VG Lüneburg, Urteil vom 10.12.2008 - 1 A 173/06
Fundstelle
openJur 2012, 48317
  • Rkr:
Tenor

Der Bescheid der Beklagten vom 10. August 2006 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, für die Klägerin ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG bezüglich Vietnams festzustellen.

Die Verfahrenskosten hat die Beklagte zutragen; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, sofern nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Die 1966 geb. Klägerin - Buddhistin vietnamesischer Staatsangehörigkeit - begehrt die Feststellung von Abschiebungshindernissen gem. § 60 Abs. 7 AufenthG.

Ihr auf Anerkennung als Asylberechtigte sowie die Feststellung von Abschiebungshindernissen gerichteter Erstantrag vom 4. Mai 2001, den sie gemeinsam mit ihrer minderjährigen Tochter gestellt hatte, wurde durch Bescheid der Beklagten vom 17. Mai 2001 als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Die dagegen gerichtete Klage war erfolglos (Urteil des VG Braunschweig vom 27. Juni 2001 - 1 A 162/01 - ; Beschluss des Nds. Oberverwaltungsgerichts v. 31.7.2001 - 9 LA 2553/01 -).

Im Oktober 2001 wurde sie wegen einer halbseitigen Lähmung in das Allgemeine Krankenhaus C - AKH - eingewiesen.

Ihr am 26. Juli 2006 gestellter Folgeantrag auf Feststellung von Abschiebungshindernissen gem. § 60 Abs. 7 AufenthG und Aufhebung der Abschiebungsandrohung, begründet mit ihrer halbseitigen Lähmung vom Oktober 2001 sowie einer festgestellten Diabetes mit Angewiesensein auf Medikamente, wurde durch Bescheid der Beklagten vom 9. August 2006 abgewiesen. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen nach § 51 VwVfG lägen nicht vor, u.zw. auch nicht im weiteren Sinne des § 51 Abs. 5 iVm §§ 48, 49 VwVfG. Denn die bei der Klägerin festgestellten Krankheiten seien in Vietnam durchaus behandelbar, wenngleich sämtliche Krankheitskosten zu bezahlen seien. Eine Bestrafung wegen ihrer ungenehmigten Ausreise aus Vietnam und ihrem Aufenthalt in Deutschland dagegen drohe ihr nach der einschlägigen Rechtsprechung nicht.

Zur Begründung ihrer am 15. August 2006 erhobenen Klage verweist die Klägerin auf das Urteil der Kammer v. 1.2.2005 - 1 A 343/00 - sowie darauf, dass sie aus Hai Phong stamme, das ca. 100 km (3-4 Std. Zugfahrt) von Hanoi entfernt liege. Ein legaler Zuzug nach Hanoi sei ihr nach dem vietnamesischen Gesellschaftssystem nicht möglich und bei einem illegalen Zuzug sei sie von der medizinischen Versorgung ausgeschlossen.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid vom 10. August 2006 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG bezüglich Vietnams festzustellen.

Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Sie verweist zur Begründung auf ihren angefochtenen Bescheid.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.

Gründe

Die zulässige Klage hat Erfolg.

Die Beklagte ist unter Aufhebung ihres angefochtenen Bescheides zu verpflichten festzustellen, dass der Klägerin ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG zur Seite steht.

1. Anzuwenden ist das ab 1. Januar 2005 geltende Aufenthaltsgesetz vom 30. Juli 2004 (BGBl I 1950) in der mit Wirkung vom 28. August 2007 geltenden Fassung des "Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union" - EURLAsylUmsG - vom 19.8.2007 (BGBl. I 2007, S. 1970). Daneben und vor allem ist die Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG anzuwenden, welche die zuvor genannten Gesetze entscheidend prägt, so dass diese im Lichte der Qualifikationsrichtlinie auszulegen sind. Vgl. BVerwG-Urt. v. 24.6.2008 - 10 C 42.07 und 10 C 43.07 - :

"Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung, ob den Klägern der begehrte Abschiebungsschutz zusteht, ist die neue, seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl I 2007, 1970) - im Folgenden: Richtlinienumsetzungsgesetz - am 28. August 2007 geltende Rechtslage. Denn nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind Rechtsänderungen, die nach der Berufungsentscheidung eintreten, vom Revisionsgericht dann zu berücksichtigen, wenn sie das Berufungsgericht, wenn es jetzt entschiede, zu beachten hätte. Da es sich vorliegend um eine asylverfahrensrechtliche Streitigkeit handelt, bei der das Berufungsgericht nach § 77 Abs. 1 AsylVfG regelmäßig auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt seiner letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung abzustellen hat, müsste es, wenn es jetzt entschiede, die neue Rechtslage zugrunde legen (vgl. Urteil vom 11. September 2007 BVerwG 10 C 8.07 BVerwGE 129, 251 <257 f.> Rn. 19)."

