VG Göttingen, Urteil vom 12.11.2008 - 1 A 392/06
Fundstelle
openJur 2012, 48286
  • Rkr:

Eine Person, die im Zusammenhang mit der Unterstützung der PKK in das Blickfeld der türkischen Sicherheitskräfte geraten und im Zustand politischer Verfolgung aus der Türkei ausgereist ist, ist derzeit im Fall der Rückkehr in die Türkei nicht hinreichend sicher vor erneuter politischer Verfolgung und menschenrechtswidriger Behandlung.

Tenor

Der Bescheid der Beklagten vom 02.10.2006 wird aufgehoben.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskostenwerden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. DieBeklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhedes zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerinvor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Die am … geborene Klägerin ist türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit. Mit der Klage wendet sie sich im Wesentlichen gegen den Widerruf ihrer Flüchtlingsanerkennung gemäß § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes (AuslG).

Die Klägerin reiste am 01.02.1997 auf dem Landweg in das Bundesgebiet ein und beantragte die Gewährung politischen Asyls. Im Rahmen ihrer Anhörung durch das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (heute: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, im Folgenden: Bundesamt) trug sie vor, ihr Vater und eine Tante seien im Februar 1993 ermordet worden. Ihr Bruder habe sich danach nicht mehr sicher gefühlt und sei nach Deutschland ausgereist. Nach etwa einem Jahr habe man begonnen, ihr Haus zu überwachen. Dorfschützer und Polizisten hätten nach dem Bruder gefragt und der Familie die Unterstützung einer kurdischen Terroristenorganisation unterstellt. Am xx.xx.1996 sei das Haus frühmorgens durchsucht worden. Man habe vorgegeben, eine Waffe gefunden zu haben, und den Vorwurf erhoben, ihr Bruder sei ein Terrorist. Sie sei mit ihrer Mutter zur Wache nach X gebracht und dort bezüglich des Aufenthalts ihres Bruders verhört worden. Im Rahmen der Verhöre habe man sie mit dem Tod bedroht und gefoltert. Die Folterungen, über die die Klägerin im Einzelnen berichtet hat, hätten zwei Wochen lang angedauert; anfangs sei sie täglich dreimal, am Schluss zweimal gefoltert worden. Danach habe man sie und ihre Mutter freigelassen. Nach der Freilassung sei sie weiterhin beobachtet und in mehreren Briefen bedroht worden.

Durch Bescheid vom 27.05.1997 lehnte das Bundesamt die Asylanerkennung der Klägerin und die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG ab. Gleichzeitig stellte das Bundesamt fest, dass die Voraussetzungen des § 53 AuslG vorlägen. Zur Begründung führte das Amt aus, die Klägerin habe keiner politischen Verfolgung unterlegen. Sie sei im Fall einer Rückkehr jedoch gefährdet, der Folter unterworfen zu werden.

Auf die hiergegen gerichtete Klage verpflichtete das Verwaltungsgericht Göttingen die Beklagte durch rechtskräftiges Urteil vom 22.06.1999 (1 A 1099/97) zur Gewährung von Abschiebungsschutz gemäß § 51 Abs. 1 AuslG. Zur Begründung führte das Gericht aus, die durch die Klägerin erlittene Folter habe die Schwelle der Asylerheblichkeit überschritten. Sie habe im Zusammenhang mit dem Vorwurf gestanden, ihr Vater, ihr Bruder und sie selbst hätten die PKK unterstützt, so dass ein politischer Bezug gegeben sei. Dem stehe nicht entgegen, dass die Klägerin eine unpolitische Frau sei. Entscheidend sei die objektive Gerichtetheit der Maßnahmen, denen sie ausgesetzt gewesen sei. Nach dem herabgestuften Prognosemaßstab sei die Klägerin im Fall einer Rückkehr in die Türkei nicht hinreichend sicher vor erneuter Verfolgung.

Durch Bescheid vom 30.07.1999 stellte das Bundesamt das Vorliegen der Voraussetzungen gemäß § 51 Abs. 1 AuslG fest.

