OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 19.01.1996 - 7 B 3172/95
Fundstelle
openJur 2012, 75129
  • Rkr:
Tenor

Der Beschluß wird geändert. Die aufschiebende Wirkung der Widersprüche der Antragsteller gegen die Baugenehmigung des Antragsgegners vom 6. Juli 1993 in der Fassung der Nachtragsbaugenehmigungen vom 6. Dezember 1994 und 25. April 1995 wird wiederhergestellt.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.

Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,00 DM festgesetzt

Gründe

Die zulässige Beschwerde der Antragsteller ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat den

Antrag zu Unrecht abgelehnt. Die Wiederherstellung der aufgrund der Anordnung der

sofortigen Vollziehung vom 14. Juni 1995 entfallenen aufschiebenden Wirkung des

Widerspruchs der Antragsteller ist geboten, da das Interesse der Antragsteller, einstweilen zu

verhindern, daß von der den Beigeladenen erteilten Baugenehmigung mit den

Nachtragsbaugenehmigungen Gebrauch gemacht wird, das öffentliche Interesse und das

Interesse der Beigeladenen an der sofortigen Ausnutzbarkeit der Baugenehmigung - auch

wenn die derzeitige Witterungslage einen Außenbetrieb faktisch nicht zuläßt - überwiegt.

Nach der im vorliegenden Verfahren nur gebotenen summarischen Prüfung sprechen

gewichtige Gründe dafür, daß die Nutzung der rückwärtigen Fläche des Grundstücks B.

Straße 37 in P. -S. als Biergarten zu Lasten der Antragsteller gegen Nachbarschutz

vermittelnde Vorschriften des öffentlichen Baurechts verstößt.

Es bestehen schon erhebliche Bedenken, ob das Vorhaben den Festsetzungen des

Bebauungsplans Nr. 47 hinsichtlich der Art der Nutzung entspricht und insofern

planungsrechtlich zulässig ist. Verstößt es hiergegen, verletzt es zugleich nachbarschützende

Vorschriften, denn die Festsetzungen von Baugebieten durch Bebauungspläne haben

grundsätzlich nachbarschützende Wirkung,

vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 16.

September 1993 - 4 C 28.91 -, BRS 55 Nr. 110.

Sowohl das Grundstück der Antragsteller als auch das Grundstück B. Straße 37

liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 47 S. , der für die streitigen

Grundstücke allgemeines Wohngebiet festsetzt. In allgemeinen Wohngebieten sind zwar

gemäß § 4 Abs. 2 Nr. 2 der Versorgung des Gebietes dienende Schank- und

Speisewirtschaften zulässig. Es spricht vieles dafür, daß jedenfalls der Biergarten die

einschränkende Voraussetzung nicht erfüllt. Der Anforderung des § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO

wird genügt, wenn der betreffende gastronomischen Betrieb dem maßgeblichen Gebiet

funktional zuzuordnen ist. Diese Zuordnung ist anhand der objektiven Gegebenheiten und

Betriebsmerkmale - Standort, Größe, Raumaufteilung, Ausstattung und betriebliche

Konzeption - zu bestimmen. Die Größe des Biergartens allein mag noch nicht das im

allgemeinen Wohngebiet zulässige Maß überschreiten. Jedoch bestehen Bedenken, ob die

Konzeption des Biergartens den Anforderungen des § 4 Abs. 2. Nr. 2 BauNVO noch gerecht

wird. Nicht ausreichend ist insofern, wenn die vorwiegend von Gebietsfremden besuchte

Gaststätte in geringem Umfang auch von Bewohnern des Gebietes aufgesucht wird,

vgl. OVG NW, Urteil vom 1. August 1972 -VII A

805/70 -, BRS 25 Nr. 6.