Somit kommt es hier gem. § 77 Abs. 1 AsylVfG auf die Rechtslage zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (Dez. 2008) an.

2. Die Klägerin hat im Juli 2006 einen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens gestellt, der von der Beklagten im Bescheid vom 9. August 2006 zum Anlass genommen worden ist, im Wege der Ermessensausübung gem. § 51 Abs. 5 iVm §§ 48, 49 VwVfG in eine Überprüfung des Folgeantrages einzutreten.

2.1 Schon unter dem Gesichtspunkt neuer Beweismittel (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG) ergibt sich hier allerdings ein Anspruch der Klägerin auf Durchführung eines neuen Verfahrens. Für die Zulässigkeit des Antrags auf Wiederaufgreifen des Verfahrens ist zum einen erforderlich, dass ein Beweismittel „neu“ ist. „Neu“ ist es dann, wenn es während der Anhängigkeit des früheren Verwaltungsverfahrens entweder noch nicht existierte oder zwar schon vorhanden war, aber ohne Verschulden des Betroffenen nicht oder nicht rechtzeitig beigebracht werden konnten. Vgl. BVerwG, Urteil v. 21.4.1982 - 8 C 75/80 -:

"Der Antrag auf Wiederaufgreifen eines Verwaltungsverfahrens ist begründet, wenn das neue Beweismittel - gegebenenfalls in Verbindung mit anderen (beachtlichen) Beweismitteln - tatsächlich eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt hätte."

Das die Klägerin betreffende Attest der Facharztpraxis vom 23. Juli 2006 ist danach „neu“ weil es im ersten Asylverfahren nicht vorlag und nicht vorliegen konnte. Es werden in dem Attest auch damals nicht bekannte Umstände verwertet, die eine der Klägerin günstigere Entscheidung - wären sie bekannt gewesen - herbeigeführt hätte. Die Antragsfrist von 3 Monaten (§ 51 Abs. 3 VwVfG) ist bezüglich des Attestes fraglos gewahrt. Die im Attest genannten Umstände, die ihrerseits außerhalb der Ausschlussfrist liegen, konkretisieren, erläutern, bestätigen und wiederholen den Wiederaufgreifensgrund des neuen, fristgemäß vorgelegten Beweismittels (Bl. 20 Beiakten A).

2.2 Auch unter dem Gesichtspunkt einer Änderung der Sach- oder Rechtslage (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) und der daran anknüpfenden Ermessensprüfung der Beklagten gem. §§ 51 Abs. 5, 48, 49 VwVfG ergibt sich hier die Abänderbarkeit der zu § 60 Abs. 7 AufenthG getroffenen Entscheidung der Beklagten.

Mit Blick auf die Rechtskraft des Urteils des VG Braunschweig vom 27. Juni 2001 (vgl. den eine Berufungszulassung ablehnenden Beschluss des Nds. OVG v. 31.7.2001 - 9 LA 2553/01 - ) konnte seitens der Beklagten vorbehaltlos in eine Ermessensprüfung gem. § 51 Abs. 5 VwVfG eingetreten werden, weil eine Bindung der Beklagten wie auch der Kammer nur in dem Umfange existiert, wie der Asylantrag bereits Gegenstand des Erstverfahrens gewesen ist. Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen nur bei völliger Identität der Streitgegenstände (vgl. BVerwG, NVwZ 1989, 161 und BVerfG, NVwZ 1989, 141). Mit ihrem Folgeantrag hat die Klägerin jedoch einen völlig neuen, erst nach Abschluss des Erstverfahrens entstandenen Sachverhalt unterbreitet, den der Beklagte zum Anlass nehmen konnte und musste, von sich aus in eine neue Sachprüfung einzutreten (vgl. S. 3 d. angef. Bescheides).

Entgegen der Ansicht der Beklagten liegen hier jedoch Gründe vor, die unabhängig von den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG eine Abänderung der bisherigen Entscheidung nicht nur rechtfertigen, sondern sogar gebieten.

