VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 25.05.1992 - 5 S 2775/91
Fundstelle
openJur 2013, 8198
  • Rkr:

1. Zur Zumutbarkeit eines kleinen Aussiedlerwohnheims in einem reinen Wohngebiet nach BauNVO 1968.

Erfordert das Wohl der Allgemeinheit, beispielsweise dringender Wohnbedarf, eine Befreiung, so wird durch dieses besondere öffentliche Interesse indiziert, daß es sich um einen vom Normalfall abweichenden Sonderfall handelt (im Anschluß an die Beschlüsse des 3. Senats und 8. Senats des VGH Bad-Württ vom 20.01.1992 - 3 S 2677/91 und 05.03.1992 - 8 S 77/92).

Tatbestand

Die Kläger sind Miteigentümer des mit einem Einfamilienwohnhaus bebauten Grundstücks Flst.Nr. An, auf der Gemarkung der Gemeinde B Ortsteil Im Westen grenzt ihr Grundstück an das Flst.Nr. 5, Aweg an. Dieses Grundstück ist mit einem im Jahre 1971 errichteten Einfamilienwohnhaus bebaut und etwa 750 qm groß. Aufgrund einer Nachtragsbaugenehmigung aus dem Jahre 1972 wurde das Einfamilienhaus Aweg als Fremdenpension, "Hotel", genutzt. Insgesamt wurden sieben Zimmer nebst zwei Frühstücksräumen und eine Drei-Zimmer-Wohnung in dem Haus eingerichtet. Das Grundstück der Kläger Flst.Nr. 288/10 und das Grundstück Flst.Nr. 288/5 liegen im Bereich des im Jahre 1974 erlassenen Bebauungsplan "S" (Änderung des Bebauungsplans "O"). Das Gebiet, in dem sich beide Grundstücke befinden, ist als reines Wohngebiet ausgewiesen. Im Norden des Grundstücks der Kläger ist ein Sondergebiet für eine Turnhalle und eine Schule ausgewiesen.

Das Landratsamt S-Kreis mietete Anfang 1990 für das beklagte Land das Anwesen Aweg bis zum 31.01.1995 an. In der Folgezeit wurden in dem ehemaligen "Hotel ca. 30 Aussiedler untergebracht. Ausweislich des Mietvertrages vom 12.01./07.02.1990 kann die Mietsache auch mit "Einzelwohnungen" genutzt werden sowie zur wohnheimmäßigen Unterbringung von Aussiedlern, Übersiedlern und anderen berechtigten Personen.

Schon vor Belegung des ehemaligen "Hotels, am 03.07.1990, teilte der Kläger Ziff. 2 dem Landratsamt S-Kreis mit, daß allenfalls eine Belegung des Hauses mit ca. 20 Personen von den Nachbarn für tolerierbar erachtet werde, es werde eine starke Geräuschbelästigung durch die in Aussicht genommene Belegung befürchtet. In der Folgezeit, nach erfolgter Belegung des Hauses, beschwerte sich der Kläger Ziff. 2 verschiedentlich über die vom Wohnheim ausgehenden Lärmimmissionen, insbesondere während der Mittagspause und zur Nachtzeit.

Mit Schriftsatz vom 20.07.1990 beantragten die Kläger unter Hinweis auf die in dem ehemaligen Hotel seit kurzem untergebrachten Aussiedler und die von diesen ausgehenden Störungen der Wohnruhe, die Zulässigkeit der Nutzung zu überprüfen und dagegen einzuschreiten.

Mit Bescheid vom 09.08.1990 lehnte das Landratsamt Kreis den Antrag auf Einschreiten in baurechtlicher Hinsicht, insbesondere auf Erlaß einer Nutzungsuntersagung wegen der Unterbringung von Aussiedlern in dem Gebäude Aeg in B ab. Zur Begründung führte es aus, zum einen sei die nunmehr betriebene Nutzung nicht genehmigungspflichtig, zum anderen könne - selbst wenn die formelle Rechtswidrigkeit der Nutzung unterstellt würde - die Nutzung nicht untersagt werden, da sie im Wege der Befreiung nach § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB genehmigungsfähig sei.

