VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 10.09.1998 - 8 S 2137/98
Fundstelle
openJur 2013, 10848
  • Rkr:

1. Den Abstandsflächenvorschriften fällt nicht die Aufgabe zu, neben der Gewährleistung einer ausreichenden Besonnung, Belichtung und Belüftung sowie eines ausreichenden Brandschutzes ein störungsfreies Wohnen zur Wahrung des nachbarlichen Wohnfriedens sicherzustellen (anders zu § 6 LBO (BauO BW) aF: VGH Bad-Württ, Urt v 26.11.1986 - 3 S 1723/86 -, VBlBW 1987, 465).

Gründe

Die auf den Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützten Anträge sind unbegründet. An der Richtigkeit der die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Widersprüche der Antragsteller ablehnenden Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestehen keine ernstlichen Zweifel.

1. Die dem Verwaltungsgericht nach eigenem Bekunden bekannte Bebauung an der Westseite der Marktstraße zwischen Bahnhof- und Seestraße sowie der gegenüberliegenden Straßenseite entspricht nach seiner Ansicht der eines Mischgebiets, da sie von Gaststätten, Einzelhandelsbetrieben und sonstigen Gewerbebetrieben geprägt sei. Diese Beurteilung begegnet keinen ernsthaften Bedenken. Entgegen der Darstellung der Antragsteller befindet sich das Baugrundstück nicht im Geltungsbereich des Bebauungsplans "Westlich der Marktstraße I", dessen östliche Grenze entlang der Grenze zwischen den westlich des Baugrundstücks gelegenen Grundstücken Flst.Nr. 215 und 215/1 verläuft. Auf die in diesem Plan getroffene Gebietsausweisung kommt es daher nicht an. Nicht entscheidend ist auch, wie die Grundstücke im Geltungsbereich dieses Plans tatsächlich genutzt werden. Für die Bestimmung des Gebietscharakters ist vielmehr die gesamte nähere Umgebung des Baugrundstücks maßgebend, zu dem auch der Bereich auf der gegenüberliegenden, östlichen Seite der Marktstraße zählt. Die in diesem Bereich befindlichen Gebäude werden nach der Darstellung der Antragsteller überwiegend zu Wohnzwecken genutzt. Die Existenz einer Reihe von Läden wird jedoch auch von ihnen nicht bestritten. Hinzukommt zumindest eine Gaststätte, die sich in dem Gebäude Marktstraße 1 befindet. Eine Beurteilung des Gebiets als allgemeines Wohngebiet dürfte damit auch unter Zugrundelegung der Darstellung der Antragsteller nicht möglich sein. Vielmehr spricht selbst danach mehr dafür, daß das Gebiet in Übereinstimmung mit dem Verwaltungsgericht als Mischgebiet einzustufen ist.

Ist dies der Fall, so bestimmt sich die planungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens der Beigeladenen gemäß § 34 Abs. 2 BauGB in bezug auf die Art der baulichen Nutzung danach, ob es nach § 6 BauNVO in einem Mischgebiet allgemein zulässig wäre. Das hat das Verwaltungsgericht ebenfalls allem Anschein nach zu Recht bejaht. Schank- und Speisewirtschaften gehören gemäß § 6 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO zu den in einem Mischgebiet generell zulässigen Nutzungen. Dafür, daß von der geplanten Imbißstube sowie der Gartenwirtschaft Belästigungen oder Störungen ausgehen, die nach der Eigenart des Baugebiets in diesem unzumutbar sind und das Vorhaben der Beigeladenen deshalb gegen § 15 Abs. 1 S. 2 BauNVO verstößt, sieht auch der Senat keine Anhaltspunkte. Sie ergeben sich insbesondere nicht bereits aus der Zweckbestimmung einer der beiden Gaststätten als Imbißstube. Allein daraus kann entgegen der Ansicht der Antragsteller nicht auf erhebliche Lärmbelästigungen durch den motorisierten Kundenverkehr geschlossen werden. Für eine im Ortskern gelegene Imbißstube sind überwiegend motorisierte Gäste schon wegen des Parkplatzproblems keineswegs typisch. Für einen solchen Kundenkreis ist auch im vorliegenden Fall nichts zu erkennen, da auf dem Baugrundstück selbst lediglich zwei Stellplätze zur Verfügung stehen und ein Parken auf der Marktstraße, auf der auch nach Darstellung der Antragsteller erheblicher Verkehr herrscht, kaum möglich sein dürfte. Die Antragsteller weisen im übrigen selbst auf die bestehende Lärmbelästigung durch den regen Straßenverkehr hin. Der Zu- und Abfahrtsverkehr der beiden relativ kleinen Gaststätteneinrichtungen dürfte unter diesen Umständen kaum zu einer, wie sie meinen, unzumutbaren Intensivierung führen, sondern eher eine lediglich vernachlässigbare Größe darstellen.