Nach Anhörung der Klägerin widerrief das Bundesamt durch Bescheid vom 02.10.2006 die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen gemäß § 51 Abs. 1 AuslG und von Abschiebungshindernissen gemäß § 53 Abs. 1 AuslG. Gleichzeitig stellte es fest, dass in der Person der Klägerin die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) sowie Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorlägen. Zur Begründung führte das Bundesamt aus, die Voraussetzungen für die Feststellung von Abschiebungshindernissen lägen nicht mehr vor. Der Grund für den seinerzeit gegen die Klägerin geäußerten Verdacht sei entfallen. Es sei davon auszugehen, dass der Aufenthaltsort des Bruders der Klägerin in Deutschland den türkischen Behörden mittlerweile bekannt sei. Eine Foltergefahr bestehe für die Klägerin auch deshalb nicht mehr, weil in den vergangenen Jahren keine Fälle bekannt geworden seien, in denen abgelehnte Asylbewerber nach Rückkehr in die Türkei misshandelt worden seien. In der Türkei seien Rechtsänderungen in Kraft getreten (ärztliche Untersuchungen Inhaftierter, sofortiger Zugang durch Rechtsanwälte, Überwachungskameras in Vernehmungsräumen), die Folter ausschließen sollten.

Am 17.10.2006 hat die Klägerin hiergegen Klage erhoben. Sie macht geltend, die politische Situation der Kurden in der Türkei habe sich entgegen der Auffassung des Bundesamtes nicht grundlegend geändert. Allein die Tatsache, dass die Türkei mit Reformen begonnen habe, reiche nicht aus, um von einer signifikanten Änderung der allgemeinen Verhältnisse zu sprechen. Angesichts der dort nach wie vor praktizierten Folter könne man nicht ernsthaft davon ausgehen, dass unter keinem denkbaren rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkt eine mögliche politische Verfolgung unterstellt werden könne. Dass die türkische Regierung die Folterungen missbillige oder dies jedenfalls zum Ausdruck bringe, führe nicht zu einer grundlegenden Veränderung der Situation in der Türkei. Eine solche Veränderung könne erst dann angenommen werden, wenn die türkische Regierung wirksame Mechanismen geschaffen hätte, um Folter zu unterbinden.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 02.10.2006 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezieht sie sich auf die Ausführungen in dem angefochtenen Bescheid.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den Verwaltungsvorgang der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).

Die Voraussetzungen für einen Widerruf der Feststellung, dass für die Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 51 Abs. 1 AuslG (heute: § 60 Abs. 1 AufenthG) besteht, liegen nicht vor.

Gemäß § 73 Abs. 1 S. 1 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG, in der im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 02.09.2008, BGBl. I S. 1798) sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist u. a. insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Anerkennung als Asylberechtigter oder zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt (§ 73 Abs. 1 S. 2 AsylVfG).