Den gegen diese Verfügung eingelegten Widerspruch wies das Regierungspräsidium Freiburg mit Widerspruchsbescheid vom 20.12.1990 zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Nutzung als Aussiedlerwohnheim für ca. 30 Aussiedler sei eine genehmigungspflichtige Nutzungsänderung nach § 51 Abs. 1 LBO i.V.m. § 52 Abs. 3 LBO, da für diese Nutzung weitergehende Anforderungen als für die Nutzung als kleiner Beherbergungsbetrieb zu beachten seien. Allein wegen des formellen Rechtsverstoßes der fehlenden Genehmigung könne allerdings die Nutzungsuntersagung nicht ausgesprochen werden. Maßgeblich sei vielmehr, daß die Nutzung auch materiell unzulässig sei. Zwar seien Einrichtungen für soziale Zwecke - wie hier das Aussiedlerwohnheim - in einem reinen Wohngebiet nach § 3 BauNVO (1968) nicht zulässig, für die Nutzungsänderung könne jedoch eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB erteilt werden, da Gründe des Wohls der Allgemeinheit dies erforderten und die Abweichung unter Würdigung der nachbarlichen Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar sei. Das Landratsamt S-Kreis habe deshalb ein Einschreiten zu Recht abgelehnt.

Auf den am 02.01.1991 zugestellten Widerspruchsbescheid haben die Kläger am 04.02.1991, einem Montag, Klage erhoben und beantragt, den Bescheid des Landratsamts S-Kreis vom 09.08.1990 und den Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Freiburg vom 20.12.1990 aufzuheben und das beklagte Land - Landratsamt S-Kreis - zu verurteilen, die Nutzung des Anwesens Aweg in Br als Unterbringungsheim für Aussiedler zu untersagen, hilfsweise, über den Antrag der Kläger auf Einschreiten im Wege der Nutzungsuntersagung bezüglich des Anwesens Aweg in B zu entscheiden und dabei die Rechtsauffassung des Gericht zu beachten. Zur Begründung haben sie vorgetragen, eine Befreiung dürfe im Hinblick auf die durch die Nutzung verursachten Störungen nicht erteilt werden. Es gehe von den Kindern der Aussiedler eine starke Lärmbeeinträchtigung aus. Es komme zu lautstarken Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Familien, insgesamt sei die derzeitige Nutzung ihnen nicht zumutbar.

Das beklagte Land ist der Klage entgegengetreten.

Mit Urteil vom 18.09.1991 hat das Verwaltungsgericht Freiburg den Klagen der Kläger unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide insoweit stattgegeben, als es das beklagte Land verurteilt hat, über den Antrag der Kläger auf Erlaß einer Nutzungsuntersagung erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gericht zu entscheiden. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Baurechtsbehörden hätten ihr bauaufsichtsrechtliches Ermessen fehlerhaft ausgeübt. Aufgrund der nachbarschützenden Festsetzungen des Bebauungsplans, die als Art der baulichen Nutzung ein reines Wohngebiet auswiesen, hätten die Kläger Anspruch darauf, daß über ihren Antrag rechtsfehlerfrei entschieden würde. Die Nutzung sei formell baurechtswidrig, da für die neue Nutzung als Aussiedlerwohnheim weitergehende Voraussetzungen als für die Nutzung als Beherbergungsbetrieb zu beachten seien. Allein die formelle Baurechtswidrigkeit rechtfertige allerdings das baupolizeiliche Einschreiten noch nicht. Indessen allerdings seien die angefochtenen Bescheide zu Unrecht davon ausgegangen, daß die Voraussetzungen für ein baupolizeiliches Einschreiten noch nicht vorlägen. Es sei derzeit ungewiß, ob die Baurechtsbehörden dem Vorhaben überhaupt zustimmen würden (§ 69 Abs. 2 LBO). Die Gemeinde B habe ihr Einvernehmen verweigert, ob das Landratsamt im Wege der Rechtsaufsicht die Zustimmung ersetzen werde, bleibe abzuwarten. Die untere Baurechtsbehörde habe darüber hinaus noch nicht die erforderliche Ermessensentscheidung im Zustimmungsverfahren getroffen. Diese Ermessensentscheidung könne sie nicht im Nutzungsuntersagungsverfahren prognostizieren und vorwegnehmen. Es erscheine im übrigen zweifelhaft, ob eine Befreiung erteilt werden könne. Zwar wäre eine Befreiung sowohl mit den öffentlichen Belangen wegen des dringenden Wohnraumbedarfs für Aussiedler vereinbar, aber die zu berücksichtigenden nachbarlichen Interessen stünden der Erteilung einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB entgegen. Die Nutzung des Anwesens als Übergangswohnheim beeinträchtige die Kläger nicht nur geringfügig, sondern nennenswert. Das, was die Kläger hinzunehmen hätten, beschränke sich nicht auf die Abwehr unzumutbarer Störungen, vielmehr seien, da die Nutzung grundsätzlich in dem reinen Wohngebiet unzulässig sei, die Anforderungen deutlich niedriger als im Falle des § 15 BauNVO anzusetzen. Eine Verpflichtung des beklagten Landes zum Erlaß der Nutzungsuntersagung bestehe jedoch nicht. Vielmehr bestehe nur ein Anspruch darauf, daß das bauaufsichtsrechtliche Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt werde.

