OLG Celle, Beschluss vom 19.08.2010 - 1 Ws 419/10
Fundstelle
openJur 2012, 50888
  • Rkr:

1. Eine bis zur Anklageerhebung nicht beschiedene Beschwerde gegen die Versagung einer Beiordnung durch den nach §§ 141 Abs. 4, 2. Halbsatz i.V.m. § 126 Abs. 1 StPO zuständigen Richter ist nach Anklageerhebung als Antrag auf Beiordnung zu behandeln, über den nunmehr der Vorsitzende des erkennenden Gerichts zu befinden hat.2. § 143 StPO führt trotz Bevollmächtigung eines Wahlverteidigers nicht zur Aufhebung einer erfolgten Beiordnung, wenn die Bevollmächtigung nur erfolgt, um die Entbindung des bisherigen Pflichtverteidigers zu erzwingen und zu erreichen, dass der Wahlverteidiger an dessen Stelle Pflichtverteidiger wird.

Tenor

Die Beschwerden des Angeschuldigten gegen die Beschlüsse der 3. großen Strafkammer - Jugendkammer - des Landgerichts Hildesheim vom 1. und 16. Juli 2010 werden verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.

Gegen diese Entscheidung ist keine Beschwerde gegeben (§ 304 Abs. 4 StPO).

Gründe

I.

Dem am 8. Juni 2010 festgenommenen Angeschuldigten wurde durch das Amtsgericht Hildesheim am 10. Juni 2010 Rechtsanwalt W. als Pflichtverteidiger beigeordnet. Unter dem 15. Juni 2010 meldete sich Rechtsanwältin B. als Verteidigerin und beantragte ihre Beiordnung. Dies lehnte das Amtsgericht Hildesheim durch Beschluss vom 22. Juni 2010 unter Hinweis auf die bestehende Beiordnung ab. Die hiergegen erhobene Beschwerde des Angeschuldigten ging am 25. Juni 2010 beim Amtsgericht Hildesheim ein. Hierin führt er aus, mit der Beiordnung von Rechtsanwalt W. ausdrücklich nicht einverstanden gewesen zu sein. Zudem sei die bestehende Beiordnung aufzuheben, weil er mit Rechtsanwältin B. nunmehr über eine Wahlverteidigerin verfüge. Unter dem 28. Juni 2010 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage gegen den Angeschuldigten zur großen Jugendkammer des Landgerichts Hildesheim, deren Vorsitzender am 30. Juni 2010 die Zustellung der Anklage an den Angeschuldigten verfügte. Am 1. Juli 2010 wies die Kammer die Beschwerde gegen die Versagung der Beiordnung von Rechtsanwältin B. aus den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung zurück. Das Vertrauensverhältnis des Angeschuldigten zu Rechtsanwalt W. sei nicht gestört. Hiergegen erhob der Angeschuldigte wiederum Beschwerde. Die Kammer legte diese als Gegenvorstellung gegen ihren Beschluss aus und verwarf diese am 16. Juli 2010 als unbegründet. Auf die auch hiergegen erhobene Beschwerde hat die Kammer die Sache dem Senat zur Entscheidung vorgelegt.

II.

Die Beschwerde ist zulässig, hat aber in der Sache keinen Erfolg.

1. Die Beschwerde ist zulässig. Insbesondere steht ihr nicht § 310 Abs. 2 StPO entgegen. Denn die Entscheidung der Kammer vom 1. Juli 2010 stellt der Sache nach keine Beschwerdeentscheidung, sondern eine erstinstanzliche Ablehnung des Antrags auf Beiordnung von Rechtsanwältin B. dar.

4Mit Eingang der Anklage beim Landgericht Hannover hat nämlich ein Zuständigkeitswechsel in der Form stattgefunden, dass nunmehr nur noch der Vorsitzende der großen Strafkammer für die Entscheidung über die Beiordnung zuständig ist. Es ist in Rechtsprechung und Schrifttum anerkannt, dass wegen des durch die Anklageerhebung eintretenden Zuständigkeitswechsels eine bis dahin noch nicht erledigte Haftbeschwerde in einen Antrag auf Haftprüfung an das nunmehr zuständige Gericht des Hauptverfahrens umzudeuten ist, um divergierende Entscheidungen zu verhindern (vgl. OLG Karlsruhe StV 1994, 664; Meyer-Goßner, § 117 StPO Rdnr. 12 jew. m. w. N.). Aus denselben Erwägungen ist auch eine nicht erledigte Beschwerde gegen die Ablehnung einer Verteidigerbestellung durch das Amtsgericht nach Vorlage der Akten gemäß § 321 Satz 2 StPO beim Berufungsgericht wegen des damit verbundenen Zuständigkeitswechsels in einen erneuten Antrag auf Verteidigerbestellung umzudeuten (vgl. OLG Stuttgart Justiz 2007, 357; Meyer-Goßner, § 141 StPO Rdnr. 10). Diese Grundsätze sind auf die vorliegende Verfahrenslage zu übertragen (vgl. Senatsbeschluss vom 7. Juli 2008, 1 Ws 325/08). Zwar soll dem mit der Anklageerhebung einhergehenden Zuständigkeitswechsel grundsätzlich bereits dadurch Rechnung getragen werden, dass nach § 141 Abs. 4 1. HS StPO über die Bestellung eines Verteidigers vor Anklageerhebung der Vorsitzende desjenigen Gerichts entscheidet, das für das Hauptverfahren zuständig ist. Im Fall der Beiordnung eines Pflichtverteidigers wegen bestehender Untersuchungshaft nach § 141 Abs. 4 2. HS StPO greift diese Überlegung indessen nicht ein, weil der Gesetzgeber für diese Fälle die unmittelbar der Anordnung von Untersuchungshaft nachfolgende Entscheidung des den Haftbefehl erlassenden Gerichts vorgesehen hat. Erst nach Anklageerhebung wird nach § 141 Abs. 4 2. Hs i.V.m. § 126 Abs. 2 StPO die Zuständigkeit des Vorsitzenden des erkennenden Gerichts begründet. Die Gefahr divergierender Entscheidungen liegt somit auf der Hand, wenn nicht ausnahmsweise der Spruchkörper des erkennenden Gerichts mit der für die Entscheidung über die Beschwerde zuständigen Strafkammer identisch ist. Um solche Divergenzen zu vermeiden, sind noch nicht erledigte Beschwerden gegen die Ablehnung einer Beiordnung im Fall nachträglicher Anklageerhebung in Anträge auf Beiordnung umzudeuten. Dass vorliegend tatsächlich die für Beschwerdeentscheidungen zuständige Kammer mit der durch die Anklage zuständig gewordenen Kammer identisch ist, war für die grundlegende Bewertung des Sachverhalts ohne Bedeutung, zumal nicht der nach § 126 Abs. 2 StPO allein funktional zuständige Vorsitzende, sondern die Kammer in der Besetzung nach § 76 Abs. 1 Satz 2 GVG entschieden hat. Die angefochtene Entscheidung war nach alledem als erstinstanzliche Entscheidung über den Beiordnungsantrag für Rechtsanwältin B. zu werten.

