Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 04.01.2011 - 9 LA 130/10
Fundstelle
openJur 2012, 51455
  • Rkr:

1. Die Regenwasserkanalisation muss nicht so ausgestaltet sein, dass sie auch bei Extremniederschlägen Schutz vor Überschwemmung bietet.2. Bei der Ausgestaltung der Regenwasserkanalisation dürfen Maßnahmen, die Grundstückseigentümer zur Sicherung vor Überschwemmungen getroffen haben, berücksichtigt werden.

Gründe

Der auf § 124 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 und Nr. 5 VwGO gestützte Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (Nr. 1), der besonderen tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten (Nr. 2), der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (Nr. 3) und des Vorliegens eines Verfahrensfehlers (Nr. 5) sind nicht erfüllt.

Zur Darlegung ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO macht der Kläger geltend: Es sei nicht nachvollziehbar, wie das Verwaltungsgericht trotz der vom Sachverständigen festgestellten Mängel und der zahlreichen Überschwemmungen in der Vergangenheit meinen könne, für den Kläger unzumutbare Beeinträchtigungen seiner Grundstücksnutzung lägen nicht vor. Die Verpflichtung der Beklagten, ihre Entwässerungsanlage ordnungsgemäß herzustellen, könne nicht im Blick darauf entfallen, dass er auf eigene Kosten Schutzvorkehrungen gegen weitere Überschwemmungen (Bau einer Mauer, Änderung der Regenwasserabführung auf seinem Grundstück) getroffen habe.

Mit diesem Vorbringen wendet sich der Kläger gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, der Kläger könne angesichts des Umstands, dass er „durch die ihm obliegende Eigensicherung bereits ausreichende Vorsorge gegen Regenwasserüberflutungen getroffen“ habe, von der Beklagten nicht Maßnahmen verlangen, die nicht mehr erforderlich seien. Das Vorbringen vermag ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils nicht hervorzurufen. Der Senat teilt die vom Kläger angegriffene Annahme des Verwaltungsgerichts, dass bei den Anforderungen an die Ausgestaltung der Kanalisation auch Maßnahmen zu berücksichtigen seien, die Grundstückseigentümer zur Sicherung ihrer Grundstücke vorgenommen hätten, aus folgenden Gründen:

Die vorliegende Klage ist auf eine Verurteilung der Beklagten zur Durchführung bestimmter Maßnahmen an der Regenwasserkanalisation gerichtet. Ob ein dahin gehender Anspruch besteht, beurteilt sich nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung. Maßgeblich ist also die Situation und Gefährdungslage der Anliegergrundstücke zu diesem Zeitpunkt, ohne dass es darauf ankommt, auf welche Erwägungen des Grundstückseigentümers etwaige Vorrichtungen gegen Überflutung zurückzuführen sind. Angesichts des Umstands, dass gemeindlicher Aufwand nur für erforderliche Maßnahmen betrieben werden darf, muss die Gemeinde die Grundstücksverhältnisse so berücksichtigen, wie sie sich im Zeitpunkt der Planung ihrer Regenwasserkanalisation wahrscheinlich auf Dauer darstellen. Demzufolge ist im Rahmen der hier zu beurteilenden Leistungsklage erheblich, dass eine Überflutung des Grundstücks des Klägers aufgrund der von ihm durchgeführten Maßnahmen zur Eigensicherung (Bau einer Mauer, Änderung der Regenwasserabführung auf seinem Grundstück) nur noch in Extremfällen droht. Diese noch übrige gebliebene Gefahr reicht aus den noch darzulegenden Gründen aber nicht aus, um die Beklagte antragsgemäß zur Durchführung von Maßnahmen an ihrer Regenwasserkanalisation zu verurteilen.