Gegen das ihnen am 07.10.1991 zugestellte Urteil haben das beklagte Land am 22.10.1991 und die Kläger am 06.11.1991 jeweils Berufung eingelegt. Das beklagte Land beantragt, das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 18. September 1991 - 1 K 149/91 - zu ändern und die Klage insgesamt abzuweisen sowie die Berufungen der Kläger zurückzuweisen.

Zur Begründung trägt es vor, das Urteil des Verwaltungsgerichts vermöge nicht zu überzeugen. Zum einen handele es sich nicht um eine typische Gemeinschaftsunterkunft in Form einer sozialen Einrichtung, sondern um eine Wohnnutzung, die mit den Festsetzungen des Bebauungsplans als reines Wohngebiet in Einklang stehe. Allein die Umnutzung der Räume für den Beherbergungsbetrieb in eine Wohnnutzung hätte daher der Zustimmung unterlegen. Die Tatsache, daß es sich um eine Wohnnutzung und nicht um eine Heimunterbringung handele, ergebe sich aus einer Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 11.05.1990 - 8 S 220/90 -. Aus dieser Entscheidung folge, daß Asylbewerber oder Aussiedler, denen ermöglicht werde, sich für eine längere Zeit in den ihnen zugewiesenen Räumen aufzuhalten, dort wohnten. Insbesondere sei auch die potentielle Anzahl der Bewohner eines Anwesens kein taugliches Kriterium für die Abgrenzung eines Wohngebäudes von einer sozialen Einrichtung. Im übrigen könne die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Freiburg auch deshalb keinen Bestand haben, weil die Baurechtsbehörden berechtigt seien, innerhalb eines Nutzungsuntersagungsverfahren ihre Ermessensentscheidung hinsichtlich der Zustimmung zur Baugenehmigung zu prognostizieren. Dem Landratsamt S-Kreis als Baurechtsbehörde seien alle entscheidungserheblichen Tatsachen bekannt gewesen. Deshalb habe es zu Recht die Möglichkeit der Erteilung einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB prüfen dürfen. Unerheblich sei, daß die Gemeinde ihr Einvernehmen nicht erteilt habe, weil dies im Wege der Kommunalaufsicht ersetzt werden könnte. Im übrigen werde an der Auffassung, daß für das Vorhaben eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB hätte erteilt werden dürfen, festgehalten.

Die Kläger beantragen,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 18. September 1991 - 1 K 149/91 - insoweit zu ändern, als ihre Klagen abgewiesen wurden, und das beklagte Land zu verurteilen, die Nutzung des Anwesens Al in Br Unterbringungsheim für Aussiedler zu untersagen, sowie die Berufung des beklagten Landes zurückzuweisen.