2. Die Beschwerde hat aber in der Sache keinen Erfolg.

Auch wenn statt des funktional zuständigen Vorsitzenden die Kammer in der Besetzung mit drei Berufsrichtern in der Sache entschieden hat, führte dies nicht zur Aufhebung des Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an den Kammervorsitzenden. Denn der Senat hatte nach § 309 Abs. 2 StPO eine eigene Sachentscheidung zu treffen. Danach ist die angefochtene Entscheidung jedenfalls inhaltlich zutreffend erfolgt.

Der Beiordnung von Rechtsanwältin B. stand entgegen, dass dem Angeschuldigten bereits ein Pflichtverteidiger beigeordnet war. Entgegen der Beschwerdebegründung hat sich der Angeschuldigte bei der Verkündung des Haftbefehls vor dem Amtsgericht Hildesheim am 9. Juni 2010 mit einer Beiordnung von Rechtsanwalt W. auch einverstanden erklärt, nachdem er selbst zu einer Benennung eines Verteidigers nicht in der Lage war. Da die Bestellung des Pflichtverteidigers somit ordnungsgemäß unter Beachtung des § 142 Abs. 1 StPO erfolgt ist (vgl. BGH NStZ-RR 2005, 240), hätte der Angeschuldigte konkrete Umstände vortragen müssen, aus denen sich ergibt, dass das Vertrauensverhältnis zwischen ihm und dem Pflichtverteidiger endgültig und nachhaltig erschüttert und deshalb zu besorgen ist, dass die Verteidigung objektiv nicht (mehr) sachgerecht geführt werden kann (vgl. BVerfG NJW 2001, 3695; BGHSt 39, 310; StV 2004, 302; NStZ-RR 2005, 240; Senatsbeschluss vom 20. Oktober 2009, 1 Ws 532/09; vom 7. Juli 2008, 1 Ws 325/08). Solche Umstände sind jedoch weder vorgetragen noch sonst wie ersichtlich.

8Die Entpflichtung von Rechtsanwalt W. als Pflichtverteidiger kam auch unter dem Gesichtspunkt, dass der Angeschuldigte mit Rechtsanwältin B. nunmehr über eine Wahlverteidigerin verfügt, nicht in Betracht. Zwar führt nach § 143 StPO die Bevollmächtigung eines Wahlverteidigers grundsätzlich dazu, dass die Pflichtverteidigerbestellung zurückzunehmen ist. Dies gilt aber nur dann, wenn die Verteidigung durch den Wahlverteidiger während des gesamten Verfahrens sichergestellt ist. Steht von vornherein fest, dass der Wahlverteidiger sein Mandat alsbald niederlegen wird, oder ist dies wegen Mittellosigkeit des Angeklagten zu erwarten, so ist die Bestellung des Pflichtverteidigers aufrecht zu erhalten. Dies gilt auch dann, wenn - wie hier - die Bevollmächtigung des Wahlverteidigers nur erfolgt, um die Entbindung des bisherigen Verteidigers nach § 143 StPO zu erzwingen und zu erreichen, dass der Wahlverteidiger an dessen Stelle Pflichtverteidiger wird. Auf einen solchen Wechsel des Pflichtverteidigers hat der Angeklagte schon wegen der dadurch bedingten finanziellen Mehrbelastung der Staatskasse und möglicher Störungen und Verzögerungen des Verfahrens keinen Anspruch (vgl. Senatsbeschluss vom 20. Oktober 2009, 1 Ws 532/09; BGH StraFo 2008, 505; KG NStZ 1993, 201; OLG Stuttgart NStZ-RR 1996, 207; OLG Düsseldorf StV 1997, 576; OLG Köln NJW 2006, 389; Meyer-Goßner, § 143 StPO Rdn. 2).

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 StPO.