben. Ferner erscheint das Schreiben vom 24. April 2009, auf welches bezüglich der Rechtsfolgenbelehrung auch das Schreiben vom 7. Mai 2009 Bezug genommen hat, in eben dieser Belehrung widersprüchlich, weil dort einerseits auf eine Verletzung der Meldepflicht nach § 59 SGB II i.V.m. § 309 SGG III, andererseits - im Übrigen ebenfalls unter Wiederholung des Gesetzeswortlauts - auf die §§ 62, 66 SGB I hingewiesen worden ist (vgl. hierzu nochmals BSG SozR 4100 § 132 Nr. 1; BSG, Urteil vom 1. Juni 2006 a.a.O.), zudem auf der Vorderseite davon die Rede ist, dass die Geldleistung entzogen/versagt werde, wenn der Antragsteller zu dem auf den 11. Mai 2009 anberaumten Untersuchungstermin nicht erscheine, auf der Rückseite desselben Schreibens jedoch davon gesprochen wird, der Antragsteller müsse mit dem Entzug der SGB II-Leistungen rechnen, wenn er seiner Pflicht nicht nachkomme, wobei unklar bleibt, um welche Plicht es sich insoweit handeln sollte, nachdem zwei Sätze weiter eine Aufforderung zur Meldung erwähnt wird.

Obgleich sonach viel für den Erfolg der Anfechtungsklage des Antragstellers im Verfahren S 11 AS 4271/09 spricht, vermag der Senat bezüglich der mit der einstweiligen Anordnung verfolgten Vornahmesache die Anordnungsvoraussetzungen nicht abschließend zu bejahen; eine vollständige Aufklärung des Sachverhalts - insbesondere auch zur Hilfebedürftigkeit des Antragstellers - ist im vorliegenden Eilverfahren nicht möglich. Insbesondere erscheint nicht ausgeschlossen, dass der Antragsteller - zumindest zur Überbrückung seiner Notlage - seit November 2009 Unterstützungsleistungen seitens seiner Eltern erhalten hat (vgl. dazu auch BSG, Urteil vom 18. Februar 2010 - B 14 AS 32/08 R - ). Es ist deshalb hier eine Güter- und Folgenabwägung vorzunehmen, wobei in diesem Rahmen namentlich das grundrechtliche Gebot der Sicherstellung eines menschenwürdigen Daseins zu beachten ist (vgl. Senatsbeschluss vom 14. Dezember 2007 - L 7 AS 5125/07 ER-B - FEVS 2008, 312). Diesem Gebot ist grundsätzlich der Vorrang einzuräumen gegenüber dem Interesse der Antragsgegnerin, nicht grundlos Leistungen erbringen zu müssen, die im Rückforderungsfall ggf. uneinbringlich sind. Da indes unter den gegebenen Umständen manches dafür spricht, dass der Antragsteller - wenn auch möglicherweise nur mithilfe seiner Eltern - seinen Lebensunterhalt bislang im Wesentlichen sicherstellen konnte, trägt der Senat dem Interesse der Antragsgegnerin insoweit Rechnung, als es die Folgen für diese auf die Zeit ab dem Tag nach der Beschlussfassung des Senats beschränkt. Der Senat macht darüber hinaus von dem ihm nach § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 938 ZPO zustehenden Ermessen dahingehend Gebrauch, dass er die einstweilige Anordnung auf die Zeit bis längstens 31. Mai 2010 begrenzt. Mit der zeitlichen Befristung soll einerseits dem Antragsteller Gelegenheit gegeben werden, seine Haltung mit Bezug auf eine Abklärung seines Gesundheitszustandes nochmals zu überdenken und sich darüber schlüssig zu werden, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen er sich - auf ein entsprechendes Verlangen der Antragsgegnerin - zu einer Mitwirkung bereitfinden kann (vgl. hierzu etwa BSG SozR 4-1200 § 66 Nr. 1). Der Antragsgegnerin wiederum wird mit der Befristung ausreichend Zeit eingeräumt, zu überprüfen, wie sie mit Rücksicht auf den vom Antragsteller erhobenen Leistungsanspruch weiter zu verfahren gedenkt, und in diesem Zusammenhang insbesondere auch der Frage nachzugehen, welche alternativen Maßnahmen zur Feststellung der Erwerbsfähigkeit des Antragstellers ggf. zur Verfügung stehen, sodass der Sachverhalt mithin auf andere Weise geklärt werden könnte (vgl. hierzu etwa BSG SozR 4-1500 § 103 Nr. 5 ; Hauck/Noftz, SGB I, K § 62 Rdnr. 7; Seewald in Kasseler Kommentar, SGB I § 66 Rdnrn. 13 ff.; Lilge, SGB I, 2. Auflage, § 62 Rdnr. 5).

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG; hierbei hat der Senat mit Blick auf das im Wesentlichen erfolgreiche einstweilige Rechtsschutzbegehren des Antragstellers von einer Kostenquotelung abgesehen.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).

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