3. Das geltend gemachte Abschiebungsverbot (§ 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG), das an eine Soll-Vorschrift geknüpft ist, hängt stets von einer individuellen Einzelfallbetrachtung ab, die von der Beklagten nicht in der durch die rechtsverbindliche Qualifikationsrichtlinie 2004/ 83/EG gebotenen Weise durchgeführt worden ist. Denn Abschiebungsverbote nach der gen. Richtlinie gehen nationalen Abschiebungsverboten vor und sind ihrerseits anders ausgestaltet. Vgl. Entscheidungen Asyl 11/2008 S. 1 mwN. und BVerwG-Urt. v. 24.6.2008 - 10 C 43.07 - (Rz. 13):

"Dies hat zur Folge, dass in Bezug auf das Herkunftsland die dem subsidiären Schutzkonzept der Qualifikationsrichtlinie zuzuordnenden Abschiebungsverbote gegenüber den sonstigen (nationalen) ausländerrechtlichen Abschiebungsverboten einen selbständigen Streitgegenstand bilden und ihre Feststellung nach der typischen Interessenlage des Schutzsuchenden vorrangig vor der Feststellung eines sonstigen herkunftslandbezogenen ausländerrechtlichen Abschiebungsverbots begehrt wird."

Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG ist im Falle der Krankheit eines Asylbewerbers nach - das Gericht nicht bindenden - innerbehördlichen Hinweisen zudem bereits dann anzuerkennen, wenn sich dessen Erkrankung in seinem Heimatstaat wegen unzureichender Behandlungsmöglichkeiten dort nur "verschlimmert" iSv einer "wesentlichen Verschlechterung". Vgl. insoweit 60.7.1.2 der Vorl. Nds. VV-AufenthG vom 31.7. 2008:

"Die Gefahr, dass sich die Krankheit eines ausreisepflichtigen Ausländers in seinem Heimatstaat verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind, kann ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 darstellen. Erheblich ist die Gefahr, wenn sich der Gesundheitszustand aufgrund des rückführungsbedingten Abbruchs einer notwendigen und (auch in Anspruch genommenen) medizinischen Behandlung wegen einer unzureichenden oder nicht zugänglichen Behandlungsmöglichkeit im Heimatland wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würde."

In Anwendung der Qualifikationsrichtlinie ist darüber hinaus ein subsidiärer Schutzstatus gem. Art. 18, der insoweit sedes materiae ist, während u.a. Art. 15 nur - ohne Ausschließlichkeit - einige besondere Voraussetzungen für den Anspruch auf subsidiären Schutz beschreibt ("gilt"), schon dann zuzuerkennen, wenn u.a. die Voraussetzungen des Kap. II erfüllt sind. Hiernach kommt es gem. Art. 4 Abs. 3 c) RL (im Kap. II) u.a. darauf an, ob bei einer konsequent individuellen Prüfung des Schutzantrages die "individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers" ergeben, dass er Handlungen "ausgesetzt seinkönnte", die einem "sonstigen ernsthaften Schadengleichzusetzensind". Es kommt somit vorrangig darauf an, dass die bloße Möglichkeit von nicht näher festgelegten - undefinierten - Handlungen besteht, die einem Schaden iSv Art. 15 RL nur irgendwie gleichkommen bzw. ihm gleichzusetzen sind, was anhand einer prognostischen Beurteilung der Zustände im Heimatland festzustellen ist. Damit kommt eine große Vielzahl von Handlungen bzw. Maßnahmen in Betracht, die keine existenzielle Lebensbedrohung darzustellen brauchen, die aber als "unmenschliche oder erniedrigende Behandlung" (Art. 15 b RL) gelten können oder aber einer solchen Behandlung von ihrem Gewicht und ihrer Wirkungskraft her jedenfalls doch gleichkommen. Es ist also keineswegs und sozusagen ausschließlich erforderlich, dass die Beschreibung und Definition des Art. 15 RL mit seiner Berücksichtigung des humanitären Völkerrecht einschlägig und tatsächlich gegeben ist (vgl. dazu BVerwG-Urt. v. 24.6.2008 - 10 C 43.07 -), sondern es reicht für Art. 18 iVm Art. 4 Abs. 3 RL stets auch aus, dass bei der gebotenen individuellen Prüfung des Schutzantrages (Art. 4 Abs. 3 RL) nur mehr oder weniger gleichrangige bzw. "gleichzusetzende" Schäden - wie sie in Art. 15 RL mit Bezügen zum humanitären Völkerrecht definiert sind - bei Handlungen iSv Art. 4 Abs. 3 RL hervortreten und bei lebensnaher Betrachtung deutlich werden.