Im Fall der Klägerin steht dem Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft die Rechtskraft des Urteils des VG Göttingen vom 22.06.1999 (1 A 1099/97) entgegen. Gemäß § 121 VwGO binden rechtskräftige Urteile die Beteiligten, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist. Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte durch das genannte Urteil verpflichtet festzustellen, dass in der Person der Klägerin die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen. Aufgrund dieses Verpflichtungsurteils steht zwischen den Beteiligten rechtskräftig fest, dass die Klägerin nach der damals maßgeblichen Sach- und Rechtslage gegenüber der Beklagten einen Rechtsanspruch auf Feststellung eines Abschiebungshindernisses bzw. auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 51 Abs. 1 AuslG hatte. § 73 AsylVfG befreit nicht von der Rechtskraftbindung nach § 121 VwGO, sondern setzt vielmehr voraus, dass die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung der Rücknahme oder dem Widerruf der Asylanerkennung und der Flüchtlingseigenschaft nicht entgegensteht (BVerwG, Urteil vom 24.11.1998 - 9 C 53.97 -, BVerwGE 108, 30). Die Rechtskraftwirkung eines Urteils endet erst, wenn eine nachträgliche Änderung der Sach- oder Rechtslage entscheidungserheblich ist (sog. zeitliche Grenze der Rechtskraft, std. Rspr. des BVerwG, vgl. Urteil vom 18.09.2001 - 1 C 7/01 -, BVerwGE 115, 118 m.w.N.). Im Asylrecht ist dies nur dann der Fall, wenn nach dem für das rechtskräftige Urteil maßgeblichen Zeitpunkt neue für die Streitentscheidung erhebliche Tatsachen eingetreten sind, die sich so wesentlich von den früher maßgeblichen Umständen unterscheiden, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eines Urteils, Rechtsfrieden und Rechtssicherheit zu stiften, eine erneute Sachentscheidung durch die Verwaltung oder ein Gericht gerechtfertigt ist (BVerwG, Urteil vom 18.09.2001, a.a.O.). Die Unbeachtlichkeit der Rechtskraft eines asylrechtlichen Verpflichtungsurteils kann demnach etwa angenommen werden, wenn aufgrund langjähriger Bewertung der Verhältnisse im Herkunftsstaat für die Annahme einer Gruppenverfolgung ethnischer Minderheiten kein Raum mehr bleibt oder wenn die nachträgliche wesentliche Änderung der Sachlage aus einem politischen Umsturz im Heimatland resultiert (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.09.2001, a.a.O.).

18Ein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung aufgrund des rechtskräftigen Urteils vom 22.06.1999 wäre danach nur zulässig, wenn sich die im Zeitpunkt der Gerichtsentscheidung maßgebliche Rechtslage oder die maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert hätten, dass die positive Feststellung eines Abschiebungsverbotes heute nicht mehr in Betracht käme. Dies wäre der Fall, wenn bei einer Rückkehr der Klägerin in ihren Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen wäre und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung drohen würde (vgl. BVerwG, Urteile vom 01.11.2005 - 1 C 21.04 -, BVerwGE 124, 276 und vom 20.03.2007 - 1 C 21/06 -, BVerwGE 128, 199). Von diesen Maßstäben ausgehend erweist sich der Widerruf als rechtswidrig. Nach dem Sachstand im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung steht nicht fest, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für die Klägerin entfallen sind. Sie ist nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen auch weiterhin nicht hinreichend sicher davor, bei einer freiwilligen Rückkehr oder einer Abschiebung in die Türkei politischer Verfolgung und menschenrechtswidriger Behandlung ausgesetzt zu sein.

Zwar haben sich die Verhältnisse in der Türkei seit der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verändert. Im Zuge der Bemühungen, der Europäischen Union beizutreten, hat das türkische Parlament mehrere Gesetzespakete verabschiedet. Kernpunkte sind die Abschaffung der Todesstrafe, die Auflösung der Staatssicherheitsgerichte, die Reform des nationalen Sicherheitsrates, die Zulassung anderer Sprachen als der türkischen in Rundfunk und Fernsehen, Neuregelungen zur Erschwerung von Parteischließungen und Politikverboten, eine Strafrechtsreform sowie Maßnahmen zur erleichterten Strafverfolgung und Bestrafung von Folter (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008, S. 7). Mit Inkrafttreten des achten Gesetzespakets hat die Türkei am 01.06.2005 die politischen Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen hinreichend erfüllt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.01.2007, S. 9).

20Jedoch hat der Mentalitätswandel in Verwaltung und Justiz mit dem gesetzgeberischen Tempo nicht Schritt halten können. Die Reformen in der Türkei haben noch nicht zu einer so nachhaltig stabilisierten Verbesserung der Menschenrechtslage geführt, dass Personen, die, wie die Klägerin, im Zusammenhang mit der Unterstützung der PKK in das Blickfeld der türkischen Sicherheitskräfte geraten sind, heute bei einer Rückkehr in die Türkei wegen ihrer früheren oder heutigen politischen Überzeugung keine Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit in Form von Folter oder sonstiger menschenrechtswidriger Behandlung zu befürchten hätten.

