VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 24.11.2005 - 9 S 2178/05
Fundstelle
openJur 2013, 14108
  • Rkr:

1. Erfolgt die außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines Schwerbehinderten aus einem Grund, der nicht mit der Behinderung im Zusammenhang steht, muss das Integrationsamt die Zustimmung erteilen. Nur bei Vorliegen von Umständen, die den Fall als atypisch erscheinen lassen, darf und muss das Integrationsamt nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden (ständ Rechtspr).

2. Das Integrationsamt ist grundsätzlich nicht berechtigt, über die Wirksamkeit der beabsichtigten außerordentlichen Kündigung, also das Vorliegen eines wichtigen Grundes im Sinne des § 626 Abs 1 BGB zu urteilen. Eine Ausnahme hiervon kann allenfalls dann erlaubt sein, wenn die offensichtliche Unwirksamkeit der Kündigung ohne jeden vernünftigen Zweifel in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht offen zu Tage liegt und sich jedem Kundigen geradezu aufdrängt (wie BVerwG, Urteil vom 02.07.1992 - 5 C 39.90 - BVerwGE 90, 275ff).

Tenor

Der Antrag des Beklagten, die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 08. August 2005 - 8 K 1841/05 - zuzulassen, wird abgelehnt.

Der Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen.

Gründe

Der Antrag, die Berufung zuzulassen, hat keinen Erfolg. Die in Anspruch genommenen Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) rechtfertigen aus den mit dem Antrag angeführten Gründen die Zulassung der Berufung nicht.

Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung sind nach der Rechtsprechung des Senats dann gegeben, wenn neben den für die Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung sprechenden Umständen gewichtige, dagegen sprechende Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung der Tatsachenfragen bewirken und mithin der Erfolg des angestrebten Rechtsmittels zumindest offen ist. Dies ist bereits dann ausreichend dargelegt, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.06.2000 - 1 BvR 830/00 -, VBlBW 2000, 392; Beschlüsse des Senats vom 27.01.2004 - 9 S 1343/03 -, NVwZ-RR 2004, 416 und vom 17.03.2004 - 9 S 2492/03 -). Ausgehend hiervon werden ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung mit dem Antragsvorbringen nicht hervorgerufen.

Das Verwaltungsgericht hat auf die Klage der Klägerin, der Arbeitgeberin des Beigeladenen, den Beklagten unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide verpflichtet, der Klägerin die Zustimmung zur außerordentlichen, fristlosen Kündigung des Beigeladenen zu erteilen. Begründet wird dies damit, die beabsichtigte außerordentliche Kündigung stehe in keinerlei Zusammenhang mit der Behinderung des Beigeladenen. Nach der gesetzlichen Regelung müsse die Zustimmung erteilt werden, weil kein von der Regel abweichender Ausnahmefall vorliege und dem Beklagten somit kein „Restermessen“ zustünde. Selbst wenn man Letzteres für den Fall annehmen wolle, dass die beabsichtigte Kündigung offensichtlich unwirksam sei, griffe dies nicht durch. Denn hiervon könne keine Rede sein. All dies begegnet keinen ernstlichen Richtigkeitszweifeln.

Der Beklagte hält die Entscheidung des Verwaltungsgerichts deshalb für fehlerhaft, weil ihm ein Restermessen bei der Entscheidung über die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung eingeräumt sei, da eine offensichtlich unwirksame Kündigung vorliege. Diese Ansicht wird der Regelung in § 91 Abs. 4 SGB IX nicht gerecht. Wie das Bundesverwaltungsgericht - worauf bereits das Verwaltungsgericht zutreffend abgehoben hat - zur mit § 91 Abs. 4 SGB IX wortgleichen Fassung des § 21 Abs. 4 SchwbG ausgeführt hat (Urteil vom 02.07.1992 - 5 C 39.90 - BVerwGE 90, 275 ff.), verpflichtet die Regelung, nach der das Integrationsamt die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung erteilen „soll“, wenn die Kündigung aus einem Grund erfolgt, der nicht im Zusammenhang mit der Behinderung steht, die Behörde zur Erteilung der Zustimmung im Regelfall. Nur bei Vorliegen von Umständen, die den Fall als atypisch erscheinen lassen, darf die Behörde anders verfahren als im Gesetz vorgesehen und den atypischen Fall nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden. Liegt daher wie hier kein atypischer Fall vor, was auch der Beklagte nicht bestreitet, so ist zwingend die Zustimmung zu erteilen.