29Bei Betrachtung solcher Handlungen, denen die Klägerin ausgesetzt sein könnte und die vergleichbare Schäden, wie z.B. in Art. 15 RL vorausgesetzt, anrichten könnten, ist angesichts einer gravierenden Krankheit einzubeziehen, dass die Klägerin in vietnamesischen Krankenhäusern, Apotheken oder Verkaufsstellen von Medikamenten u.U. nur deshalb abgewiesen werden könnte, weil sie nicht die erforderlichen finanziellen Mittel für ihre Behandlung oder den Kauf von Medikamenten hätte. Dabei ist gem. Art. 20 Abs. 3 der gen. Richtlinie auch die "spezielle Situation" u.a. von "Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern" gebührend einzubeziehen und zu berücksichtigen, was in finanzieller Hinsicht die Problematik verschärfen dürfte, da durch die Betreuung und Versorgung Minderjähriger bekanntermaßen regelmäßig erhebliche Finanzmittel gebunden werden.

4. Somit kommt es hier auf eine Abwägung der verschiedenen Gesichtspunkte an, welche die individuelle Lage der Klägerin prägen, falls sie mit ihrer Tochter nach Vietnam abgeschoben würde. Vgl. Beschl. des NRW Nordrhein-Westfalen v. 22.1.2007 - 18 E 274/06 - :

"Insoweit ist zwar - worauf schon das Verwaltungsgericht zutreffend hingewiesen hat - nach den im Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung E. ausführlich wiedergegebenen und unter Beteiligung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge gewonnenen Erkenntnissen die schwere Erkrankung des Klägers zu 4. in der Türkei grundsätzlich behandelbar. Allerdings lässt sich nach dem gegenwärtigen Sachstand nicht die Frage beantworten, ob dem Kläger zu 4. alle erforderlichen Medikamente finanziell zugänglich sind. Sollte das nicht der Fall sein, wäre eine krankheitsbedingte zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu bejahen. Vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 2002 - 1 C 1.02 -, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 66 = AuAS 2003, 106. Eine derartige Gefahr ist nicht schon deshalb zu verneinen, weil der Beklagte dem Kläger zu 4. für einen Übergangszeitraum eine Finanzierung der erforderlichen Medikamente angeboten hat. Maßgeblich ist insoweit, ob infolge einer solchen Hilfsmaßnahme mit hinreichender Sicherheit erwartet werden kann, dass danach die erforderliche weitere Behandlung im Zielstaat dem Ausländer zur Verfügung steht. Ob eine solche Prognose getroffen werden kann, hängt von den jeweiligen Umständen des Einzelfalles ab und lässt sich deshalb nicht allgemein beantworten."

Es reicht daher nicht aus, grob schematisierend eine grundsätzlich auch in Vietnam gegebene allgemeine "Behandelbarkeit" festzustellen, so wie das im angefochtenen Bescheid geschehen ist. Vielmehr ist auch und vor allem in den Blick zu nehmen, ob die Klägerin ggf. finanziell überhaupt in der Lage wäre, die erforderlichen Medikamente in ihrem Heimatstaat Vietnam im nahen zeitlichen Zusammenhang mit etwa auftretenden Krankheitsfällen zu erwerben. Dazu ist im angefochtenen Bescheid nichts gesagt, die Prüfung und Abwägung insofern unzulässig ver- und abgekürzt worden. Die erforderliche individuelle Einzelfallbetrachtung hat entgegen der rechtsverbindlichen Qualifikationsrichtlinie (Art. 4 Abs. 3) gar nicht stattgefunden. Schon aus diesem Grunde ist der angefochtene Bescheid vom 9. August 2006 aufzuheben.

In der Sache ist bei individueller Prüfung sämtlicher Umstände davon auszugehen, dass die Klägerin - mit ihrer zu betreuenden und zu versorgenden Tochter (vgl. dazu Art. 20 Abs. 3 Richtlinie), deren Wohl ebenfalls zu berücksichtigen ist (Art. 20 Abs. 5 Richtlinie) - nicht in der Lage wäre, die benötigten Medikamente zu erwerben und eine ggf. erforderliche Behandlung, wie sie im Allg. Krankenhaus C schon einmal nötig war, zu bezahlen. Hierauf kommt es jedoch an. Vgl. Urteil des VG Oldenburg v. 24.6.2008 - 7 A 1830/06 - :

"Die Auffassung des Gerichts, dass die erforderliche Diabetes-Behandlung in Togo für den Kläger aus finanziellen Gründen nicht verfügbar sein wird, steht - soweit ersichtlich - auch nicht in Widerspruch zu einer ständigen Rechtsprechung anderer deutscher Verwaltungsgerichte."

In der mündlichen Verhandlung vom 10. Dezember 2008 hat die Klägerin dazu ausgeführt, dass es in Vietnam nur in drei Städten eine normale medizinische Versorgung gebe und in Apotheken anderer Städte, die grundsätzlich nicht so gut sortiert seien wie in Deutschland, "nur etwas zu hohen Preisen ´aus eigener Tasche´" erworben werden könne. Im Übrigen könne sie zu kühlende Medikamente, die ihr verordnet worden und auf der Medikamentenliste vom 5. Oktober 2007 enthalten seien, in Vietnam nicht aufbewahren, da ihr dort kein Kühlschrank zur Verfügung stehe. Angesichts dessen, dass ihre Eltern 1972 verstorben seien und sie, abgesehen von einer ca. 70-jährigen Tante, in Vietnam niemanden hätte, der sie unterstützen könne, werde ihre Zukunft und Unterkunft in Vietnam mit ihrer 14-jährigen Tochter sehr ungewiss sein.

Diese Angaben der Klägerin decken sich mit den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes (Lagebericht v. 14.7.2008, S. 18), denen zufolge in Vietnam seit 2005 eine Krankenversicherung nur für Arbeitnehmer mit festen Arbeitsverträgen existiert, viele Behandlungen nur in Hanoi, Ho-Chi-Minh-Stadt, eventuell noch in einigen anderen großen Städten durchführbar seien, und Medikamente fast jeglicher Art zwar innerhalb kurzer Zeit prinzipiell eingeführt werden könnten, aber nur "zu entsprechenden Preisen". Lebensnotwendige Behandlungen könnten nur in den Großstädten und Provinzhauptstädten durchgeführt werden. Ärzte arbeiteten "kostendeckend" und nur "auf private Rechnung". Die neueren "Family-Doctor-Services" böten medizinische Versorgung "zu relativ hohen Preisen" an.

37Unter solchen Umständen ist davon auszugehen, dass die erforderliche Diabetes-Behandlung für die Klägerin aus finanziellen Gründen in Vietnam - soweit derzeit übersehbar - auf Dauer nicht verfügbar sein wird.

Das gilt auch angesichts dessen, dass seitens der Beklagten eine Versorgung mit Medikamenten für ca. 2 Jahre in Erwägung gezogen worden ist. Eine entsprechende Zusicherung der zuständigen Ausländerbehörde liegt insoweit noch nicht vor. Zudem fehlt es an der Wahrscheinlichkeit, dass im Anschluss an die Medikamentation für ggf. 2 Jahre unter Berücksichtigung der finanziellen Lage der Klägerin eine später dann erforderliche Behandlung tatsächlich gegeben ist. Schließlich ist nicht auszuschließen, dass die Klägerin in Vietnam künftig wiederum - wie schon einmal im Oktober 2001 geschehen - von einer halbseitigen Lähmung betroffen sein wird. In einem solchen Falle käme wohl in Vietnam - unterstellt sie lebte in ihrem Heimatort ca. 100 km (3-4 Fahrstunden) von Hanoi entfernt - angesichts des Gesundheitssystems und der med. Versorgung jede Hilfe zu spät.

Demgemäß ist zu Gunsten der Klägerin festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegt. Zugleich ist ihr in Anwendung der Qualifikationsrichtlinie (Art. 18 iVm Art. 4) auf der Grundlage ihrer individuellen Lage und ihrer persönlichen Umstände der subsidiäre Schutzstatus gem. Art. 18 iVm Art. 4 Abs. 3 zuzusprechen.

Damit dürfte ihr gem. § 25 Abs. 3 S. 1 AufenthG, der stets richtlinienkonform auszulegen ist (BVerwG-Urt. v. 24.6.2008 - 10 C 43.07 - Rz. 13), aller Voraussicht nach ausländerrechtlich auch eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen sein (Art. 24 der gen. Richtlinie), da es an zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung fehlen dürfte (vgl. das BVerwG-Urt. aaO. und die Sollbestimmungen in § 25 Abs. 3 und 5 AufenthG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83 b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.