Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 17.12.2010 - 5 ME 268/10
Fundstelle
openJur 2012, 51353
  • Rkr:
Tenor

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Göttingen - 3. Kammer - vom 21. September 2010 geändert.

Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 28. Juni 2010 gegen die Entlassungsverfügung der Antragsgegnerin vom 25. Mai 2010 wird wiederhergestellt.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für beide Rechtszüge - insoweit unter Abänderung der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung - auf jeweils 3.090,36 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Der Antragsteller trat zum 1. Oktober 2007 in den Vorbereitungsdienst des gehobenen Dienstes der Schutzpolizei des Landes Niedersachsen als Polizeikommissar-Anwärter (PKA) unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Widerruf ein. Mit Verfügung vom 25. Mai 2010 entließ die Antragsgegnerin den Antragsteller unter Anordnung des Sofortvollzugs wegen erheblicher Zweifel an der charakterlichen Eignung für den Polizeiberuf aus dem Widerrufsbeamtenverhältnis. Anlass war das Verhalten des Antragstellers auf der sog. "B. Party", die am … 2009 in einer privaten Gaststätte in C. stattfand. Zur Begründung führte die Antragsgegnerin aus, der Antragsteller habe sich um 22.30 Uhr an diesem Abend aggressiv gegenüber dem PKA D. verhalten und ihn beschuldigt, von ihm gegen das Schienbein getreten worden zu sein. Um 23.00 Uhr sei er von einem anderen PKA nach einer Zigarette für einen weiteren Kollegen gefragt worden. Nachdem der Antragsteller den weiteren Kollegen aufgefordert habe, selbst nach einer Zigarette zu fragen und dieser wegen seines Alkoholkonsums hierzu nicht in der angemessenen Form in der Lage gewesen sei, habe der Antragsteller sich ausfallend über das Verhalten dieses PKA und den Studienjahrgang 09 beschwert. In diesem Zusammenhang habe der Antragsteller den weiblichen Anteil des Jahrgangs als "Huren" bezeichnet. Im weiteren Verlauf sei es zu einer Schubserei gekommen, die nur durch einen hinzukommenden PKA habe beendet werden können. Eine halbe Stunde später habe PKA E. aus Versehen das Bier des Antragstellers umgetreten, woraufhin der Antragsteller in aggressivem Ton diesen aufgefordert habe, ein neues Bier zu besorgen. Obwohl PKA E. dies zusagte, sobald er die Unterhaltung mit einer PKA´in beendet habe, habe der Antragsteller versucht, die Unterhaltung vorzeitig zu beenden und den PKA weiter in aggressiver Weise bedrängt, ihm ein Bier zu besorgen. Ein letzter Vorfall habe sich am … 2009 um 2.00 Uhr ereignet. Der Antragsteller sei auf den stark betrunkenen und von zwei Kameraden gestützten PKA F. sehr aggressiv zugegangen und habe behauptet, von ihm in die Magenkuhle geboxt worden zu sein, was nach Zeugenaussagen tatsächlich nicht der Fall gewesen sei. Daraufhin habe der Antragsteller den PKA F. mit den Worten "scheiß Straßentürke" beschimpft und die Worte "hau ich auf´s Maul" ausgesprochen. Nur durch das schnelle Eingreifen anderer PKA sei der Antragsteller zurückgehalten worden. Kurze Zeit später habe der Antragsteller vor der Gaststätte erneut den PKA F. getroffen und ihn als "dreckigen Straßentürken" bezeichnet. Diese Äußerung hätten zwei türkischstämmige Taxifahrer mitbekommen. Diese Verhaltensweise begründe erhebliche Zweifel an der charakterlichen Eignung des Antragstellers für die Ausübung des Polizeiberufs. Zwar seien die beteiligten PKA nicht unerheblich alkoholisiert gewesen. Ein aggressives oder provozierendes Verhalten sei nach den Zeugenaussagen von ihnen jedoch nicht ausgegangen. Soweit einige Zeugen bestätigt hätten, dass der Antragsteller nicht aggressiv, sondern in den einzelnen Situationen freundlich und zuvorkommend gewesen sei, stünden dem glaubhafte Aussagen anderer PKA entgegen, die einheitlich das grundlose sehr aggressive und unkollegiale Verhalten des Antragstellers beschrieben hätten. Nach der Gesamtbewertung liege ein sachlicher Grund für die Entlassung aus dem Beamtenverhältnis auf Widerruf vor. Auch wenn § 23 Abs. 4 Satz 2 BeamtStG grundsätzlich verlange, dass dem Antragsteller die Gelegenheit zur Ableistung des Vorbereitungsdienstes und zur Ablegung der Prüfung zu geben sei, sei er zu entlassen, weil er für den angestrebten Beruf nicht die erforderliche Eignung aufweise. Ein milderes Mittel sei in diesem Falle nicht gegeben. Schließlich seien auch fiskalische Aspekte zu berücksichtigen. Die Öffentlichkeit habe kein Verständnis dafür, einen PKA weiter zu beschäftigen und ihm Anwärterbezüge zu gewähren, obwohl erhebliche Zweifel an dessen charakterliche Eignung bestünden, die gegen die Übernahme in das Beamtenverhältnis auf Probe sprächen. Die Entlassung sei auch verhältnismäßig. Das Interesse des Antragstellers an der Ausbildung zum Polizeiberuf müsse hinter dem Interesse des Dienstherrn zurückstehen, nur solche PKA auszubilden, die später in den Polizeiberuf übernommen werden könnten. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung sei gerechtfertigt, weil es bei derartigen Zweifeln an der charakterlichen Eignung weder für die anderen PKA noch für die Öffentlichkeit nachvollziehbar sei, wenn finanzielle Mittel in die Ausbildung des Antragstellers flössen.