Zur Begründung tragen sie vor, wegen der mit der Nutzung als Aussiedlerwohnheim verbundenen Lärm- und Geräuschimmissionen hätten sie einen Anspruch darauf, daß die Nutzung untersagt werde. Es könne nicht angenommen werden, daß die etwa 30 Bewohner des Aussiedlerheims nicht anderweitig untergebracht werden könnten. Das Land habe genügend Möglichkeiten, die Aussiedler anderen Orten zuzuweisen. Nur durch die Nutzungsuntersagung könnten die übermäßigen Beeinträchtigung beseitigt werden, so daß eine Verpflichtung auf baupolizeiliches Einschreiten bestehe. Die Klägerin Ziff. 1 könne den körperlichen und seelischen Belastungen, die die Nutzung als Aussiedlerwohnheim nach sich ziehe, gesundheitlich nicht mehr standhalten.

Der Senat hat das Anwesen Aweg Flst.Nr. während der mündlichen Verhandlung vom 20.05.1992 in Augenschein genommen. Insoweit wird auf die Niederschrift vom 20.05.1992 verwiesen.

Dem Senat liegen im übrigen ein Heft Bauakten und ein Heft Akten des Ausgleichsamts des Landratsamts S-Kreis, ein Heft Widerspruchsakten des Regierungspräsidiums F und drei Hefte Bauplanungsakten der Gemeinde B sowie die Akten des erstinstanzlichen Verfahrens vor. Auf den Inhalt dieser Akten sowie auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze wird ergänzend Bezug genommen.

Gründe

Die zulässige Berufung des beklagten Landes gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 18.09.1991 - 1 K 149/91 - ist begründet. Das Verwaltungsgericht hätte die Klagen der Kläger insgesamt abweisen müssen (1.). Die Berufungen der Kläger waren zurückzuweisen, denn sie haben keinen Anspruch darauf, daß das beklagte Land verurteilt wird, die Nutzung des Anwesens Aweg in B als Unterbringungsheim für Aussiedler zu untersagen bzw. letztlich zu unterlassen (2.).

1. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts Freiburg haben die Kläger keinen Anspruch darauf, daß über ihren Antrag auf Untersagung der Nutzung des Anwesens Aweg als Unterbringungsheim für Aussiedler erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts entschieden wird. Vielmehr hat das Regierungspräsidium in der Widerspruchsentscheidung vom 20.12.1990 den Antrag auf baupolizeiliches Einschreiten unter fehlerfreier Anwendung seines Ermessens abgelehnt.

Nach der Rechtsprechung des erkennenden Gerichtshofs (vgl. Beschl. v. 13.12.1991 - 3 S 2358/91 -, VBlBW 1992, 148 f. m.w.N.) ist der Anspruch auf baupolizeiliches Einschreiten eines Nachbarn zunächst davon abhängig, daß ein Verstoß gegen Rechtsnormen vorliegt, die zumindest auch dem Schutz des Nachbarn zu dienen bestimmt sind. Die Verletzung nachbarschützender Vorschriften ist also Voraussetzung dafür, daß dem Nachbarn ein Anspruch auf fehlerfreie Ausübung des Ermessens der Baurechtsbehörde bei ihrer Entscheidung darüber erwächst, ob sie gegen einen rechtswidrigen Zustand einschreiten soll. Eine - weitergehende, uneingeschränkte - Verpflichtung der Baurechtsbehörde zum Einschreiten ist grundsätzlich nur bei hoher Intensität der Störung oder bei Gefährdung eines wesentlichen Rechtsguts gegeben (vgl. Beschl. d. erk. Gerichtshofs v. 21.12.1988 - 8 S 2948/88 -; Beschl. v. 26.04.1990 - 3 S 2330/89 -). Unter Berücksichtigung dieser Voraussetzungen des Anspruch auf baupolizeiliches Einschreiten waren die Klagen im vorliegenden Verfahren abzuweisen.

Zwar ist die Nutzung des Gebäudes Aweg das früher als kleine Fremdenpension diente, formell baurechtswidrig, denn für die Nutzung als Aussiedlerwohnheim gelten - schon bauplanungsrechtlich - weitergehende Anforderungen als für den bisher betriebenen kleinen Beherbergungsbetrieb. Entgegen der Auffassung des beklagten Landes handelt es sich bei dem Anwesen Aweg mit seiner derzeitigen Nutzung nicht mehr um ein Wohngebäude, sondern um eine Anlage für soziale Zwecke. Die Inaugenscheinnahme des Gebäudes hat ergeben, daß die Unterbringung der Aussiedler in dem Haus Aweg Heimcharakter hat. Die Aussiedler sind überwiegend in Zwei-Bett-Zimmern untergebracht und benutzen die sanitären Anlagen sowie die ihnen zur Verfügung stehenden zwei Küchen gemeinsam. Außerdem wird das Heimleben durch eine Heimordnung reglementiert, deren Einhaltung durch ein Hausmeisterehepaar, das vom beklagten Land eingesetzt worden ist, überwacht werden soll.

