VG Oldenburg, Beschluss vom 27.01.2012 - 11 A 2117/11
Fundstelle
openJur 2012, 52512
  • Rkr:

1. Die förmliche Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts ist eine Ermessensentscheidung und muss daher einzelfallbezogen begründet werden. Der bloße Hinweis auf den materiellen Wegfall des Freizügigkeitsrechts genügt jedenfalls bei einem Unionsbürger, die sich seit über vier Jahren ununterbrochen rechtmäßig in Deutschland aufhält und dessen Kinder hier die Schule besuchen, nicht.2. § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU kann nicht entnommen werden, dass ein nach mindestens einjähriger Berufstätigkeit unverschuldet arbeitslos gewordener Unionsbürger über das sozialrechtlich gebotene Maß hinaus überobligatorische Arbeitsbemühungen nachweisen muss, um im Genuss des Freizügigkeitsrechts zu bleiben.

Gründe

Das Verfahren war in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen, da beide Beteiligte den Rechtsstreit übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt haben.

Die Kosten waren nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes (§ 161 Abs. 2 VwGO) dem Beklagten aufzuerlegen, weil der (inzwischen aufgehobene) angefochtene Bescheid, mit dem der Verlust des Freizügigkeitsrechts der Kläger festgestellt und ihnen die Abschiebung nach Rumänien angedroht worden war, voraussichtlich bereits im Zeitpunkt seines Erlasses rechtswidrig gewesen ist.

Der Bescheid ist voraussichtlich schon deshalb rechtswidrig, weil die Kläger vor seinem Erlass nicht gem. § 28 Abs. 1 VwVfG ordnungsgemäß angehört wurden. Zwar hat der Sachbearbeiter des Beklagten mit dem Kläger zu 1. einige Male über die weitere Aufenthaltsperspektive gesprochen, eine der Schwere des Eingriffs angemessene förmliche Anhörung zur drohenden Verlustfeststellung hat jedoch nicht stattgefunden.

Ferner dürfte der Bescheid auch ermessensfehlerhaft sein. Zwar hat der Beklagte im angefochtenen Bescheid erkannt, dass die Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 5 FreizügG/EU eine Ermessensentscheidung ist und dieses Ermessen auch ausgeübt. Ein vollständiger Ermessensausfall kann ihm daher nicht vorgeworfen werden. Die Ermessensausübung ist jedoch völlig schematisch und erwähnt die gegen eine Verlustfeststellung sprechenden Interessen der Kläger nicht. Die Ermessenserwägungen des Beklagten beginnen mit dem Hinweis darauf, dass Unionsbürger in Deutschland in zunehmendem Maße der Schwarzarbeit nachgehen würden. Ein Bezug dieser Erwägung zu den Klägern ist nicht ersichtlich; dass gerade in ihrem Fall ein begründetet Verdacht auf Schwarzarbeit besteht, wird vom Beklagten nicht dargelegt. Als nächstes folgt der pauschale Hinweis, dass sich aus einem weiteren Aufenthalt Rechte für den betroffenen Unionsbürger ergeben könnten (z.B. Sozialleistungen, Einbürgerungsansprüche), obwohl die Voraussetzungen des § 2 FreizügG/EU materiell nicht mehr vorliegen. Dies trifft zu, trägt aber in dieser Pauschalität nicht die Entscheidung für eine Verlustfeststellung. Es handelt sich hier nicht um einen einzelfallbezogenen Umstand, sondern um eine Erwägung, die für jeden Fall zutrifft, in dem ein Freizügigkeitsberechtigter seine Freizügigkeitsberechtigung materiell verliert. Dennoch hat der Gesetzgeber die förmliche Verlustfeststellung im Sinne des § 5 Abs. 5 AufenthG nicht als Ist- oder Soll-Rechtsfolge des materiellen Verlusts des Freizügigkeitsrechts konzipiert, sondern in das offene Ermessen der Behörde gestellt. Ebensowenig überzeugt daher der weitere pauschale Hinweis des Beklagten, er sei gehalten, die Einhaltung der Bestimmungen über Einreise und Aufenthalt von Unionsbürgern zu überwachen. Denn diese Bestimmungen (hier: § 5 Abs. 5 FreizügG/EU) sehen es eben gerade nicht als zwingend oder auch nur regelmäßig geboten an, auf den materiellen Verlust des Freizügigkeitsrechts die förmliche Verlustfeststellung folgen zu lassen. Da der Gesetzgeber hier kein Regel-/ Ausnahme-Verhältnis, sondern ein offenes Ermessen vorsieht, hätte der Beklagte zunächst einmal einzelfallbezogen begründen müssen, was außer dem (angeblichen) materiellen Wegfall des Freizügigkeitsrechts noch für die Verlustfeststellung spricht. Dem hätte er dann die gegenläufigen Interessen der Kläger gegenüberstellen müssen. Hierzu beschränkt sich der Bescheid aber auf die pauschale Behauptung "Gründe für einen weiteren Verbleib im Bundesgebiet" seien weder "vorgetragen […] noch ersichtlich." "Vorgetragen" werden konnten solche Gründe hier von den Klägern schon deshalb nicht, weil sie nicht angehört wurden. "Ersichtlich" wären solche Gründe dagegen schon gewesen: So hatte der Kläger zu 1. z.B. anlässlich einer Vorsprache am 21. Juni 2011 darauf hingewiesen, dass die Kläger zu 3. und 4. in Deutschland die Schule besuchen. Dem Beklagten war auch bekannt, dass der Kläger zu 1. sich während der letzten vierzehn Jahre acht Jahre lang (von 1997 bis 1999, von 2003 bis 2005 und von 2007 bis zum Erlass des angefochtenen Bescheides im Jahr 2011) rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und dass er während seiner ersten beiden Aufenthalte sowie von Juli 2007 bis zum 15. Januar 2010 durchgängig erwerbstätig war und den Lebensunterhalt der Familie gesichert hat. Ferner waren von ihm für das Jahr 2010 umfangreiche Bewerbungsbemühungen nachgewiesen worden (vgl. Vermerk vom 8. Dezember 2010). Der Beklagte wusste auch, dass die Kläger zu 1. und 2. durch einen Deutschkurs ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern versuchten. Selbst wenn das Freizügigkeitsrecht trotz dieser Bemühungen um Arbeit erloschen sein sollte (dazu sogleich unten), hätten diese Umstände bei der Ermessensausübung berücksichtigt werden müssen. Außerdem hatte der Kläger zu 1. bei Erlass des angefochtenen Bescheides schon seit mehr als vier Jahren seinen ständigen Aufenthalt ununterbrochen in Deutschland, so dass er nicht einmal mehr ein Jahr von der absoluten zeitlichen Grenze für eine Verlustfeststellung und dem Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts (§ 4a Abs. 1 und § 5 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU) entfernt war. Auch dies hätte in die Ermessenserwägungen einfließen müssen. Der Berichterstatter will damit nicht ausschließen, dass auch bei Berücksichtigung als dieser Umstände eine Ermessensentscheidung zu Lasten der Kläger möglich gewesen wäre. Er stellt lediglich fest, dass der Beklagte diese Umstände in der tatsächlich getroffenen Ermessensentscheidung nicht berücksichtigt hat.