Nach den für den Erhalt des Biergartens im Rahmen des Verwaltungsverfahrens

eingereichten Unterschriftenlisten spricht viel für eine über die Versorgung des Gebietes

hinausgehende Bedeutung des Biergartens. Mit der Unterschriftenaktion wurde geltend

gemacht, daß viele Spaziergänger und Radfahrer über die Schließung enttäuscht wären und

dem Wirt hierdurch erheblich Umsatzeinbußen entstünden. Der Besuch eines Biergartens

durch den vorgenannten Personenkreis spricht gegen ein dienen im Sinne des § 4 Abs. 2 Nr. 2

BauNVO, denn mit Spaziergängern und Radfahrern werden regelmäßig nicht Bewohner der

näheren Umgebung gemeint sein, sondern Ausflügler, die die ländlich gelegene Ortschaft

S. in der Freizeit aufsuchen. Diese Einschätzung wird auch dadurch untermauert, daß die

Unterzeichner der Erklärung zum überwiegenden Teil nicht Bewohner der Ortschaft S.

waren, sondern aus anderen zur Stadt P. gehörenden Ortschaften sowie Städten aus der

näheren Umgebung stammten.

Doch selbst wenn es sich bei dem Biergarten noch um eine Schank- und Speisewirtschaft im

Sinne des § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO handeln sollte, wäre die Baugenehmigung zu Lasten der

Antragsteller rechtswidrig, denn das Vorhaben verstieße insoweit wegen der Außennutzung

gegen das in § 15 BauNVO enthaltene Gebot der Rücksichtnahme. Sie enthält nur untaugliche

Nebenbestimmungen zum Immissionsschutz, denn diese sind nicht geeignet den

nachbarlichen Interessen gerecht zu werden.

Das Gebot der Rücksichtnahme soll die bei der Verwirklichung von Bauvorhaben

aufeinanderstoßenden Interessen angemessen ausgleichen; ob eine Baugenehmigung das

Gebot der Rücksichtnahme verletzt, hängt wesentlich von den jeweiligen konkreten

Umständen des Einzelfalles ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung derer ist,

denen die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugute kommt, um so mehr kann

an Rücksichtnahme verlangt werden; umgekehrt braucht derjenige, der ein Vorhaben

verwirklichen will, um so weniger Rücksicht zu nehmen, je verständlicher und unabweisbarer

die von ihm verfolgten Interessen sind. Für die sachgerechte Beurteilung des Einzelfalles

kommt es demnach wesentlich auf eine Abwägung zwischen dem an, was einerseits dem

Rücksichtnahmeberechtigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage

der Dinge zuzumuten ist. Dementsprechend ist das Rücksichtnahmegebot verletzt, wenn unter

Berücksichtigung der schutzwürdigen Interessen das Maß dessen, was billigerweise noch

zumutbar ist, überschritten wird

vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 25.

Februar 1977 - 4 C 22.75 -, BVerwGE 52, 122 (126).

Schutzwürdige Interessen der Antragsteller bestehen darin, nicht durch Reden, Rufen,

mehr oder minder lautes oder schrilles Lachen o.ä. anläßlich des Biergartenbetriebes in der

Wohnruhe, insbesondere in den Abendstunden und an Wochenenden, gestört zu werden.

Diesem Interesse trägt die Baugenehmigung nicht ausreichend Rechnung.

Zwar enthalten nicht nur die ursprüngliche Baugenehmigung, sondern auch die

Nachtragsgenehmigungen durch Bezugnahme, die Auflage, den Biergarten schalltechnisch so

zu betreiben, daß der Luftschall den max. zulässigen Immissionsrichtwert von tagsüber 55

dB(A) und nachts von 40 dB(A) gemessen 0,5 m vor dem geöffneten, am stärksten

betroffenen Fenster der umliegenden Wohnhäuser - gemessen nach der TA-Lärm - nicht

überschreitet.