Gegen die Entlassungsverfügung hat der Antragsteller am 28. Juni 2010 Klage erhoben, über die noch nicht entschieden ist. Gleichzeitig hat er die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage beantragt. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag mit dem im Tenor genannten Beschluss abgelehnt. Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Antragstellers.

II.

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

Die mit der Beschwerde dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der beschließende Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, erfordern eine Änderung des angefochtenen Beschlusses. Soweit das Verwaltungsgericht bei der nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen Interessenabwägung die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache in den Blick genommen und seine Entscheidung auf die voraussichtliche Rechtmäßigkeit der Entlassungsverfügung gestützt hat, kann diese Entscheidung unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens nicht aufrechterhalten werden.

Anders als das Verwaltungsgericht beurteilt der beschließende Senat die Erfolgsaussichten der von dem Antragsteller erhobenen Klage als offen, sodass das Interesse der Antragsgegnerin an dem Sofortvollzug nicht aufgrund der Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren als überwiegend angesehen werden kann. Vielmehr führt die Interessenabwägungsentscheidung zu dem Ergebnis, dass im vorliegenden Fall die die Anordnung des Sofortvollzugs rechtfertigenden öffentlichen Interessen hinter dem Interesse des Antragstellers an der Aussetzung des Sofortvollzugs zurückzutreten haben. Im Einzelnen gilt dazu Folgendes:

6Nach § 23 Abs. 4 Satz 1 BeamtStG kann ein Beamter auf Widerruf jederzeit entlassen werden, wobei nach § 23 Abs. 4 Satz 2 BeamtStG die Gelegenheit zur Beendigung des Vorbereitungsdienstes und zur Ablegung der Prüfung gegeben werden soll. Berechtigte Zweifel an der mangelnden persönlichen Eignung können unabhängig von den Leistungen, die der Antragsteller in fachlicher Hinsicht gezeigt hat, als sachlicher Grund die Entlassung rechtfertigen. Zum Begriff der Eignung in diesem Sinne gehört allgemein, dass erwartet werden kann, der Beamte werde alle dienstlichen und außerdienstlichen Pflichten aus dem Beamtenverhältnis erfüllen, sowie insbesondere die charakterliche Eignung, wozu dienstlich relevante Eigenschaften wie Selbständigkeit, Organisationsfähigkeit, Durchsetzungsvermögen, Zuverlässigkeit wie auch die Bereitschaft und Fähigkeit zur Zusammenarbeit gehören; erfasst ist die vom Beamten zu fordernde Dienstauffassung und Loyalität. Von dem Polizeivollzugsbeamten ist in diesem Sinne eine gewisse soziale Kompetenz zu erwarten. Es wird von ihm verlangt, zugleich einerseits deeskalierend und andererseits die polizeilichen Ziele verfolgend auf andere Menschen einzuwirken (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 7.4.2009 - 5 ME 25/09 -, DÖD 2009, 251 ff. = juris Langtext, Rn. 32).

Anhand dieses Maßstabes ist für die Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Entlassungsverfügung erforderlich, dass die Antragsgegnerin bei ihrer Entscheidung von einem zutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist, den Rechtsbegriff der Eignung nicht verkannt und bei der von ihr zu treffenden Prognoseentscheidung allgemeingültige Wertmaßstäbe beachtet sowie sachwidrige Erwägungen nicht angestellt hat.

8Vorliegend bestehen erhebliche Bedenken, ob die Antragsgegnerin bei ihrer Entscheidung, das Verhalten des Antragstellers rechtfertige die Annahme berechtigter Zweifel an der Eignung als Polizeibeamter, allgemeingültige Bewertungsmaßstäbe beachtet hat. Entscheidend dürfte im vorliegenden Fall sein, dass es sich ausweislich des Aktenvorgangs - anders als in dem von dem Senat mit Beschluss vom 7. April 2009 (- 5 ME 25/09 -, DÖD 2009, 251) entschiedenen Fall - um ein einmaliges außerdienstliches Fehlverhalten handelt, das dem Antragsteller zum Vorwurf und als Grundlage der Entlassungsverfügung gemacht wird. Zwar kann auch ein einmaliges schwerwiegendes außerdienstliches Fehlverhalten eines Widerrufsbeamten im Vorbereitungsdienst des früheren gehobenen Dienstes der Schutzpolizei (jetzt: Erstes Einstiegsamt der Laufbahngruppe 2) die Annahme rechtfertigen, er sei für den Polizeiberuf charakterlich ungeeignet. Dieses ist jedoch nicht der Fall, wenn es sich um ein einmaliges persönlichkeitsfremdes Fehlverhalten handelt (vgl. dazu OVG N-W, Beschl. v. 26.8.2005 - 6 B 1389/05 -, Schütz, BeamtR ES /E III 1 Nr. 42 = juris Langtext, Rn. 29; Beschl. v. 4.12.2008 - 6 B 1520/08 -, ZBR 2010, 124 = juris Langtext, Rn. 4, jeweils zur außerdienstlichen Trunkenheitsfahrt; BayVGH, Beschl. v. 10.6.2003 - 3 CS 03.1398 -, juris Langtext, Rn. 21 zur einmaligen außerdienstlichen Rangelei mit "jugendtypischen Zügen").

