BVerfG, Beschluss vom 02.07.2003 - 2 BvR 273/03
Fundstelle
openJur 2012, 25328
  • Rkr:
Tenor

I. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 15. Januar 2003 - 3 Ss 107/98 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Karlsruhe zurückverwiesen.

II. Das Land Baden-Württemberg hat dem Beschwerdeführer die im Verfassungsbeschwerde-Verfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Dauer eines Rechtsbeschwerdeverfahrens im Ordnungswidrigkeitenrecht.

A. - I.

1. Der Beschwerdeführer wurde durch Urteil des Amtsgerichts Rastatt vom 19. Februar 1998 wegen Verstoßes gegen Art. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1, § 16 Abs. 1 Nr. 1a AÜG zu einer Geldbuße von 4.000,-- DM verurteilt.

2. Mit Schriftsatz vom 23. Februar 1998 legte der Beschwerdeführer hiergegen Rechtsbeschwerde ein, die er mit Schriftsatz vom 30. April 1998 begründete; neben konkreten Einwänden erhob er auch die allgemeine Sachrüge. Am 9. Juli 1998 nahm die Generalstaatsanwaltschaft hierzu Stellung.

Mit Beschluss vom 15. Januar 2003 verwarf das Oberlandesgericht Karlsruhe die Beschwerde als unbegründet, "da die auf Grund der Rechtsbeschwerderechtfertigung gebotene Nachprüfung der Entscheidung keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Betroffenen ergeben" habe. Auch sei die Verfolgung der Ordnungswidrigkeit nicht verjährt, weil die Verjährung seit Erlass des angefochtenen Urteils ruhe (§ 32 Abs. 2 OWiG).

II.

Mit der rechtzeitig erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz. Das Oberlandesgericht habe sich für den allein nach Aktenlage zu treffenden, knapp begründeten Beschluss viereinhalb Jahre Zeit gelassen und damit das Beschwerdeverfahren nicht innerhalb angemessener Frist abgeschlossen. Hinzu komme, dass die Ordnungswidrigkeit schon im August 1994 begangen worden sein soll; nach der damaligen Gesetzeslage habe die Verjährungsfrist zwei Jahre betragen. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts sei nach einem Zeitraum erfolgt, der mehr als das Vierfache der normalen Verjährungsfrist und das Doppelte der absoluten Verjährungsfrist betrage. Eine verfassungskonforme Auslegung des § 32 Abs. 2 OWiG gebiete es mit Blick auf das Beschleunigungsgebot, in solchen Fällen das Verfahren wegen Verjährung einzustellen.

III.

Das Justizministerium des Landes Baden-Württemberg hat zu der Verfassungsbeschwerde Stellung genommen. Es hat darauf hingewiesen, dass die Personalressourcen in der Justiz des Landes Baden-Württemberg derzeit zu einem großen Teil durch vorrangige Strafsachen gebunden seien. In Einzelfällen müssten deshalb andere Verfahren zurückstehen. Der zuständige Einzelrichter habe in einem Telefonat Mitte des Jahres 2002 der Verteidigung des Beschwerdeführers die Belastungssituation des Senats deutlich gemacht und darauf hingewiesen, dass das Verfahren nicht mit einer Einstellung wegen Verfolgungsverjährung enden werde.

B.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§§ 93b Satz 1, 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), und gibt ihr statt. Die hierfür in § 93c Abs. 1 BVerfGG bestimmten Voraussetzungen sind gegeben.

I.

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet.

1. Der Beschwerdeführer geht zwar mit seiner Ansicht fehl, das Verfahren sei bei verfassungskonformer Auslegung des § 32 Abs. 2 OWiG einzustellen. Nach dem eindeutigen Wortlaut dieser Vorschrift ruht die Verjährung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens. Die Verfolgungsverjährung tritt als Folge bloßen Zeitablaufs und unabhängig von einer eventuellen Verfahrensverzögerung ein (vgl. Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts <Vorprüfungsausschuss> vom 24. November 1983 - 2 BvR 121/83 -, NJW 1984, S. 967). Die Verfahrensverzögerung ist allerdings unter einem anderen Gesichtspunkt erheblich (dazu gleich 2.).

2. Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip gewährleistet dem Betroffenen im Ordnungswidrigkeitenverfahren ebenso wie dem Beschuldigten im Strafverfahren das Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren, das das Recht auf Durchführung des Verfahrens in angemessener Zeit einschließt (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. März 1992 - 2 BvR 1/91 -, NJW 1992, S. 2472; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Februar 2003 - 2 BvR 327/02 u.a. -, Umdruck S. 14). Ob die Verfahrensdauer noch angemessen ist, muss nach den Umständen des Einzelfalls bestimmt werden (vgl. BVerfGE 55, 349 <369>). Faktoren, die regelmäßig von Bedeutung sind, sind dabei insbesondere der durch eine Verzögerung seitens der Justizorgane verursachte Zeitraum der Verfahrensverlängerung, die Gesamtdauer des Verfahrens, die Schwere des Tatvorwurfs, der Umfang und die Schwierigkeit des Verfahrens seinem Gegenstand nach sowie das Ausmaß der mit der Dauer des schwebenden Verfahrens für den Betroffenen verbundenen besonderen Belastungen (vgl. Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts <Vorprüfungsausschuss> vom 24. November 1983 - 2 BvR 121/83 -, NJW 1984, S. 967; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Februar 2003 - 2 BvR 327/02 u.a. -, Umdruck S. 15). Die Strenge des anzuwendenden Maßstabs wird bei Ordnungswidrigkeiten allerdings dadurch gemildert, dass mit der Sanktion lediglich eine nachdrückliche Pflichtenmahnung bezweckt wird, der die Eingriffsintensität der staatlichen Strafe fehlt (vgl. BVerfGE 45, 272 <288 f.>; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. März 1992 - 2 BvR 1/91 -, NJW 1992, S. 2472 <2473>). Die Annahme einer überlangen Verfahrensdauer liegt aber nahe, wenn diese ein Vielfaches der normalen Verjährungsfrist erreicht (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. März 1992, a.a.O.).

Auch beim Ordnungswidrigkeitenverfahren kann jede vermeidbare Verzögerung den Betroffenen zusätzlichen fühlbaren Belastungen aussetzen. Diese treten mit zunehmender Verzögerung des Verfahrens in Widerstreit zu dem aus dem Rechtsstaatsgebot abgeleiteten Grundsatz, wonach das Bußgeld verhältnismäßig sein und in einem gerechten Verhältnis zum Verschulden des Täters stehen muss. Deshalb kann die rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung auch Auswirkungen auf die Höhe des Bußgeldes haben, wenn sie nicht in Extremfällen sogar zur Einstellung (§ 47 Abs. 2 OWiG) führt (Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. März 1992, a.a.O., m.w.N.). Im Falle eines mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht in Einklang stehenden überlangen Verfahrens sind die Gerichte zu sorgfältiger Prüfung verpflichtet, ob und mit welchen Mitteln der Staat gegen den Betroffenen (noch) ordnungswidrigkeitenrechtlich vorgehen kann. Regelmäßig ist es angezeigt, dass Art und Umfang der Verletzung des Beschleunigungsgebots ausdrücklich festgestellt und das Ausmaß der Berücksichtigung dieses Umstands näher bestimmt werden (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Februar 2003 - 2 BvR 327/02 u.a. -, Umdruck S. 15, 16 m.w.N.).

