BVerfG, Beschluss vom 16.08.2005 - 1 BvQ 25/05
Fundstelle
openJur 2012, 133416
  • Rkr:
Tenor

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Gründe

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betrifft den versammlungsbehördlich angeordneten Sofortvollzug eines Bescheids, mit dem eine für den 20. August 2005 in Wunsiedel angemeldete Versammlung unter dem Thema "Gedenken an Rudolf Heß" verboten worden ist. Das Bayerische Verwaltungsgericht in Bayreuth hat den Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des vom Antragsteller eingelegten Widerspruchs mit Beschluss vom 25. Juli 2005 abgelehnt. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat mit Beschluss vom 10. August 2005 - 24 CS 05.2053 - die Beschwerde gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zurückgewiesen. Auf diese Entscheidung wird zur Darstellung des Sachverhalts Bezug genommen.

Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben. Der Antrag auf Eilrechtsschutz hat jedoch keinen Erfolg, wenn eine Verfassungsbeschwerde unzulässig oder offensichtlich unbegründet wäre (vgl. BVerfGE 71, 158 <161>; 111, 147 <152 f.>; stRspr).

1. Eine Verfassungsbeschwerde wäre im vorliegenden Fall nicht unzulässig. Auch wäre sie nicht offensichtlich unbegründet. Der Ausgangskonflikt und die dem versammlungsbehördlichen Verbot zu Grunde liegende Strafrechtsnorm werfen eine Reihe schwieriger Rechtsfragen auf, die letztlich nur in einem Hauptsacheverfahren geklärt werden könnten. So wäre unter Auswertung der Gesetzgebungsmaterialien und unter Berücksichtigung der wissenschaftlichen Kritik die Verfassungsmäßigkeit des § 130 Abs. 4 StGB zu prüfen und die Frage zu entscheiden, ob diese Norm in Verbindung mit § 15 Abs. 1 VersG das Verbot einer Versammlung wie der für Wunsiedel geplanten rechtfertigen kann (vgl. dazu Poscher, NJW 2005, S. 1316 ff.; Bertram, NJW 2005, S. 1476 ff.).

In einem Eilverfahren lässt sich insbesondere nicht klären, ob die Annahme einer Störung des öffentlichen Friedens im Sinne des § 130 Abs. 4 StGB - wie der Verwaltungsgerichtshof annimmt - darauf gestützt werden kann, "dass der demokratische Gesetzgeber die Aufmärsche der Rechtsextremen in Wunsiedel als Störung des öffentlichen Friedens ansah und deshalb sein Eingreifen für erforderlich und geboten gehalten hat". Auch bedürfte der Klärung, ob eine Billigung oder Verherrlichung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft ohne Verfassungsverstoß schon darin gesehen werden kann, dass einzelne Verantwortungsträger als Symbolfiguren hervorgehoben werden. Ebenfalls wäre zu prüfen, ob es verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt, dass - wie der Verwaltungsgerichtshof ausführt - schon "jede auch nur ansatzweise Billigung des Nationalsozialismus als historische Erscheinung ... gleichzeitig mittelbar eine Missachtung der Opfer von Gewalt und Willkür" bedeute oder dass - wie das Verwaltungsgericht unter Rückgriff auf die Gesetzesmaterialien annimmt - eine Verletzung der Würde der Opfer in der Regel aus der Billigung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft folge.

2. Bei einem - wie hier - offenen Ausgang eines möglichen Verfassungsbeschwerdeverfahrens sind gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweiligen Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 71, 158 <161>; 96, 120 <128 f.>; stRspr).

Bliebe die sofortige Vollziehbarkeit des Verbots der Kundgebung bestehen, hätte eine Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg, so könnte der Antragsteller die geplante Versammlung nicht durchführen und würde dadurch um die Möglichkeit gebracht, von dem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit in der gewünschten Weise Gebrauch zu machen. Da es sich allerdings um eine in jährlichen Abständen immer wieder am Todestag von Rudolf Heß geplante Veranstaltung handelt, die in den letzten Jahren auch durchgeführt werden konnte, ist der Nachteil für den Antragsteller geringer, als wenn es um eine Demonstration aus einem besonderen aktuellen und insofern unwiederbringliche Anlass ginge. Im Falle eines Obsiegens im Hauptsacheverfahren bleibt es dem Antragsteller unbenommen, zukünftig wieder derartige Gedenkveranstaltungen zu planen und unter Beachtung des Versammlungsgesetzes durchzuführen.

Könnte die Versammlung wie geplant stattfinden, erwiese sich eine Verfassungsbeschwerde aber später als unbegründet, so wäre die Versammlung durchgeführt worden, obwohl die Voraussetzungen für ein Verbot vorliegen. Einer derartigen Versammlung hätte ein Verstoß gegen § 130 Abs. 4 StGB zu Grunde gelegen, also die Störung des öffentlichen Friedens in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch, dass die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft gebilligt, verherrlicht oder gerechtfertigt wird. Maßgebende Repräsentanten der politischen Parteien, auf deren Initiative § 130 Abs. 4 StGB geschaffen worden ist, haben im Deutschen Bundestag mit dem Blick auf die vom Antragsteller konkret geplante Veranstaltung zum Ausdruck gebracht, dass sie in ihr eine Störung des öffentlichen Friedens erkennen, die sogar ein Eingreifen des Gesetzgebers durch Schaffung einer neuen Strafrechtsnorm erforderlich mache. Diese Beurteilung und die Verabschiedung des Gesetzes indizieren, dass den von der Versammlung ausgehenden Gefahren vom Deutschen Bundestag ein hohes Gewicht beigemessen wird. Das Bundesverfassungsgericht legt diese Einschätzung des Gesetzgebers der Gewichtung des Schutzguts zu Grunde, das der Versammlungsfreiheit des Antragstellers gegenüber steht. Die darauf aufbauende Folgenabwägung ergibt, dass die einstweilige Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile für den Antragsteller geboten ist.

Ihm bleibt es unbenommen, die Rechtmäßigkeit des Versammlungsverbots im Rahmen verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes überprüfen zu lassen.