Der Senat kann aufgrund der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht abschließend bewerten, ob es sich bei dem Verhalten des Antragstellers auf der "B. Party" am … 2009 in der Zeit von 22.00 Uhr bis 2.00 Uhr des nächsten Tages um ein einmaliges persönlichkeitsfremdes Fehlverhalten gehandelt hat. Dies hat zur Folge, dass dieses für die Annahme eines die Entlassung begründenden sachlichen Grundes nicht ausreicht. Für ein persönlichkeitsfremdes Fehlverhalten könnte sprechen, dass der Antragsteller - wovon auch die Antragsgegnerin - ausgeht, innerhalb des Dienstes während der Ausbildung keinerlei Anzeichen gegeben hat, die auf eine mangelnde charakterliche Eignung schließen lassen. Stellungnahmen der Vorgesetzten des Antragstellers hat die Antragsgegnerin aus diesem Grunde nicht eingeholt. Es dürfte jedoch nahe liegen, die Ausbilder dahingehend zu befragen, ob es Anhaltspunkte dafür gibt, dass der Antragsteller ein beleidigendes, aggressives und teilweise ausländerfeindliches Verhalten auch im Rahmen der über zweijährigen Ausbildung bereits gezeigt hat, um hieraus Rückschlüsse ziehen zu können, ob das an dem Abend des … 2009 gezeigte Verhalten im Vergleich zu seinem sonstigen Verhalten sich als persönlichkeitsbedingt oder persönlichkeitsfremd darstellt. Des weiteren dürfte im Hauptsacheverfahren bei der Beantwortung dieser Frage zu beachten sein, dass der Antragsteller nach der Aussage des Zeugen G. nach seinen beleidigenden Äußerungen gegenüber dem PKA H. und den weiteren PKA des Studienjahrgangs 09 auf den Zeugen zugekommen ist und versucht hat, "die Sache" aus der Welt zu schaffen, was aber von dem Zeugen abgelehnt worden ist. Für die Annahme, dass es sich um ein persönlichkeitsfremdes Fehlverhalten handeln könnte, dürfte auch die Zeugenaussage des PKA I. sprechen, soweit dieser bekundet hat, dass er bei dem Antragsteller zuvor niemals derartige Entgleisungen erlebt habe, und zwar auch nicht im Zusammenhang mit dem Genuss alkoholischer Getränke.

10Erweisen sich demnach die Erfolgsaussichten der Hauptsache als offen, ist die Entscheidung über die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung auf der Grundlage einer Interessenabwägung zu treffen. Diese fällt vorliegend zu Gunsten des Antragstellers aus. Aufgrund der offenen Erfolgsaussichten des Hauptsacherechtsbehelfs kann nach gegenwärtigem Erkenntnisstand noch nicht festgestellt werden, dass ein persönlichkeitsbedingter Charaktermangel bei dem Antragsteller vorliegt, der einer späteren Verwendung im Beamtenverhältnis auf Probe und auf Lebenszeit in jedem Fall entgegenstünde. Darüber hinaus sind das Interesse des Antragstellers an der Beendigung des Vorbereitungsdienstes und der Ablegung der Prüfung wie auch dessen finanzielle Interessen zu berücksichtigen. Demgegenüber hat im vorliegenden Einzelfall das öffentliche Interesse, einem (möglicherweise) charakterlich ungeeigneten Polizeibeamten den Abschluss der Ausbildung nicht gewähren zu müssen, auch mit Blick auf das Ansehen in der Öffentlichkeit und gegenüber den anderen Studierenden zurückzutreten. Denn insoweit ist entscheidend, dass derzeit nicht das dauerhafte Verbleiben des Antragstellers im Polizeidienst im Raum steht, sondern dass die Antragsgegnerin während der verbleibenden Zeit des Beamtenverhältnisses auf Widerruf sowie gegebenenfalls eines nachfolgenden Beamtenverhältnisses auf Probe noch ausreichend Zeit hat, die Entwicklung des Verhaltens und der Persönlichkeit des Antragstellers zu beobachten und eventuell bei einem wiederholten Fehlverhalten entsprechende Konsequenzen zu ziehen (vgl. dazu BayVGH, Beschl. v. 10.6.2003 - 3 CS 03.1398 -, juris Langtext, Rn. 21).