Erweist sich demnach die Nutzung derzeit als formell rechtswidrig, so führt dies aber noch nicht zu einem Anspruch auf Nutzungsuntersagung, denn Voraussetzung dafür ist sowohl die formelle als auch die materielle Baurechtswidrigkeit der geänderten Nutzung (vgl. Urt. d. erk. Senats v. 22.09.1989 - 5 S 3086/88 -, NVwZ 1990, 480). Das Regierungspräsidium hat daher zu Recht in seine Ermessenserwägungen die materielle Genehmigungsfähigkeit der Nutzung als Aussiedlerwohnheim eingestellt. Die Nutzung als Aussiedlerwohnheim steht im vorliegenden Verfahren zunächst im Widerspruch zu den Festsetzungen des Bebauungsplans der Gemeinde B vom 19.03.1974. Durch Änderung und Erweiterung des Bebauungsplans "O" wurde für das hier streitige Gebiet die Festsetzung "reines Wohngebiet" ausgewiesen, die nachbarschützenden Charakter hat und mit der die Nutzung als Aussiedlerwohnheim grundsätzlich nicht in Einklang steht. Maßgeblich für die Beurteilung der Zulässigkeit der Nutzung ist nämlich die Baunutzungsverordnung i.d.F. der Ersten Verordnung zur Änderung der Baunutzungsverordnung vom 26.11.1968, in Kraft getreten zum 01.01.1969 (BGBl. I S. 1233, 1237) - im Folgenden: BauNVO 1968 -. Nach § 3 BauNVO 1968 waren Anlagen für soziale Zwecke in reinen Wohngebieten nicht zulässig, sondern lediglich Wohngebäude sowie nach § 3 Abs. 3 BauNVO 1968 ausnahmsweise Läden und nicht störende Handwerksbetriebe, die zur Deckung des täglichen Bedarfs für die Bewohner des Gebietes dienten, sowie kleine Betriebe des Beherbergungsgewerbes. § 3 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO i.d.F. der Bekanntmachung vom 23.01.1990 (BGBl. I S. 127) - BauNVO 1990 -, wonach Anlagen für soziale Zwecke ausnahmsweise zugelassen werden können, ist auf den im Jahre 1974 aufgestellten Bebauungsplan unanwendbar.

Ausgehend davon, daß die Nutzung des Gebäudes weg als Aussiedlerwohnheim gegen die nachbarschützende Festsetzung "reines Wohngebiet" im Bebauungsplan verstößt, hat das Regierungspräsidiums zu Recht die Möglichkeit der Erteilung einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB in seine Ermessensentscheidung eingestellt und grundsätzlich zu Recht bejaht. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts Freiburg steht dem nicht entgegen, daß die Gemeinde ihr Einvernehmen zu der geänderten Nutzung verweigert hat, denn der Erteilung des Einvernehmens kommt nur eine objektiv-rechtliche Bedeutung zu. Die Erteilung des Einvernehmens dient nicht dem Schutze der nachbarlichen Interessen, so daß das fehlende Einvernehmen der Gemeinde der Prüfung des Regierungspräsidiums, ob die Erteilung einer Befreiung in Betracht kommt, nicht entgegensteht. Im Gegensatz zur Auffassung des Verwaltungsgerichts Freiburg ist das Regierungspräsidium bei seiner Entscheidung über ein baupolizeiliches Einschreiten auch nicht grundsätzlich gehindert, die Ermessensentscheidung der zuständigen Baurechtsbehörde über die Erteilung einer Befreiung zu prognostizieren. Rechtliche Hinderungsgründe für eine derartige Ermessensentscheidung sind nicht ersichtlich. Das Regierungspräsidium ist somit befugt, im Rahmen eines Antrags auf baupolizeiliches Einschreiten gegen eine formell rechtswidrige Nutzung die materielle Genehmigungsfähigkeit der Nutzung auch in bezug auf eine in Betracht kommende Befreiung zu würdigen.