21So sind im Hinblick auf rechtsstaatliche Strukturen und die Einhaltung von Menschenrechten nach wie vor erhebliche Defizite in der tatsächlichen Umsetzung der Reformen zu verzeichnen. Minderheitenschutz und Religionsfreiheit sind nur eingeschränkt gewährleistet. In Bezug auf die Meinungsfreiheit haben die acht Gesetzespakete keine Änderungen bewirkt (vgl. Oberdiek, Gutachten vom 25.05.2007 an Rechtsanwalt Stehn, S. 24 sowie vom 09.10.2008 für die Schweizerische Flüchtlingshilfe, S. 12). Ein allgemeiner gesellschaftlicher Bewusstseinswandel und eine praktische Umsetzung der Reformen in der Türkei sind noch nicht in einer Weise erfolgt, die es rechtfertigen könnte, von einer nachhaltigen Verbesserung der Menschenrechtslage - auch im Hinblick auf das Verhalten der Sicherheitsorgane - auszugehen. Dies führt dazu, dass die Menschenrechtspraxis nach wie vor hinter den rechtlichen Rahmenbedingungen zurückbleibt. Trotz der von der türkischen Regierung proklamierten „Null-Toleranz-Politik“ gegenüber Folter und menschenrechtswidrigen Maßnahmen in Polizeihaft kommt es nach wie vor zu Folter und Misshandlungen durch staatliche Kräfte, insbesondere in den ersten Tagen des Polizeigewahrsams, ohne dass es dem türkischen Staat bislang gelungen ist, dies wirksam zu unterbinden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008, S. 25 ff.; Kaya, Gutachten vom 28.01.2007 an das VG Aachen, S. 9 f. und vom 26.09.2007 an das VG Sigmaringen, S. 7; Oberdiek, Gutachten vom 25.05.2007 an Rechtsanwalt Stehn, S. 25 ff., vom 15.08.2007 an das VG Sigmaringen, S. 10 ff. und vom 09.10.2008 für die Schweizerische Flüchtlingshilfe, S. 8 ff.; Aydin, Gutachten vom 20.09.2007 an das VG Sigmaringen, S. 10; amnesty international, Stellungnahme vom 15.11.2007 an das VG Sigmaringen, S. 5; Taylan, Gutachten vom 21.12.2007 an das VG Sigmaringen, S. 7). Zwar ist die Zahl der Fälle schwerer Folter auf Polizeiwachen im Vergleich zur Situation in den Jahren vor 2001 zurückgegangen. Seit 2007 wurde jedoch im Vergleich zu den Vorjahren erneut ein deutlicher Anstieg der gemeldeten Fälle von Folter und Misshandlung festgestellt (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008, S. 25; Oberdiek, Gutachten vom 09.10.2008 für die Schweizerische Flüchtlingshilfe, S. 8 ff.; Göttinger Tageblatt vom 17.10.2008 „Häftling soll zu Tode gefoltert worden sein“; Die Welt vom 28.08.2008 „9000 türkische Sicherheitsbeamte unter Folterverdacht“). Darüber hinaus kommt es weiterhin zu vielen unregistrierten Festnahmen bzw. Entführungen, die nicht selten mit brutalen Formen von Folter einhergehen (Oberdiek, Gutachten vom 09.10.2008 für die Schweizerische Flüchtlingshilfe, S. 10). Nach Berichten von Menschenrechtsorganisationen finden Misshandlungen oft nicht mehr in Polizeistationen, sondern an anderen Orten statt; auch ist nicht auszuschließen, dass es im Rahmen von inoffiziellen Gewahrsamnahmen bzw. vor Antritt der Gewahrsamnahme zu Misshandlungen kommt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008, S. 26). Eine der Hauptursachen für die immer noch vorkommende Folter ist die nicht effiziente Strafverfolgung von folternden staatlichen Kräften (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008, S. 27; Oberdiek, Gutachten vom 09.10.2008 für die Schweizerische Flüchtlingshilfe, S. 10). Nach wie vor verurteilen türkische Gerichte in politischen Strafverfahren auf der Grundlage von erfolterten Geständnissen (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008, S. 27; Oberdiek, Gutachten vom März 2008 für Pro Asyl e. V.). In der Rechtsprechung wird nahezu einhellig die Einschätzung vertreten, dass Folter in der Türkei noch so weit verbreitet ist, dass nicht lediglich von Exzesstaten einzelner Angehöriger der Sicherheitskräfte, sondern von einer systematischen, dem türkischen Staat zurechenbaren Praxis auszugehen ist (vgl. VG Stuttgart, Urteil vom 30.06.2008 - A 11 K 304/07 -, juris, mit zahlreichen Nachweisen).

Hinzu kommt, dass sich die Lage in der Türkei in den letzten Jahren nicht entspannt, sondern vielmehr verschärft hat. Seit der Aufkündigung der durch die PKK ausgerufenen Waffenruhe und der Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes im Juni 2004 kam es vermehrt zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und der PKK-Guerilla. Daneben verübt die PKK - auch unter Einsatz von Selbstmordattentätern - regelmäßig Bombenanschläge, die in den letzten Jahren zu einer großen Anzahl von Opfern insbesondere unter der Zivilbevölkerung geführt haben. Seit Dezember 2007 unternimmt das Militär grenzüberschreitende Militäroperationen gegen PKK-Stellungen im Nordirak. Der türkische Generalstab hat zudem mehrere Gebiete in den Provinzen Siirt, Sirnak, Mardin und Hakkari zu zeitweiligen Sicherheitszonen und militärischen Sperrgebieten erklärt, deren Betreten für Ortsfremde grundsätzlich verboten ist und einer strengen Kontrolle unterliegt (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008, S. 16); am 11.09.2008 wurde die Zahl dieser Gebiete auf neun erhöht (Oberdiek, Gutachten vom 09.10.2008 für die Schweizerische Flüchtlingshilfe, S. 4). Als Reaktion auf die Zunahme der Spannungen im Südosten der Türkei hat das türkische Parlament am 29.06.2006 das Anti-Terror-Gesetz (ATG) verschärft. Die Änderungen sehen u. a. eine Wiedereinführung des früheren Art. 8 ATG („Strafbarkeit von separatistischer Propaganda“), eine weit formulierte Terror-Definition, eine Ausweitung von Straftatbeständen, die Schwächung der Rechte von Verhafteten und eine Erweiterung der Befugnisse der Sicherheitskräfte vor. Diese Gesetzesverschärfung zeigt, dass der Reformprozess sich nicht nur verlangsamt hat, sondern deutliche Rückschritte zu verzeichnen sind (Oberdiek, Gutachten vom Oktober 2007 für die Schweizerische Flüchtlingshilfe, S. 6). Infolge der intensivierten militärischen Auseinandersetzungen zwischen den türkischen Streitkräften und Guerillaverbänden der PKK ist in der Türkei eine starke nationalistische Stimmung zu spüren. Äußerungen vieler Politiker und die Berichterstattung türkischer Massenmedien haben das Verhältnis zwischen Türken und Kurden vergiftet. Kurden werden mit PKK-Anhängern gleichgesetzt. Es kam zu zahlreichen Übergriffen gegen Kurden, und mehrere Büros der pro-kurdischen Partei DTP wurden angezündet (FAZ vom 31.10.2007 „Die PKK ist für viele nur der Vorwand“; BZ vom 08.11.2007 „Wehe dem, der von Frieden redet“; Die Zeit vom 08.11.2007 „Angst vor dem Pogrom“). Oberdiek (Gutachten vom 09.10.2008 für die Schweizerische Flüchtlingshilfe, S. 17) führt für den Zeitraum von Oktober 2007 bis September 2008 insgesamt neun Anschläge auf DTP-Büros auf. Gegenwärtig ist die Lage in der Kurdenregion so gespannt wie seit langem nicht mehr (FR vom 27.10.2008 „ Rebellen schüren Unruhe im Kurdengebiet“).