Eine andere Frage ist, ob das Integrationsamt berechtigt ist, über die Wirksamkeit der beabsichtigten außerordentlichen Kündigung, also das Vorliegen eines wichtigen Grundes im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB, zu urteilen. Dies hat das Verwaltungsgericht zu Recht verneint.

Der Wortlaut des § 91 Abs. 4 i.V.m. § 85 SGB IX deutet nicht auf ein solches Prüfungsrecht oder gar eine Prüfungspflicht hin. Aber auch der Zweck des Sonderkündigungsschutzes für Schwerbehinderte erfordert nicht, dem Integrationsamt die Prüfung eines wichtigen Grundes im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB abzuverlangen, bevor es der außerordentlichen Kündigung seine Zustimmung erteilt. Der öffentlich-rechtliche Sonderkündigungsschutz des SGB IX ist präventiver Art. Er unterwirft die Ausübung des arbeitgeberseitigen Kündigungsrechts einer vorherigen Kontrolle des Integrationsamts, indem er die Kündigung einem Verbot mit Erlaubnis- (Zustimmungs-) Vorbehalt unterstellt, um bereits im Vorfeld der Kündigung die spezifischen Schutzinteressen schwerbehinderter Arbeitnehmer zur Geltung zu bringen und eine mit den Schutzzwecken des Gesetzes unvereinbare Kündigung zu verhindern. Es ist dagegen nicht Aufgabe des Sonderkündigungsschutzes, den von den Arbeitsgerichten nach erfolgter Kündigung zu gewährenden arbeitsrechtlichen Kündigungsschutz zu ersetzen oder gar überflüssig zu machen. Dem Integrationsamt ist nicht die umfassende Abwägung aller den Kündigungsstreit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bestimmenden widerstreitenden Interessen aufgetragen, sondern nur die Einbringung bestimmter vom Schutzzweck des Schwerbehindertengesetzes erfasster Interessen. Es ist auch nicht Sinn des Gesetzes, dem Schwerbehinderten die Unannehmlichkeiten und Belastungen eines Kündigungsschutzstreites mit dem Arbeitgeber abzunehmen. Derartige Lasten können alle Arbeitnehmer treffen; der Schwerbehinderte hat insoweit grundsätzlich keinen besonderen Schutzanspruch. Das Gesetz will ihn nicht gegenüber Nichtbehinderten bevorzugen, sondern lediglich seine behinderungsbedingten Nachteile ausgleichen. Der Behinderte muss sich deshalb, was die privatrechtliche Wirksamkeit der Kündigung anlangt, auf die Überprüfung durch die Arbeitsgerichte verweisen lassen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass dadurch dem Arbeitgeber in Fällen von vorgetäuschten Kündigungsgründen die Zustimmung zu erteilen ist, wenn die angegebenen Gründe in keinem Zusammenhang mit der Behinderung stehen. Den Schwerbehinderten vor vorgetäuschten Kündigungsgründen zu schützen, ist grundsätzlich nicht Aufgabe des Integrationsamtes, sondern der Arbeitsgerichte. Denn der Gefahr, mit vorgetäuschten Kündigungsgründen überzogen zu werden, ist der nichtbehinderte Arbeitnehmer gleichermaßen ausgesetzt, so dass es auch insoweit gerechtfertigt ist, den Schwerbehinderten wie jeden anderen Arbeitnehmer auf den repressiven Rechtsschutz durch die Arbeitsgerichte zu verweisen (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 02.07.1992, a.a.O.).