Auch der Umstand, daß die Imbißstube und die Gartenwirtschaft in der unmittelbaren Nähe zu dem Wohnhaus der Antragsteller errichtet werden sollen, deutet nicht schlechthin auf unzumutbare Belästigungen oder Störungen hin. Einer solchen Schlußfolgerung steht bereits entgegen, daß die Bewohner eines Mischgebiets generell nur eine gegenüber den anderen in einem solchen Gebiet zulässigen Nutzungen geminderte Schutzwürdigkeit genießen. Diese Schutzwürdigkeit wird im vorliegenden Fall weiter dadurch verringert, daß das Wohnhaus der Antragsteller direkt an die Marktstraße grenzt und daher in erheblichem Maße durch Verkehrslärm vorbelastet ist. Dessen ungeachtet wird es insbesondere bezüglich der Gartenwirtschaft notwendig sein, die Öffnungszeiten der Gaststätten zum Schutz der Nachtruhe in der Nachbarschaft zu begrenzen, worauf schon das Gewerbeaufsichtsamt in seiner Stellungnahme vom 12.2.1998 hingewiesen hat. Die Festlegung dieser Zeiten muß jedoch, wie das Verwaltungsgericht zu Recht bemerkt, dem gaststättenrechtlichen Verfahren vorbehalten bleiben.

2. Auch soweit die Antragsteller beanstanden, daß das Verwaltungsgericht es verabsäumt habe, auf die Überschreitung der Nutzfläche mit ca. 28 qm einzugehen, übersehen sie, daß für die planungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens der Beigeladenen weder die Festsetzungen des Bebauungsplans "Westlich der Marktstraße I" noch die des Bebauungsplans "Marktstraße und Bäderstraße" maßgebend sind, da sich das Baugrundstück nicht im Geltungsbereich dieser Bebauungspläne befindet. Die statt dessen zur Anwendung kommende Vorschrift des § 34 Abs. 1 BauGB ist nur insoweit nachbarschützend, als das einen Teil des Tatbestandsmerkmals des "sich Einfügens" bildende Rücksichtnahmegebot verletzt ist. Für eine Verletzung dieses Gebots ist nichts zu erkennen, zumal das Äußere des Gebäudes durch die geplante Nutzungsänderung keine Änderung erfährt.

3. Mit ihren Zulassungsanträgen wenden sich die Antragsteller ferner gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, daß die vorgesehenen baulichen Änderungen nicht die Forderung nach der Einhaltung von Abstandsflächen auslösen. Auch dem ist nicht zu folgen.

Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, daß Nutzungsänderungen nur dann abstandsrechtlich beachtlich sind, wenn sie zu nachteiligeren Auswirkungen auf die Nachbargrundstücke in einem der durch § 5 LBO geschützten Belange führen können. Zu diesen Belangen gehören die Gewährleistung einer ausreichenden Besonnung, Belichtung und Belüftung sowie eines ausreichenden Brandschutzes. Dagegen ist es entgegen der Ansicht der Antragsteller nicht Aufgabe der Abstandsvorschriften, auch ein störungsfreies Wohnen zur Wahrung des nachbarlichen Wohnfriedens sicherzustellen. Gegen eine solche Annahme spricht vielmehr bereits, daß die jeweilige Nutzung des Gebäudes oder Gebäudeteils keinen Einfluß auf die Tiefe der vor der Außenwand liegenden Abstandsfläche hat. Die Tiefe der Abstandsfläche bestimmt sich gemäß § 5 Abs. 4 LBO nach der Wandhöhe, die nach § 5 Abs. 6 LBO mit einem bestimmten Faktor zu multiplizieren ist. Die Höhe dieses Faktors richtet sich danach, in welcher Art von Gebiet das Baugrundstück liegt. Die Tiefe der Abstandsfläche ist somit zwar davon abhängig, in welcher Umgebung sich das Baugrundstück befindet, nicht aber davon, in welcher Weise das betreffende Gebäude oder der betreffende Gebäudeteil genutzt werden soll. Ein Gebäude, das eine Kfz-Werkstatt oder eine Schreinerei aufnehmen soll, muß also - trotz der mit einer solchen Nutzung regelmäßig verbundenen erheblichen Störungen der Nachbarschaft - keine Abstandsfläche mit einer größeren Tiefe einhalten als dies etwa bei Errichtung eines schlichten Wohnhauses der Fall ist. Mit dieser Rechtslage ist die Annahme, daß § 5 LBO auch ein störungsfreies Wohnen durch einen Schutz vor Immissionen bezwecken solle, nicht zu vereinbaren. Der zu § 6 LBO a.F. vertretenen anderen Auffassung des 3. Senats (Urt. vom 26.11.1986 - 3 S 1723/86 -, VBlBW 1987, 465 sowie Beschl. v. 15.5.1991 - 3 S 1200/91), auf die sich die Antragsteller berufen, vermag der erkennende Senat daher nicht zu folgen. Einer Vorlage an den Großen Senat bedarf es gleichwohl nicht, da die Entscheidungen des 3. Senats nicht zu der gleichen Rechtsvorschrift ergangen sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 1, 159 S. 1 und 162 Abs. 3 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 13 Abs. 1 S. 1 GKG.

Der Beschluß ist unanfechtbar.