Die Auflage führt nicht dazu, daß schon deshalb von dem täglich bis 22.00 Uhr im Freien

zulässigen Betrieb keine unzumutbaren Beeinträchtigungen ausgehen können. Die

Belastbarkeit von Menschen mit Lärm hängt von einem Bündel von Faktoren ab, die vielfach

nur unvollkommen in einem einheitlichen Meßwert aggregierend erfaßt werden können. Die

Regelwerke sind ein Mittel, quantitative Grenzen für Lärm festzulegen, jedoch untauglich,

qualitative Grenzen für Lärm festzulegen. Lästige und wegen ihrer Qualität unzumutbare

Komponenten des Lärms können in der Regel nicht durch Lärmvorgaben, sondern nur durch

konkrete Nutzungsregeln verhindert werden. Zudem ist der Mittlungspegel bei nicht

gewerblichen Geräuschen - wie hier - die sich nicht konstant über den für die Mittlung

maßgeblichen Zeitraum wiederholen, für deren Lästigkeit nur eingeschränkt

aussagekräftig,

vgl. Urteil des Senates vom 9. Juli 1992 -7 A 158/91-,

BRS 54 Nr. 190 und Beschluß des Senates vom 16.

November 1995 -7 B 2482/95-.

Vorliegend werden die in die Beurteilung einzustellenden Geräusche vornehmlich durch

menschliches Verhalten verursacht, das von den Beigeladenen bzw. den jeweiligen Pächtern -

anders als bei gewerblichem Lärm im herkömmlichen Sinne - nicht gesteuert werden kann,

wenn auch mannigfaltige Hinweistafeln aufgestellt werden mögen. Ob die Geräusche laut,

leise, schrill oder dumpf sind, hängt vom Naturell des einzelnen Biergartenbesuchers ab und

läßt sich damit weder steuern noch hochrechnen. Die Betriebszeit soll nach dem Bauantrag

von 10.00 bis 22.00 Uhr geben, der Mittlungspegel wird aber über eine Zeit von 6.00 bis

22.00 Uhr ermittelt, es fallen also Zeiten, in denen kein oder nur geringer Betrieb ist mit in die

Mittlung, was dazu führt, daß in den Abendstunden, wenn im Rahmen der allgemeinen

Wohnnutzung ein besonderes Ruhebedürfnis besteht, noch ein über dem Mittlungspegel

liegender Lärm möglich ist, ohne das der Mittelwert überschritten würde. Dies wird den

nachbarlichen Interessen nicht gerecht. Hierbei ist auch ohne Bedeutung, daß einzelne

Geräusche möglicherweise den zulässigen Spitzenpegel nicht überschreiten werden.

Auch die im Rahmen der Nebenbestimmungen geforderte Lärmschutzwand ist nicht

geeignet, einen hinreichenden Schutz der Nachbarschaft zu gewährleisten, da sie nach dem

Konzept allein der Einhaltung von Lärmrichtwerten dienen sollte. Deren Einhaltung nach dem

zuvor ausgeführten aber gerade nicht ausreichend ist.

Die Unzumutbarkeit der genehmigten Nutzung beruht darauf, daß mit einer Nutzung des

Biergartens hauptsächlich in den späten Nachmittagsstunden und den Abendstunden sowie an

Samstagen und Sonntagen ganztägig zu rechnen ist. Der Betrieb wird also gerade zu Zeiten

stattfinden, wenn für die benachbarte, nur ca. 20 m entfernte Wohnnutzung der Antragsteller

mit ihrer rückwärtigen zum Biergarten ausgerichteten Ruhezone ein gesteigertes Bedürfnis

nach Ruhe besteht. Auch wenn man berücksichtigt, daß die Nutzung witterungsbedingt nicht

ganzjährig erfolgen wird, sondern nur an schönen Tagen, ist die Nutzung eines Biergartens -

seine allgemeine Zulässigkeit nach § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO unterstellt- ohne weitere

Schallschutzmaßnahmen - höhere Wand oder andere Nutzungszeiten - unzumutbar.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 und 3, 162 Abs. 3 VwGO. Die Festsetzung

des Streitwertes beruht auf § 20 Abs. 2, 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.