Aus dem vorstehenden Gründen kann dahinstehen, ob das Freizügigkeitsrecht der Kläger hier wirklich materiell erloschen war. Zur Klarstellung weist der Berichterstatter jedoch darauf hin, dass dies nicht völlig zweifelsfrei ist. Gem. § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU bleibt das Freizügigkeitsrecht bei unfreiwilliger, durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit unberührt, wenn der Betroffene zuvor ein Jahr als Arbeitnehmer tätig gewesen ist. Es spricht nichts dafür, dass der Kläger zu 1. den Verlust seines Arbeitsplatzes am 15. Januar 2010 zu vertreten hatte. Für die Folgezeit fordern Rechtsprechung und Kommentarliteratur lediglich, dass der Betroffene sich bei der Arbeitsagentur als arbeitsuchend meldet, seinen sozialrechtlichen Obliegenheiten der Arbeitsagentur gegenüber nachkommt und eine ihm eventuell angebotene, zumutbare Beschäftigung annimmt (vgl. z.B. Dienelt, in: Renner, AuslR, 9. Aufl., § 2 FreizügG/EU Rn. 93; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 22. Februar 2010 - L 13 AS 365/10 ER-B -, juris Rn. 4; sowie § 119 Abs. 1 SGB III). Demnach wird man sicherlich von einem unverschuldet arbeitslos gewordenen Unionsbürger verlangen können, dass er sich im sozialrechtlich gebotenen Maße darum bemüht, seine Arbeitslosigkeit zu beenden (vgl. § 119 Abs. 1 Nr. 2 SGB III), um auch weiterhin als "unverschuldet arbeitslos" zu gelten. Es spricht aber nichts dafür, dass § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU überobligatorische Bemühungen fordert. Der systematische Vergleich mit § 2 Abs. 2 Nr. 1 2. Alt. und Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU deutet jedenfalls darauf hin, dass arbeitsuchende Unionsbürger, die vor der Arbeitslosigkeit mindestens ein Jahr lang in Deutschland beschäftigt waren, hinsichtlich der Voraussetzungen für einen weiteren Aufenthalt gegenüber solchen Arbeitssuchenden privilegiert werden sollen, die noch nie oder nur kurzfristig Arbeit gefunden haben, und dass daher an ihre Arbeitsbemühungen geringere Anforderungen zu stellen sind. Möglicherweise hat der Beklagte hier von den Klägern zuviel verlangt. Es geht aus der Akte nicht hervor, ob die Arbeitsagentur die Bemühungen der Kläger zu 1. und 2. beanstandet oder gar sozialrechtliche Sanktionen gegen sie ergriffen hatte. Für das Jahr 2010 haben beide erhebliche Eigenbemühungen nachgewiesen. Für die erste Hälfte des Jahres 2011 haben sie zwar deutlich weniger, aber doch immerhin einige Bewerbungen vorgelegt. Der Umstand, dass der Kläger zu 1. nur neunzehn Tage nach dem Erlass des angefochtenen Bescheides einen Arbeitsplatz gefunden und ihn bis heute behalten hat, indiziert jedenfalls, dass seine Bemühungen nicht völlig unzureichend waren.

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