Gemäß § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB kann von den Festsetzungen eines Bebauungsplans im Einzelfall befreit werden, wenn zum einen Gründe des Wohls der Allgemeinheit die Befreiung erfordern und zum anderen die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Die zunächst erforderlichen Gründe des Wohls der Allgemeinheit für die Erteilung einer Befreiung werden durch § 4 Abs. 1 BauGB-MaßnG konkretisiert. Nach dieser Bestimmung liegen Gründe des Wohls der Allgemeinheit i.S. von § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB bei dringendem Wohnbedarf, auch zur vorübergehenden Unterbringung und zum vorübergehenden Wohnen, vor. Bei vorübergehender Unterbringung und vorübergehendem Wohnen ist die Befreiung nicht auf Einzelfälle beschränkt. Angesichts der Wohnraumknappheit und insbesondere unter Berücksichtigung der Schwierigkeiten, die die Unterbringung von Aussiedlern dem beklagten Land bereitet, ist es nicht zu beanstanden, daß grundsätzlich vom Regierungspräsidium Freiburg angenommen wurde, es bestehe ein dringender Bedarf zur Unterbringung der Aussiedler. Der Vertreter des beklagten Landes hat in der mündlichen Verhandlung dargelegt, daß der S Kreis nach wie vor Schwierigkeiten bei der Unterbringung von Aussiedlern hat, da er teilweise andere Unterbringungsmöglichkeiten für Aussiedler räumen müßte. Im Gegensatz zur Ansicht der Kläger steht dies aber der Erteilung einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB nicht entgegen. Gründe des Wohls der Allgemeinheit "erfordern" eine Befreiung nicht erst dann, wenn sie das einzige Mittel ist, den Belangen der Allgemeinheit zu entsprechen. Nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift genügt es vielmehr, wenn es zur Wahrnehmung des öffentlichen Interesses vernünftigerweise geboten ist, das Vorhaben mit Hilfe der Befreiung an der vorgesehenen Stelle zu verwirklichen. Dies kann nach den Umständen des Einzelfalles auch dann gegeben sein, wenn andere Möglichkeiten zur Erfüllung des Interesses zur Verfügung stehen (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 20.01.1992 - 3 S 2677/91 - m.w.N.; Beschl. v. 05.03.1992 - 8 S 77/92 -). Das Erfordernis der vorübergehenden Unterbringung der Aussiedler im Interesse der Allgemeinheit indiziert damit eine atypische Sondersituation, die grundsätzlich die Erteilung einer Befreiung rechtfertigt (vgl. nochmals Beschl.v. 05.03.1992, a.a.O.).

Zu Recht hat das Regierungspräsidium im Widerspruchsbescheid auch ausgeführt, daß die Befreiung unter Berücksichtigung der nachbarlichen Interessen ermessensfehlerfrei erteilt werden kann. Das Ausmaß und die Intensität dessen, was dem Nachbarn jeweils noch zugemutet werden kann, läßt sich nicht statistisch-absolut festlegen, sondern ist jeweils relativ-wertend zu ermitteln. Bei dieser Wertung sind alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, und der betroffene Nachbar kann um so mehr an Rücksichtnahme verlangen, je empfindlicher seine Stellung durch die planabweichende Nutzung berührt wird (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 16.02.1990 - 3 S 155/90 - m.w.N.).

Unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere auch unter Einbeziehung der hier grundsätzlich schutzwürdigen Stellung der Kläger, ergibt sich, daß eine Befreiung für das Vorhaben erteilt werden könnte, wie das Regierungspräsidium zu Recht ausgeführt hat. Zunächst ist zu berücksichtigen, daß es sich hier - auch wenn, wie die Kläger behaupten, das Gebäude zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat mit 32 Aussiedlern belegt ist - um ein kleines Aussiedlerwohnheim handelt, das insgesamt schon wegen seiner Größe nur relativ wenig Unruhe in das Wohngebiet hineinträgt. Hinzu kommt, daß der - vergleichsweise geringe - Zu- und Abfahrtsverkehr zu dem Aussiedlerwohnheim über den Aweg selbst erfolgt, der wesentlich tiefer liegt als das Gebäude der Kläger. Das Wohngebäude der Kläger ist vom Zu- und Abfahrtsverkehr durch das Gebäude Aweg sowie durch den Höhenunterschied abgeschirmt, so daß nennenswerte Beeinträchtigungen durch diesen Verkehr nicht hervorgerufen werden. Die Kläger rügen auch vordringlich den von den Bewohnern, insbesondere den Kindern ausgehenden Lärm, den diese etwa durch die Benutzung des Außenwohnbereichs verursachen. Derartige "Wohngeräusche" sind aber nach Auffassung des Senats auch in einem reinen Wohngebiet grundsätzlich zumutbar, denn Kinderlärm ist in einem reinen Wohngebiet ortsüblich und sozial adäquat. Von Kindern ausgehende Beeinträchtigungen sind daher grundsätzlich von den Anwohnern hinzunehmen (vgl. etwa zur Zulässigkeit eines Kinderspielplatzes in einem allgemeinen Wohngebiet: BVerwG, Urt. v. 12.12.1991 - 4 C 5.88 -). Auch Belästigungen, die dadurch entstehen, daß sich die Bewohner des Aussiedlerwohnheims im Freien aufhalten, sind zumutbar und können ebensowenig abgewehrt werden wie Geräusche oder Störungen von anderen Nachbarn, die sich im Außenwohnbereich aufhalten. Beeinträchtigungen etwa durch ruhestörenden Lärm müssen grundsätzlich mit polizeilichen Mitteln verhindert bzw. unterbunden werden, und es gibt keinen Erfahrungssatz dahingehend, daß es bei einer bestimmten Belegungsdichte von Wohnraum zwangsläufig zu unzumutbaren Lärmbelästigungen kommt (vgl. nochmals VGH Bad.-Württ., Urt. v. 11.05.1990 - 8 S 220/90 -; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 02.04.1992 - 5 S 2701/91 -). Unter Berücksichtigung des Umstandes, daß es sich im vorliegenden Fall um ein kleines Aussiedlerwohnheim handelt und typische "Wohngeräusche" den umliegenden Grundstücksnachbarn prinzipiell zumutbar sind, bestehen somit keine Bedenken, eine Befreiung auch unter Würdigung der nachbarlichen Interessen der Kläger zuzulassen. Soweit vorgetragen wird, insbesondere die Klägerin leide unter dem von dem Aussiedlerwohnheim ausgehenden Kinderlärm, ist nochmals darauf hinzuweisen, daß auch keine Handhabe besteht, etwa einer kinderreichen Familie die Nutzung des Hauses zu verwehren, und somit die sie störenden Geräusche typischerweise auch in einem Wohngebiet zulässig und daher zumutbar sind.

Wie bereits im Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Freiburg ausgeführt ist, sollte allerdings das beklagte Land dafür Sorge tragen, daß die formell rechtswidrige Nutzung des Aussiedlerwohnheims legalisiert wird. Im Rahmen dieser Legalisierungsentscheidung sollte nicht unberücksichtigt bleiben, daß der Charakter des Gebäudes Aweg als kleines Aussiedlerwohnheim gewährleistet bleibt, damit nicht etwa durch eine Überbelegung des Heims für die Kläger unzumutbare Beeinträchtigungen auftreten.

2. Da das Regierungspräsidium in fehlerfreier Anwendung seines Ermessens im Widerspruchsbescheid zu Recht ausgeführt hat, daß für die Nutzung des Gebäudes Aweg als Aussiedlerwohnheim die Erteilung einer Befreiung in Betracht kommt, weil für die Kläger durch die geänderte Nutzung unzumutbare Beeinträchtigungen nicht entstehen, besteht auch kein Anspruch der Kläger auf unbedingtes Einschreiten gegen die geänderte Nutzung. Die Voraussetzungen für eine Ermessensreduzierung auf lediglich eine richtige Entscheidung, nämlich die Untersagung der Nutzung zu Gunsten der Kläger, liegen ersichtlich nicht vor.