Soweit das Verwaltungsgericht es für möglich erachtet, dem Integrationsamt im Falle einer offensichtlich unwirksamen außerordentlichen Kündigung eine arbeitsrechtliche Prüfungskompetenz einzuräumen, gleichwohl im vorliegenden Fall aber zur Zustimmungserteilung verpflichtet hat, weil von einer offensichtlichen Unwirksamkeit keine Rede seine könne, so ist dies nicht zu beanstanden.

Der Beklagte stützt sein dagegen gerichtetes Vorbringen auf das ärztliche Attest vom 15.11.2004, in dem ausdrücklich bestätigt werde, dass die im Bericht der - von der Klägerin beauftragten - Detektei genannten Tätigkeiten des Beigeladenen während der Zeit seiner krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit keine Heilverschleppung bedinge, die Bewegung in freier frischer Luft und leichte Tätigkeiten sogar als heilungsfördernd anzusehen seien. Dieses Vorbringen hat das Verwaltungsgericht gewürdigt und als nicht ausreichend erachtet, um eine offensichtlich unwirksame Kündigung zu belegen, weil die beobachteten Aktivitäten zumindest die Arbeitsunfähigkeit des Beigeladenen in Frage stellten und die Umstände im Einzelnen strittig seien. Dies ist zutreffend.

Eine offensichtliche Unwirksamkeit der Kündigung kann - wenn dies überhaupt in die Prüfungskompetenz des Integrationsamtes fallen sollte - nur dann angenommen werden, „wenn sie ohne jeden vernünftigen Zweifel in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht offen zu Tage liegt, sich jedem Kundigen geradezu aufdrängt“ (so BVerwG, Urteil vom 02.07.1992 a.a.O.). Hiervon kann in der Tat nicht die Rede sein. Der Bericht des im Auftrag der Klägerin eingesetzten Detektivs über die Tätigkeiten des Beigeladenen lässt es nicht gänzlich ausgeschlossen erscheinen, dass der Beigeladene aus gesundheitlichen Gründen durchaus in der Lage gewesen wäre, seinem Arbeitgeber seine Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen.

Den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) hat der Beklagte schon nicht dargelegt (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO). Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache zu, wenn das erstrebte weitere Gerichtsverfahren zur Beantwortung von entscheidungserheblichen konkreten Rechtsfragen oder im Bereich der Tatsachenfragen nicht geklärten Fragen mit über den Einzelfall hinausreichender Tragweite beitragen könnte, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts höhergerichtlicher Klärung bedürfen. Die Darlegung dieser Voraussetzungen verlangt vom Antragsteller, dass er unter Durchdringung des Streitstoffs eine - gegebenenfalls erneut oder ergänzend - klärungsbedürftige konkrete Rechtsfrage oder Tatsachenfrage aufwirft, die für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, wie auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich sein wird, sowie einen Hinweis auf den Grund gibt, der ihre Anerkennung als grundsätzlich bedeutsam rechtfertigen soll (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19.08.1979, NJW 1979, 3328). Diesen Anforderungen entspricht der Antrag nicht.

Der Beklagte hält für grundsätzlich klärungsbedürftig die Rechtsfrage, „ob das Integrationsamt im Rahmen eines Kündigungsschutzverfahrens nach § 91 Abs. 4 SGB IX dazu berechtigt ist, eine Evidenzkontrolle im Hinblick auf den geltend gemachten außerordentlichen Kündigungsgrund vorzunehmen“. Diese Rechtsfrage war für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht von Bedeutung. Es hat die Frage letztlich offen gelassen.

Die weiter gestellte Frage, „ob das Integrationsamt im Rahmen eines Zustimmungsverfahrens nach § 91 Abs. 4 SGB IV, in welchem kein unmittelbarer oder mittelbarer Zusammenhang zwischen Behinderung und vorgetragenem Kündigungsgrund besteht, der außerordentliche Kündigungsgrund jedoch offensichtlich nicht gegeben ist, die Zustimmung versagen kann“, war für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts ebenfalls ohne Belang. Das Verwaltungsgericht hat gerade festgestellt, dass der außerordentliche Kündigungsgrund nicht offensichtlich nicht gegeben ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei nach § 188 VwGO.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar.