OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 17.03.1998 - 18 A 4002/96
Fundstelle
openJur 2012, 77692
  • Rkr:
Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der 1967 im Libanon geborene Kläger ist libanesischer

Staatsangehöriger. Er reiste im November 1985 als Asylbewerber

in das Bundesgebiet ein. Nach erfolglosem Abschluß seines

Asylverfahrens wurde er zunächst geduldet. Am 5. September

1990 heiratete er eine deutsche Staatsangehörige. Danach

erhielt er mehrmals eine befristete und am 12. August 1994

eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Seit Ende Oktober 1995

ist sein Aufenthaltsort unbekannt.

Der Kläger wurde wie folgt rechtskräftig bestraft:

1. Urteil des Amtsgerichts L vom 8. Juni 1988

- - wegen

gemeinschaftlichen Hausfriedensbruchs in Tateinheit mit

gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung, wegen

gemeinschaftlichen Diebstahls in Tateinheit mit

gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung, wegen

Diebstahls in drei Fällen, wegen vorsätzlichen Fahrens

ohne Fahrerlaubnis und wegen Hausfriedensbruchs zu einer

Jugendstrafe von neun Monaten auf Bewährung;

2. Urteil des Amtsgerichts L vom 11. August

1988 - - wegen

Sachbeschädigung, fahrlässigen Fahrens ohne Fahrerlaubnis,

Diebstahls und fortgesetzten gemeinschaftlichen Diebstahls

unter Einbeziehung des Urteils zu 1. zu einer

Einheitsjugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten auf

Bewährung;

3. Urteil des Amtsgerichts D vom 12. Juni 1989

- - wegen Beihilfe zum versuchten

Diebstahl in einem besonders schweren Fall zu einer

Freiheitsstrafe von acht Monaten auf Bewährung;

4. Strafbefehl des Amtsgerichts L vom 31. März

1993 - - wegen

Sachbeschädigung zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu

je 50,00 DM;

5. Urteil des Amtsgerichts D vom 21. April 1994

- - wegen fortgesetzten verbotenen

gewerbsmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in

nicht geringen Mengen zu einer Freiheitsstrafe von einem

Jahr und neun Monaten auf Bewährung. Dabei ging das

Gericht davon aus, daß der Kläger nicht vorbestraft sei.

Der Kläger war von Anfang Januar 1993 bis zur Verhaftung

eines Mittäters Anfang Februar 1993 beteiligt am Verkauf

von etwa 200 g Heroin bzw. Kokain. In dieser Sache befand

sich der Kläger rund sieben Monate in Untersuchungshaft.

Das Amtsgericht D erließ durch Beschluß vom

12. September 1997 nach Ablauf der Bewährungsfrist die

Freiheitsstrafe.

Im Oktober 1989 hörte der Beklagte den Kläger erstmals zu

einer beabsichtigten Aufenthaltsbeendigung an. Dem trat der

Kläger u. a. entgegen mit dem Hinweis auf die positive

Einschätzung seines Bewährungshelfers sowie die Absicht, seine

deutsche Verlobte heiraten zu wollen.

Nach erneuter Anhörung, bei der der Kläger geltend machte,

zu Unrecht wegen eines Drogendeliktes verurteilt worden zu

sein, wies ihn der Beklagte mit Bescheid vom 7. April 1995

unter Anordnung der sofortigen Vollziehung unbefristet aus dem

Bundesgebiet aus und drohte ihm die Abschiebung in den Libanon

an. Zur Begründung wurde u. a. ausgeführt: Der Kläger erfülle

den Regelausweisungsgrund nach § 47 Abs. 2 Nr. 2 AuslG. Da er

mit einer deutschen Ehefrau in familiärer Lebensgemeinschaft

lebe, genieße er besonderen Ausweisungsschutz; über seine

Ausweisung sei nach Ermessen zu entscheiden. Das Verhalten des

Klägers stelle eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche

Sicherheit und Ordnung dar. Aufgrund der zahlreichen

Straftaten sei nicht erkennbar, daß sich der Kläger im

Bundesgebiet integriert habe. Die in ihm steckende kriminelle

Energie habe sich stetig gesteigert, so daß die nächste

Straftat nur eine Frage der Zeit sei. Nach einer umfassenden

Güter- und Interessenabwägung überwiege auch unter

Berücksichtigung des 10jährigen Aufenthalts im Bundesgebiet

und der Ehe mit einer deutschen Staatsangehörigen das

öffentliche Interesse an der Ausweisung.

Den vom Kläger eingelegten Widerspruch wies die

Bezirksregierung durch Widerspruchsbescheid vom

5. März 1996 zurück.

Der Kläger hat am 1. April 1996 Klage erhoben und trägt im

wesentlichen vor: Der Beklagte habe weder seine Straftaten

noch seine sonstigen Lebensumstände hinreichend gewürdigt. Bei

seiner Einreise ins Bundesgebiet sei er besonders gefährdet

gewesen. Sehe man von der Verurteilung vom 21. April 1994 ab,

sei er seit spätestens Anfang 1989 strafrechtlich in einer

irgendwie ins Gewicht fallenden Weise nicht mehr aufgefallen.

Zuletzt sei er aufgrund einer äußerst dürftigen Beweislage

verurteilt worden. Er habe keinen Zugang zu

Drogenhändlerkreisen gefunden, sondern lediglich über einen

Zeitraum von wenigen Wochen mit einem ihm seit längerem

bekannten Mann Drogen gehandelt. Die Strafaussetzung zur

Bewährung stelle einen Vertrauenserweis dar, der im krassen

Gegensatz zur Prognose des Beklagten stehe. Inzwischen habe er

einen soliden wirtschaftlichen Boden durch Erwerbstätigkeit

gefunden; von Ende 1993 bis Mai 1995 sei er im Baugewerbe

erwerbstätig gewesen. Sein einwandfreies Verhalten habe er

gegenüber Arbeitgebern, Arbeitskollegen, Sportkameraden und

seiner deutschen Ehefrau unter Beweis gestellt.

Das Verwaltungsgericht hat durch den angefochtenen

Gerichtsbescheid die Klage als unzulässig abgewiesen, weil der

Kläger keine ladungsfähige Anschrift mitgeteilt habe und die

Klage damit nicht den Anforderungen des § 82 Abs. 1 VwGO

entspreche.

Der Kläger hat fristgerecht Berufung eingelegt. Er ist der

Ansicht, daß in der Klageschrift allein sein Name genannt

werden müsse. Darüber hinaus verweist er darauf, daß sich

aufgrund des zwischenzeitlich erfolgten Straferlasses die

Prognose des Beklagten als falsch erwiesen habe.

Der Kläger beantragt,

den angefochtenen Gerichtsbescheid

zu ändern und die Ordnungsverfügung des

Beklagten vom 7. April 1995 sowie den

Widerspruchsbescheid der

Bezirksregierung vom 5. März

1996 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er vertritt die Auffassung, daß die Klage unzulässig sei.

Sie sei aber auch unbegründet. Entgegen der ergänzenden

Hinweise des Verwaltungsgerichts im Gerichtsbescheid sei es im

vorliegenden Fall möglich gewesen, auch ohne Beiziehung der

Strafakten eine ermessensfehlerfreie Entscheidung zu

treffen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes

wird auf den Inhalt der Gerichtsakten mitsamt der Akten OVG NW

18 B 2722/97 und 18 B 3006/95 (VG Düsseldorf 24 L 1766/95),

der Verwaltungsvorgänge des Beklagten und der Bezirksregierung

sowie der beigezogenen Strafakten Bezug

genommen.

Gründe

Die Berufung ist nicht begründet. Das Verwaltungsgericht

hat die Klage zu Recht als unzulässig abgewiesen (1.). Darüber

hinaus ist sie auch unbegründet (2.).

1. Die Klage genügt nicht den sich aus § 82 Abs. 1 Satz 1

VwGO ergebenden Anforderungen. Danach muß die Klage den Kläger

bezeichnen. Dazu gehört auch die Angabe seines Wohnortes und

die Mitteilung eines während des Gerichtsverfahrens

vorgenommenen Wohnungswechsels (§ 173 VwGO iVm §§ 253 Abs. 4,

130 Nr. 1 ZPO). Daran fehlt es hier. Die Anschrift des Klägers

ist seit Ende Oktober 1995 unbekannt. Die ihm zur Bekanntgabe

seines Wohnortes gemäß § 82 Abs. 2 VwGO gesetzte Frist hat er

ungenutzt verstreichen lassen. Er hat lediglich durch seinen

Prozeßbevollmächtigten vortragen lassen, daß dieser mit ihm in

Verbindung stehe. Das reicht nicht.

Der Senat schließt sich in der Frage, ob ein Kläger seine

Anschrift im Klageverfahren nennen muß, der bereits von

mehreren Senaten des Gerichts,

vgl. Urteil vom 18. Juni 1993 - 8 A

1447/90 -, NVwZ-RR 1994, 124, Beschluß

vom 6. März 1996 - 19 E 944/95 -, NVwZ-

RR 1997, 390 = NWVBl. 1996, 39, Urteil

vom 22. August 1996 - 25 A 7536/95 -,

m.w.N.,

vertretenen Rechtsauffassung an, die diese Frage bejaht. Im

wesentlichen wird dies damit begründet, daß die Anschrift des

Klägers notwendig sei, um ihm gegenüber ggf. Kostenforderungen

durchsetzen zu können und um im Falle der Anordnung des

persönlichen Erscheinens (§ 95 Abs. 1 VwGO) dem Kläger die

auch bei bestehender Prozeßvertretung gesetzlich geforderte

Mitteilung hierüber zukommen lassen zu können (§ 173 VwGO iVm

§ 141 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 ZPO).

Darüber hinausgehend bewertet der Senat die Inanspruchnahme

des Gerichts bei gleichzeitiger Geheimhaltung des

Aufenthaltsortes und der Anschrift durch einen Kläger als

rechtsmißbräuchlich. Ein solches Verhalten verstößt gegen den

auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsatz von Treu und

Glauben. Wer für sich gerichtlichen Rechtsschutz beansprucht,

darf sich seiner Rolle als Verfahrensbeteiligter mitsamt der

daraus fließenden Pflichten und Risiken nicht faktisch

entziehen, sondern muß sich für die Durchführung des

Klageverfahrens uneingeschränkt zur Verfügung stellen.

Anderenfalls verhält er sich widersprüchlich. Dementsprechend

muß verlangt werden, daß ein Kläger seinen Wohnort dem Gericht

bekannt gibt. § 82 Abs. 1 Satz 1 VwGO stellt für den Inhalt

der Klageschrift Mindestanforderungen auf, die für die gesamte

Verfahrensdauer erfüllt sein müssen und von einem redlichen

Kläger auch ohne weiteres erfüllt werden können.

Es sind keine Umstände erkennbar oder vorgetragen, die

abweichend von diesem Grundsatz den Kläger ausnahmsweise

berechtigen könnten, seine Anschrift nicht mitzuteilen. Soweit

er in diesem Zusammenhang auf "den widerrechtlich zur

Abschiebung entschlossenen .. Beklagten" verweist und damit

ausdrücken will, er wolle sich mit seinem Verhalten allein

einer von ihm als rechtswidrig beurteilten Abschiebung durch

den Beklagten entziehen, geht dieser Einwand sowohl

verfahrensrechtlich als auch materiellrechtlich in jeder Weise

fehl. Der Beklagte war aufgrund des angeordneten

Sofortvollzugs seiner Ausweisungsverfügung berechtigt, den

Kläger bereits während des Klageverfahrens abzuschieben.

Dagegen ist unter dem Gesichtspunkt eines effektiven

Rechtsschutzes, wie er in Art. 19 Abs. 4 GG zum Ausdruck

kommt, nichts einzuwenden. Denn in dem erfolglos betriebenen

Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes war der

angefochtene Bescheid einer ersten gerichtlichen Prüfung

unterzogen worden. Nach deren Ergebnis war es dem anwaltlich

vertretenen Kläger zuzumuten, das Klageverfahren vom Ausland

aus weiter zu betreiben. Davon abgesehen ist gegen die

Ausweisung - wie im einzelnen später noch auszuführen ist -

und in der Folge auch gegen deren Vollzug aus Gründen des

materiellen Rechts nichts einzuwenden.

2. Die Klage ist auch unbegründet. Der Beklagte hat die

Ausweisung des Klägers, für deren Beurteilung die Sach- und

Rechtslage im Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids

maßgebend ist,

vgl. BVerwG, Urteil vom 19. November

1996 - 1 C 25.94 -, InfAuslR 1997,

152,

rechtsfehlerfrei verfügt.

Rechtsgrundlage für die Ausweisung ist § 47 Abs. 2 Nr. 2

AuslG. Danach wird in der Regel u. a. ausgewiesen, wer den

Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes zuwider ohne

Erlaubnis mit Betäubungsmitteln handelt. Das ist hier der

Fall. Der Kläger ist durch rechtskräftiges Urteil des

Amtsgerichts D vom 21. April 1994 wegen fortgesetzten

verbotenen gewerbsmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln

in nicht geringen Mengen zu einer Freiheitsstrafe von einem

Jahr und neun Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung

verurteilt worden.

Der Beklagte ist zutreffend davon ausgegangen, daß der

Kläger gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AuslG nur aus

schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und

Ordnung ausgewiesen werden darf, weil er mit seiner deutschen

Ehefrau in familiärer Lebensgemeinschaft lebt. Infolge des

erhöhten Ausweisungsschutzes ist über die Ausweisung

abweichend von § 47 Abs. 2 Nr. 2 gemäß § 47 Abs. 3 Satz 2

AuslG nach Ermessen zu entscheiden. Beide Vergünstigungen

kommen dem Kläger zugute.

Die Ausweisung ist aus schwerwiegenden Gründen der

öffentlichen Sicherheit und Ordnung gerechtfertigt. Derartige

Gründe liegen vor, wenn das öffentliche Interesse an der

Erhaltung von Sicherheit und Ordnung im Vergleich zu dem vom

Gesetz bezweckten Schutz des Ausländers ein deutliches

Óbergewicht hat. Die Beurteilung, die voller

verwaltungsgerichtlicher Nachprüfung unterliegt, ist dabei an

den Ausweisungszwecken auszurichten. Wird - wie hier - die

Ausweisung spezialpräventiv begründet, sind die genannten

Anforderungen unter zwei Voraussetzungen gegeben: Zum einen

muß dem Ausweisungsanlaß ein besonderes Gewicht zukommen, das

sich bei Straftaten aus ihrer Art, Schwere und Häufigkeit

ergibt. Zum anderen müssen Anhaltspunkte dafür bestehen, daß

eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und

Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft droht

und damit von ihm eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges

Schutzgut ausgeht. Dazu genügt es nicht, daß lediglich eine

entfernte Möglichkeit weiterer Störungen besteht.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 11. Juni

1996 - 1 C 24.94 -, InfAuslR 1997, 8,

10.

Die Verurteilung wegen gewerbsmäßigen Handeltreibens mit

Heroin und Kokain stellt einen besonders gewichtigen

Ausweisungsanlaß dar. Das ergibt sich aus der Art und Schwere

der Straftat. Die Beteiligung am illegalen Heroin- und

Kokainhandel gehört zu den besonders gefährlichen und schwer

zu bekämpfenden Delikten.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Januar

1997 - 1 C 17.94 -, InfAuslR 1997, 296,

297.

Auch die erforderliche Wiederholungsgefahr war bei Erlaß des

Widerspruchsbescheids gegeben. Die Beurteilung der Frage, ob

neue Verfehlungen durch einen Ausländer ernsthaft drohen,

erfordert im Hinblick auf den Grundsatz der

Verhältnismäßigkeit eine an Art und Ausmaß der möglichen

Schäden ausgerichtete Differenzierung. Die erforderliche

Gefährdung kann im Einzelfall schon nach einer einzigen

strafgerichtlichen Verurteilung aus dem abgeurteilten

Verhalten und der darin zum Ausdruck kommenden

Gesamtpersönlichkeit des Ausländers geschlossen werden. Das

gilt vor allem bei schweren strafrechtlichen Verfehlungen, zu

denen namentlich Fälle des illegalen Rauschgifthandels

gehören. Dabei kann in derartigen Fällen die Schwere der in

einem Wiederholungsfalle zu erwartenden Schäden auch für das

erforderliche Maß der Wahrscheinlichkeit neuer Verfehlungen

bedeutsam sein.

Vgl. BVerfG, Beschluß vom

12. September 1995 - 2 BvR 1179/95 -,

InfAuslR 1995, 397; BVerwG, Beschluß

vom 2. Juni 1983 - 1 B 80.83 -,

Buchholz 402.24 § 10 AuslG Nr. 96,

Beschluß vom 17. Oktober 1984 - 1 B

61.84 -, InfAuslR 1995, 33.

Selbst eine dem Ausländer gewährte Aussetzung der

Strafvollstreckung zur Bewährung steht einer spezialpräventiv

begründeten Ausweisung nicht von vornherein entgegen. Dies

erfordert indessen eine eingehende Würdigung der Schwere der

Straftat und eine Auseinandersetzung mit den Gründen, die den

Strafrichter zur Aussetzung der Freiheitsstrafe veranlaßt

haben.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 11. Juni

1996 - 1 C 24.94 -, InfAuslR 1997, 8,

11.

Zwar sind Ausländerbehörde und Gericht nicht an die

tatsächlichen Feststellungen und Beurteilungen im Strafurteil

gebunden. Sie müssen aber der sachkundigen strafrichterlichen

Prognose bei ihrer Beurteilung der Wiederholungsgefahr

wesentliche Bedeutung beimessen und dürfen von ihr nur bei

Vorliegen überzeugender Gründe abweichen. Solche können z. B.

dann gegeben sein, wenn umfassenderes Tatsachenmaterial zur

Verfügung steht, das genügend zuverlässig eine andere

Einschätzung der Wiederholungsgefahr erlaubt.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 27. Oktober

1978 - 1 C 91.76 -, DVBl. 1979, 288,

und vom 28. Januar 1997 - 1 C 17.94 -,

InfAuslR 1997, 296, 297.

So ist es hier. Das Amtsgericht D ist irrig davon

ausgegangen, daß der Kläger nicht vorbestraft ist. Tatsächlich

existierten vier Vorstrafen aus dem Zeitraum vom 8. Juni 1988

bis 31. März 1993, die ausnahmslos nicht zur Tilgung aus dem

Bundeszentralregister gelangten, weil zu keinem Zeitpunkt für

alle Verurteilungen die Voraussetzungen der Tilgung vorlagen

47 Abs. 3 BZRG). Die Urteile des Amtsgerichts L

vom 8. Juni 1988 und 11. August 1988 unterliegen jeweils einer

fünfjährigen Tilgungsfrist (§ 46 Abs. 1 Nr. 1 c) und d) BZRG)

die bei Erlaß des Urteils des Amtsgerichts D vom

12. Juni 1989 noch nicht abgelaufen war. Für Letzteres beträgt

die Tilgungsfrist aufgrund der Vorstrafen sogar fünfzehn Jahre

46 Abs. 1 Nr. 2 b) und Nr. 3 BZRG).

Soweit im Urteil des Amtsgerichts D vom 21. April

1994 davon ausgegangen wird, daß der Kläger ausweislich des

Strafregisterauszuges nicht vorbestraft ist, hat dies

bezüglich der drei ältesten Verurteilungen seinen Grund allein

darin, daß diesen abweichende Angaben zum Namen und

Geburtsdatum des Klägers zugrunde liegen. In ihnen wird das

Geburtsdatum des Klägers jeweils mit 10. November 1967

angegeben, während es die anderen beiden strafgerichtlichen

Entscheidungen mit dem 10. Oktober 1967 ausweisen. Der Name

des Klägers lautet im Urteil des Amtsgerichts L vom

8. Juni 1988 , im Urteil desselben

Gerichts vom 11. August 1988 , im Urteil des

Amtsgerichts D vom 12. Juni 1989 und

im Strafbefehl des Amtsgerichts L vom 31. März 1993

sowie im Urteil des Amtsgerichts D vom 21. April 1994

jeweils .

Unter Einbeziehung aller Vorstrafen läßt sich die vom

Amtsgericht D aufgestellte günstige Sozialprognose

nicht aufrecht halten. Mit dem Beklagten, der allerdings bei

seiner Einschätzung nur die letzte Verurteilung des Klägers

zugrunde gelegt hat, muß vielmehr von der erforderlichen

Wiederholungsgefahr ausgegangen werden. Der Kläger ist seit

November 1987 in einer Vielzahl von Fällen straffällig

geworden. Dabei hat er sich die Verurteilungen nicht zur

Warnung dienen lassen und zum Teil bereits während des Laufes

von Bewährungsfristen weitere einschlägige Straftaten begangen

(vgl. Urteil des Amtsgerichts D vom 12. Juni 1989).

Selbst die Ehe mit einer deutschen Staatsangehörigen hat ihn

nicht von weiteren Straftaten abhalten können, wie die

Bestrafungen vom 31. März 1993 und 21. April 1994 zeigen. Die

letzte Verurteilung verdeutlicht zudem, daß die Schwere seiner

Straftaten erheblich zugenommen hat. Im Interesse eigener

Gewinnerzielung betrieb er einen gewerbsmäßigen Handel mit

zwei der gefährlichsten Drogen. Dies zeugt von einer

erheblichen kriminellen Energie. Sein planmäßiges Vorgehen zur

Erschließung eigener Einnahmequellen ohne Rücksicht auf die

gesundheitlichen und gesellschaftlichen Schäden, die ein

Rauschgifthandel verursacht, zeigt ein hohes Maß an

Verantwortungs- und Rücksichtslosigkeit. Die Verstrickung des

Klägers in die Dealerszene verdeutlicht, daß es ihm in dem

abgeurteilten Zeitraum von Anfang Januar 1993 bis Anfang

Februar 1993 immerhin möglich war, 200 g Heroin oder Kokain zu

beschaffen und an Konsumenten zu verkaufen. So etwas setzt

einen Zugang zur Drogenszene, insbesondere zu

Drogenhändlerkreisen und eine dort erworbene Vertrauensbasis

voraus. Der Kläger hat auch nicht etwa aus freien Stücken den

Betäubungsmittelhandel abgebrochen, sondern nur, weil sein

Komplize verhaftet worden war. Da der Kläger weder aus eigener

Abhängigkeit noch aus finanzieller Not gehandelt hat, ist

davon auszugehen, daß er der in den hohen Gewinnspannen

liegenden Versuchung erlag, was ebenfalls die Annahme

rechtfertigt, er könne den Weg zurück in die

Betäubungsmittelkriminalität suchen. Zudem war die

Uneinsichtigkeit des Klägers, der bei seiner Anhörung zur

beabsichtigten Ausweisung jede Tatbeteiligung leugnete und

noch im Gerichtsverfahren versuchte, eine solche zu

bagatellisieren, nicht zu dem Schluß geeignet, daß er sich

schon endgültig aus der Drogenszene gelöst habe.

Nach allem bestand im maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses

des Widerspruchsbescheids kein hinreichender Anlaß zu der

Annahme, daß der Kläger durch die letzte Verurteilung und die

in diesem Zusammenhang erlittene annähernd sieben Monate

dauernde Untersuchungshaft so weitgehend geläutert war, daß

mit der gebotenen hinreichenden Wahrscheinlichkeit von einem

künftigen Legalverhalten hätte ausgegangen werden können.

Nach Erlaß des Widerspruchsbescheids sind keine

Erkenntnismittel entstanden oder zugänglich geworden, die die

Prognoseentscheidung nachträglich in Frage stellen.

Vgl. hierzu BVerwG, Beschluß vom

30. Dezember 1992 - 1 B 65.91 -,

InfAuslR 1993, 261.

Insofern ist zwar zugunsten des Klägers zu berücksichtigen,

daß ihm durch Beschluß des Amtsgerichts D vom

12. September 1997 nach Ablauf der Bewährungsfrist die im

Urteil vom 21. April 1994 erkannte Freiheitsstrafe erlassen

worden ist. Auch mag er - wie vorgetragen - ein einwandfreies

Verhalten gegenüber Arbeitgebern, Arbeitskollegen,

Sportkameraden und seiner deutschen Ehefrau aufzuweisen haben

und zumindest vorübergehend (von Ende 1993 bis Mai 1995)

seinen Lebensunterhalt durch eine Erwerbstätigkeit

sichergestellt haben. Allein daraus rechtfertigt sich jedoch

keine andere Beurteilung.

Welche Auswirkung insbesondere ein Straferlaß auf die von

der Ausländerbehörde aufgestellte Gefahrenprognose hat, läßt

sich nicht generell, sondern nur nach den Umständen des

Einzelfalls beurteilen. Dabei sind alle neu hinzugetretenen

Umstände zu berücksichtigen. Dies hat im vorliegenden Fall zur

Folge, daß der Straferlaß nicht zur Bestätigung der dem Kläger

günstigen strafrichterlichen Sozialprognose geeignet ist und

mithin auch nicht zu einer Korrektur der Prognoseentscheidung

des Beklagten führt. Denn dem unter dem Eindruck der

Bewährungsstrafe gezeigten partiellen Wohlverhalten des

Klägers steht gegenüber, daß er im übrigen weiterhin beständig

ausländerrechtliche Vorschriften mißachtet und damit zu

erkennen gibt, sich - wie in früheren Jahren - nicht an die

Rechtsordnung halten zu wollen.

Der Kläger verweigert hartnäckig und grundlos die

Bekanntgabe seines Aufenthaltsortes, womit er fortwährend

gegen seine Anzeigepflicht aus § 42 Abs. 5 AuslG verstößt.

Nach dieser Vorschrift hat ein ausreisepflichtiger Ausländer,

der seine Wohnung wechseln oder den Bezirk der

Ausländerbehörde für mehr als drei Tage verlassen will, dies

der Ausländerbehörde vorher anzuzeigen. Der Kläger unterfällt

der genannten Regelung. Er ist aufgrund der hier angefochtenen

Ordnungsverfügung ausreisepflichtig, weil er nicht über die

für ihn erforderliche Aufenthaltsgenehmigung verfügt (§ 42

Abs. 1 AuslG). Die ihm zuletzt erteilte unbefristete

Aufenthaltserlaubnis ist infolge seiner Ausweisung erloschen

(§ 44 Abs. 1 Nr. 1 AuslG). Die Klageerhebung hat - ungeachtet

des hier angeordneten Sofortvollzugs - zu keiner anderen

Rechtsfolge geführt; denn gemäß § 72 Abs. 2 Satz 1 AuslG läßt

eine Klage die Wirksamkeit einer Ausweisung stets unberührt.

Da der Kläger seiner Ausreisepflicht nicht nachgekommen

ist, hält er sich unerlaubt im Bundesgebiet auf. Wegen des

Fehlens einer seinen weiteren Aufenthalt ermöglichenden

Duldung erfüllt er zugleich die tatbestandsmäßigen

Voraussetzungen der Strafvorschrift des § 92 Abs. 1 Nr. 1

AuslG. Daran vermag das vorliegende Klagebegehren nichts zu

ändern. Daß dem Kläger zunächst für die Dauer des vorläufigen

Rechtsschutzverfahrens zugebilligte Bleiberecht ist mit dem

Senatsbeschluß vom 9. Januar 1996 - 18 B 3006/95 - entfallen.

Danach mußte der Kläger das Bundesgebiet verlassen. Dabei ist

es unerheblich, daß er die angegriffene Ordnungsverfügung für

rechtswidrig hält.

Liegen demnach die tatbestandlichen Voraussetzungen für

eine Ausweisung des Klägers vor, so hatte der Beklagte nach

Ermessen darüber zu entscheiden, ob er die Ausweisung verfügen

wollte oder nicht. Die Ermessensentscheidung ist nur auf

Rechtsfehler hin gerichtlich überprüfbar (§ 114 VwGO).

Das Ermessen ist unter Beachtung des Grundsatzes der

Verhältnismäßigkeit aufgrund einer Abwägung zwischen dem

öffentlichen Interesse an der Ausreise des Ausländers und

seinem privaten Interesse an der Fortsetzung des Aufenthalts

zu betätigen. Bei dieser Interessenabwägung sind alle

wesentlichen Umstände des Einzelfalls in die Abwägung

einzubeziehen, insbesondere die in § 45 Abs. 2 AuslG genannten

Gesichtspunkte.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Januar

1997 - 1 C 17.94 -, InfAuslR 1997, 296,

300.

Die Ermessensentscheidung des Beklagten wird diesen

Anforderungen gerecht. Sie ist entgegen der vom

Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Gerichtsbescheid

vertretenen Auffassung nicht etwa fehlerhaft, weil der

Beklagte die Strafakten nicht beigezogen hat. Zwar können ohne

die Kenntnis von Einzelheiten der Tatbegehung und der

familiären und beruflichen Situation in der Regel die

Auswirkungen der Ausweisung auf die verfassungsrechtlich

geschützten Individualinteressen nicht hinreichend sicher

festgestellt und in einer einzelfallbezogenen Abwägung den die

Ausweisung verlangenden Interessen der Allgemeinheit

gegenübergestellt werden, so daß vor der Entscheidung über die

Ausweisung in der Regel die Einsicht in die Strafakten ebenso

unerläßlich ist wie die Feststellung der Familien- und

Arbeitsverhältnisse sowie eine Aufklärung möglicher weiterer

relevanter Lebensumstände des Betroffenen.

Vgl. BVerfG, Beschluß vom 18. Juli

1979 - 1 BvR 650/77 -, BVerfGE 51, 386

(399) = NJW 1980, 514; Senatsbeschluß

vom 8. Mai 1995 - 18 B 533/95 -.

Das schließt jedoch nicht aus, daß in einzelnen Fällen die

Kenntnis der strafgerichtlichen Entscheidung oder auch die

bloße Kenntnis des Straftatbestandes und die Höhe der Strafe

für einen fehlerfreien Ermessensgebrauch genügen.

BVerwG, Beschluß vom 30. Dezember

1981 - 1 B 173.81 -, InfAuslR 1982,

167.

Ausschlaggebend ist, ob die Behörde von einem zutreffenden

Sachverhalt ausgegangen ist, nicht aber die Art und Weise, in

der sie ihre Kenntnis erworben hat.

Vgl. BVerwG, Beschluß vom

15. September 1986 - 1 B 144.86 -,

InfAuslR 1986, 310.

Danach liegt ein Ermessensfehler in Gestalt unzutreffender

Tatsachenannahmen erst vor, wenn sich aus den Strafakten

berücksichtigungsbedürftige Umstände ergeben, die mangels

Beiziehung dieser Akten in die Ermessenserwägungen der

Verwaltungsbehörden nicht eingestellt worden sind. Das ist

hier nicht der Fall.

Der Beklagte - und ihm mit ergänzenden Begründungen folgend

die Widerspruchsbehörde - hat ausweislich der Gründe seines

angefochtenen Bescheides die erforderliche Abwägung

vorgenommen und dabei dem öffentlichen Interesse an einem

spezialpräventiven Einschreiten den Vorrang gegeben. Er hat

sich im wesentlichen davon leiten lassen, daß das öffentliche

Interesse wegen der hohen Gemeinschädlichkeit des illegalen

Handels mit Heroin und Kokain regelmäßig und so auch im Falle

des Klägers von größerem Gewicht sei als der Wunsch des schon

lange Zeit in Deutschland lebenden Ausländers, seinen

Aufenthalt hier fortzusetzen. Dagegen ist nichts einzuwenden.

Der Beklagte hat im Rahmen der Abwägung auch eingehend

geprüft, ob dem Kläger nach rund 10jährigem Aufenthalt im

Bundesgebiet eine Rückkehr in den Libanon zuzumuten ist. Dabei

hat er zutreffend in Erwägung gezogen, daß der Kläger 18 Jahre

seines Lebens im Libanon verbracht hat und deshalb mit den

dortigen Lebensverhältnissen vertraut ist. Gewürdigt worden

ist ferner der Umstand, daß neben der Großmutter keine

weiteren Verwandten des Klägers mehr im Libanon leben. Des

weiteren hat der Beklagte unter Beachtung der

Ausstrahlungswirkung des Art. 6 Abs. 1 GG berücksichtigt, daß

der Kläger mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet

ist und mit ihr zusammenlebt. Es ist nicht zu beanstanden,

wenn der Beklagte aufgrund der Besonderheiten des vorliegenden

Falles unter Berücksichtigung der aufgezeigten Umstände dem

Schutz Dritter vor Gefährdungen durch Rauschgift den Vorrang

einräumt.

Zugunsten des Klägers greift ferner nicht Art. 8 der

Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ein. Unter

Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen

Gerichtshofs für Menschenrechte

- vgl. Urteile vom 18. Februar 1991

- 31/1989/191/291 -, InfAuslR 1991,

149, und vom 13. Juli 1995

- 18/1994/465/564 -, InfAuslR 1996,

1 -

ist unter den hier gegebenen Umständen davon auszugehen,

daß der Schutz des Art. 8 EMRK nicht weitergeht als der des

Art. 6 GG, wie er im Ausländergesetz seinen Niederschlag

gefunden hat.

Vgl. hierzu BVerwG; Beschluß vom

12. Juni 1992 - 1 B 48.92 -, InfAuslR

1992, 305; Senatsbeschluß vom

20. September 1994 - 18 A 2945/92 -,

InfAuslR 1995, 99 = NVwZ-RR 1995,

353.

Die Abschiebungsandrohung ist ebenfalls nicht zu

beanstanden. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in den §§ 49 und

50 AuslG.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die

Entscheidung zu deren vorläufiger Vollstreckbarkeit auf § 167

VwGO iVm § 708 Nr. 10, § 713 ZPO.

Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 132 Abs. 2, § 137

Abs. 1 VwGO).