Die vorgenannten Grundsätze finden auch dann Anwendung, wenn es erst in der Rechtsbeschwerdeinstanz des Ordnungswidrigkeitenverfahrens zu einer Verfahrensverzögerung kommt. Zwar stellt das Beschwerdegericht zunächst keine eigenen Bußgeldzumessungserwägungen an, sondern prüft auf entsprechende Rüge - auch die allgemeine Sachrüge - hin, ob die Rechtsfolgen vom Amtsgericht gesetzmäßig bemessen worden sind (Steindorf, in: Karlsruher Kommentar zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, 2. Auflage, 2000, § 79 Rn. 131). Neues tatsächliches Vorbringen des Betroffenen hierzu, das keinen Eingang in die angefochtene Entscheidung gefunden hat, muss unberücksichtigt bleiben (Steindorf, in: Karlsruher Kommentar zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, a.a.O., Rn. 161). Treten von der Justiz verursachte erhebliche und vermeidbare Verzögerungen erst in der Rechtsbeschwerdeinstanz auf, so stellt sich jedoch die Frage, ob das Urteil immer noch mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu vereinbaren ist. Auch erst in der Beschwerdeinstanz auftretende Verzögerungen können nämlich zu Belastungen des Beschwerdeführers führen, die die zunächst möglicherweise unbedenkliche Bußgeldhöhe nachträglich unverhältnismäßig machen; immerhin ist ein - wenn auch nicht rechtskräftiges - Urteil zum Nachteil des Betroffenen in der Welt, dessen Rechtmäßigkeit über einen langen Zeitraum ungeklärt bleibt und das den Betroffenen somit fühlbar belastet. Eine Berufung darauf, die Verzögerung sei eine neue, in der Rechtsbeschwerdeinstanz nicht zu berücksichtigende Tatsache, wäre im Hinblick darauf, dass sie von der Justiz selbst zu verantworten ist, mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens nicht vereinbar und damit rechtsstaatswidrig.

3. Vorliegend ist die Durchführung des Ordnungswidrigkeitenverfahrens in der Beschwerdeinstanz erheblich verzögert worden. Ohne ersichtlichen Grund hat das Oberlandesgericht, das lediglich über das Vorliegen von Rechtsfehlern zu entscheiden hatte (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 337 StPO), über viereinhalb Jahre keinen Beschluss gefasst. Dass die Rechtsbeschwerde besondere Schwierigkeiten aufgeworfen hätte, geht aus dem die Beschwerde verwerfenden Beschluss nicht hervor und ist auch sonst nicht erkennbar. In den Akten des Ausgangsverfahrens befindet sich kein Vermerk, der die jahrelange Untätigkeit erklären könnte. Der Hinweis des Justizministeriums Baden-Württemberg auf die allgemein angespannte Personalsituation vermag unabhängig davon, dass auf die spezifische Belastungssituation des konkreten Spruchkörpers sowie auf organisatorische Maßnahmen zu deren Bewältigung nicht näher eingegangen wird, eine derartig lange Verfahrensdauer nicht zu rechtfertigen, weil es allein in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft fällt, wenn auf Grund des Mangels an personellen Mitteln Verfahren nicht innerhalb angemessener Zeit abgeschlossen werden können (vgl. BVerfGE 36, 264 <274 f.>).

Daraus folgt zwar nicht, dass das Verfahren einzustellen gewesen wäre. Weder hat der Beschwerdeführer vorgetragen, noch ist ersichtlich, dass das Verfahren mit Belastungen einhergegangen wäre, die allein durch eine Einstellung ausgeglichen werden könnten (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. März 1992 - 2 BvR 1/91 -, NJW 1992, S. 2472 <2473>; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Februar 2003 - 2 BvR 327/02 u.a. -, Umdruck S. 21).

Das Oberlandesgericht hätte jedoch prüfen müssen, ob und inwieweit die von ihm selbst verursachte rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung zur Unverhältnismäßigkeit des amtsgerichtlichen Urteils führte und deshalb eine Herabsetzung der Geldbuße gebot. Dies hat es versäumt; es hat sich damit begnügt festzustellen, dass keine Verfolgungsverjährung eingetreten ist. Die Sache ist deshalb an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen. Sollte dieses das amtsgerichtliche Urteil nunmehr für unverhältnismäßig erachten, muss es durchentscheiden und die Geldbuße selbst herabsetzen (§ 79 Abs. 6 OWiG); nachdem die Verfahrensverzögerung in der eigenen Instanz eingetreten ist, stünde das Beschleunigungsgebot einer Zurückverweisung an das Amtsgericht entgegen.

II.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.