Der Kläger leitet ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils ferner daraus ab, dass das Verwaltungsgericht dem hilfsweise gestellten Antrag, Beweis durch eine weitere Begutachtung seitens des Sachverständigen zu erheben, nicht stattgegeben habe. Sein diesbezügliches Vorbringen rechtfertigt nicht die für eine Zulassung der Berufung nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO erforderliche Annahme, dass ein Obsiegen des Klägers in der Hauptsache wahrscheinlicher ist als ein Unterliegen. Die Behauptung, Zeugen hätten vernommen und Sachverständige hätten gehört werden müssen, vermag ernstliche Zweifel im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nur hervorzurufen, wenn zugleich Gründe dargetan werden, aus denen die Beweiserhebung wahrscheinlich zu einem für den Kläger günstigeren Ausgang des Prozesses geführt hätte. Denn § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO will - anders als der Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO - nicht die Ordnungsgemäßheit des Verfahrens, sondern die inhaltliche Richtigkeit des Entscheidungsergebnisses im Einzelfall gewährleisten (vgl. z. B. Nds. OVG, Beschluss vom 11.7.2006 - 4 LA 62/06 - und vom 30.6.2006 - 4 LA 231/05 -). Derartige Darlegungen finden sich im Zulassungsantrag des Klägers nicht. Die vom Kläger in einem weiteren Gutachten erwartete Feststellung, dass „die Überflutungsgefahr für sein Grundstück nach wie vor aufgrund der fehlerhaften Regenwasseranlage der Beklagten“ bestehe, wäre keine für das Verwaltungsgericht neue Erkenntnis. Das Gericht hat nämlich weder Mängel beim Regenwasserkanal der Beklagten allgemein verneint (vielmehr bestehen seiner Ansicht nach durchaus „Optimierungsmöglichkeiten“) noch eine Überflutungsgefahr für das Grundstück des Klägers gänzlich ausgeschlossen.

In der Ablehnung des hilfsweise gestellten Beweisantrags liegt auch nicht ein die Zulassung der Berufung rechtfertigender Verfahrensfehler im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO. Das Verwaltungsgericht hat die weitere Begutachtung durch einen Sachverständigen mit der Begründung abgelehnt, es sei durch das bereits erstellte Sachverständigengutachten hinreichend geklärt, wie häufig Überflutungen der B. Straße vorkommen könnten und dass ein Rückstau im Extremfall auch zur Überflutung des Grundstücks des Klägers führen könne. Der Kläger wendet gegen diese Erwägungen ein, das Verwaltungsgericht hätte nicht aufgrund eigener Sachkunde zu Ergebnissen gelangen dürfen, die von den Feststellungen im Gutachten des Sachverständigen Dr. C. (nämlich Vorhandensein von Mängeln bei der Regenwasserkanalisation und damit einhergehender Gefährdung des Grundstücks des Klägers) abwichen. Diesem Einwand kann nicht gefolgt werden. Das Verwaltungsgericht hat keineswegs eigene Sachkunde an die Stelle der Erkenntnisse des Sachverständigen gesetzt, sondern ist den Feststellungen des Sachverständigen gefolgt. Dabei hat es - zugunsten des Klägers - die Gefahr eines Rückstaus sowie einer Überflutung des Grundstücks des Klägers bejaht. Dass es daraus nicht die rechtliche Folgerung gezogen hat, die Beklagte sei zur Durchführung der mit der Klage begehrten Baumaßnahmen an der Kanalisation verpflichtet, beruht auf einer Anwendung und Auslegung des materiellen Rechts, die nicht über die Verfahrensrüge nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO einer rechtlichen Korrektur unterzogen werden kann.

7Die Berufung kann auch nicht nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zugelassen werden. Der Kläger hält für grundsätzlich klärungsbedürftig, ob und nach welcher rechtlichen Grundlage gegenüber der Gemeinde ein Anspruch auf ordnungsgemäße Herstellung des Regenwasserkanals besteht und ob die Pflicht zur ordnungsgemäßen Herstellung entfällt, wenn der Grundstückseigentümer selbst Maßnahmen durchgeführt hat, die eine Überflutung seines Grundstücks verhindern sollen. Diese Fragen lassen sich auch ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens beantworten, und zwar im Sinne der obigen Ausführungen zur Berücksichtigungsfähigkeit von Eigensicherungsmaßnahmen des Grundstückseigentümers sowie im Sinne der Darlegungen des Verwaltungsgerichts. Dieses hat einen Abwehranspruch des Klägers aus den §§ 906, 1004 BGB zu Recht mit der Begründung verneint, für die Extremfälle, in denen es lediglich zu einem Wassereinbruch auf dem Grundstück des Klägers kommen könne, müsse die Beklagte keine Vorsorge treffen. Zum Inhalt einer ordnungsgemäßen Herstellung hat das Verwaltungsgericht ausgeführt:

Die Anforderungen an die Leistungsfähigkeit einer Regenwasserkanalisation können nicht schematisch festgelegt werden. Es gibt zwar technische Regelwerke für die Ausgestaltung und Leistungsfähigkeit von Regenwasserkanalisationen in DIN-EN 752 und in dem Arbeitsblatt A 118 des ATV-DVWK. Wie der Gutachten Dr. C. auf Seite 26 seines Gutachtens ausführt, sind sie hier aber nicht anzuwenden, weil diese Regelwerke erst nach Herstellung der Entwässerungsanlage in der B. Straße herausgegeben worden sind. Deshalb ist hier nicht zu entscheiden, ob Änderungsansprüche schon dann ausgeschlossen sind, wenn die Anlage die Vorgaben der ATV Arbeitsblätter einhalten, weil damit den Regeln der Technik entsprochen werde (Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 5. Dezember 2002 - 1 A 10202/02 - juris).

Nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen muss eine Regenwasserkanalisation so ausgelegt werden, dass es nicht jährlich zu Überflutungen und Rückstau auf Grundstücken kommt. Eine gemeindliche Regenwasserkanalisation ist unzureichend und bietet nicht den erforderlichen Schutz der Anlieger, wenn mit einer statistischen Wahrscheinlichkeit angenommen werden muss, jährlich einmal einer Überschwemmung ausgesetzt zu werden. Die Leistungsfähigkeit der Kanalisation muss aufgrund einer umfassenden Würdigung aller maßgeblichen abwasserwirtschaftlichen, technischen und topographischen Gelegenheiten ermittelt werden und kann sich nicht auf den „Berechnungsregen“ beschränken. Der ist zwar ein wesentliches Kriterium für die Dimensionierung der Kanalisation, kann jedoch nicht das einzige sein. Vielmehr sind zusätzlich auch die Geländeverhältnisse und die möglichen Fließwege bei Austritt aus den Einläufen zu beachten. Aus Sicht des betroffenen Grundstückseigentümers, auf dessen Schutz die Anlage auch ausgelegt sein muss, ist die „Überstauungshäufigkeit“, also der Anstieg des Wasserspiegels bis auf Geländehöhe, als Maßstab für die Auslegung und die Leistungsfähigkeit der Kanalisation geeigneter als die Regenhäufigkeit. Eine allein auf den „Berechnungsregen“ abgestellte Beurteilung ist insbesondere dann nicht ausreichend, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine darauf zugeschnittene Anlage außerstande ist, das anfallende Regenwasser nicht nur in seltenen Ausnahmefällen, sondern darüber hinaus auch bei häufigen, auch im Rahmen einer generalisierten Betrachtungsweise zu berücksichtigenden Anlässen zu bewältigen. Das kann etwa der Fall sein, wenn es in dem betroffenen Straßenzug trotz einer Auslegung der Kanalisation auf den Berechnungsregen immer wieder zu Überschwemmungen kommt (BGH, Urteil vom 11. Dezember 1997 - III ZR 52/97, NJW 1998, 1307). Ein Abwehranspruch gegen Überschwemmungen kann aber bei ungünstigen topographischen Gegebenheiten des Anliegergrundstückes ausgeschlossen oder eingeschränkt werden. Ein ungünstiges Höhenniveau des Anliegergrundstücks muss von der Gemeinde bei der Anlegung der Kanalisation nur eingeschränkt berücksichtigt werden (Brandenburgisches Oberlandesgericht, Urteil vom 6. Mai 2008 - 2 U 20/02 -, juris).

10Diesen überzeugenden Ausführungen schließt sich der Senat im vollen Umfang an. Ergänzend merkt er an: Abwasserkanäle müssen nicht so ausgelegt sein, dass es auch „bei einem ganz ungewöhnlichen und seltenen Starkregen“, also in Extremfällen, nicht zu einem Rückstau kommt (ähnlich der Bundesgerichtshof, Urt. v. 22.4.2004 - III ZR 108/03 - DVBl 2004, 948 für das Fehlen einer Amtspflichtverletzung bei einem Jahrhundertregen; siehe dazu auch Beschluss des Senats vom 23. Juni 2010 - 9 LA 51/09 -). Die Kanäle müssen aber so beschaffen sein, dass die Anlieger und Nutzer im Rahmen des Zumutbaren vor Überschwemmungsschäden geschützt sind. Der Schutz ist nicht hinreichend gewährleistet, wenn die Anlieger es hinnehmen müssen, einmal jährlich einer Überschwemmung ausgesetzt zu sein (BGH, Urt. v. 18.2.1999 - III ZR 272/96 - DÖV 1999, 740 = DVBl 1999, 609 = NVwZ 1999, 689; s. auch Rosenzweig/Freese, NKAG, Stand: August 2010, § 5 Rdn 188).