23Es kann nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass die Klägerin aufgrund des Verdachts, Kontakte zur PKK zu haben, bei einer Einreise in die Türkei im Rahmen der obligatorischen Personenkontrolle (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 11.09.2008, S. 33) einem intensiven Verhör unterzogen wird und dabei Gefahr läuft, misshandelt oder gefoltert zu werden (vgl. - jeweils an das VG Sigmaringen -: Oberdiek, Gutachten vom 15.08.2007, S. 10 ff.; Aydin, Gutachten vom 20.09.2007, S. 10; Kaya, Gutachten vom 26.09.2007, S. 7; amnesty international, Gutachten vom 15.11.2007, S. 5; Taylan, Gutachten vom 21.12.2007, S. 7). Dabei folgt die Kammer nicht der Auffassung des Bundesamtes, eine Gefährdung der Klägerin sei deshalb zu verneinen, weil den türkischen Sicherheitskräften der Aufenthaltsort ihres Bruders mittlerweile bekannt sein dürfte und zudem nicht ersichtlich sei, dass sie an Informationen über den Bruder noch Interesse hätten. Das Bundesamt verkennt insoweit die Anforderungen an die Überprüfung der erneuten Gefährdung einer in der Vergangenheit bereits politisch verfolgten Person nach dem herabgestuften Prognosemaßstab. Die vom Einzelentscheider geäußerten bloßen Vermutungen sind in keiner Weise geeignet, eine hinreichende Verfolgungssicherheit zu begründen. Es besteht durchaus die ernstzunehmende Möglichkeit, dass die Klägerin aus Sicht des türkischen Staates wegen ihrer möglichen Kontakte zu ihrem Bruder als Auskunftsquelle nach wie vor wertvoll ist und im Hinblick auf vermutete Verbindungen zur PKK als mögliche Gegnerin des türkischen Staates angesehen wird. Es ist deshalb nicht hinreichend sicher auszuschließen, dass türkische Sicherheitskräfte im Rahmen eines Verhörs zu allen Mitteln greifen würden, um Informationen über die Exilszene bzw. die PKK, deren personelle Zusammensetzung und deren Methoden aus der Klägerin herauszupressen.

Diese Gefährdungssituation wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass dem Auswärtigen Amt in jüngerer Zeit kein Fall bekannt geworden ist, in dem ein aus der Bundesrepublik Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt wurde (vgl. Lagebericht vom 11.09.2008, S. 32). Für die Einschätzung der Gefährdung ist diese Feststellung des Auswärtigen Amtes nicht aussagekräftig, da davon auszugehen ist, dass sich unter den abgeschobenen oder zurückgekehrten Personen niemand befand, der der Zugehörigkeit zur PKK oder einer anderen illegalen Organisation verdächtigt wurde. Dies folgt insbesondere daraus, dass derartige Personen in der Vergangenheit nach der insoweit einheitlichen obergerichtlichen Rechtsprechung in Deutschland entweder als Asylberechtigte anerkannt worden sind oder ihnen zumindest Abschiebungsschutz gewährt worden ist (OVG Lüneburg, Urteil vom 18.07.2006 - 11 LB 75/06 -, juris). Im Übrigen ist nicht auszuschließen, dass Personen, auf die ein Verdacht der Unterstützung der PKK gefallen ist, nach wie vor im Innern der Türkei einer Folter in Form von physischen und psychischen Zwängen unterzogen werden (vgl. Oberdiek, Gutachten vom 15.08.2007 an das VG Sigmaringen, S. 13 f.).

Nach alledem ist noch keine erhebliche und dauerhafte Veränderung der Lage in der Türkei eingetreten, so dass die Rechtskraft des Urteils des VG Göttingen vom 22.06.1999 (1 A 1099/97) im Fall der Klägerin dem Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entgegensteht. Da die Klägerin weiterhin als politischer Flüchtling anerkannt ist, ist auch die im angefochtenen Bescheid enthaltene negative Feststellung zum Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG aufzuheben. Dasselbe gilt angesichts des Eventualverhältnisses für den Widerruf zu § 53 AuslG sowie für die negative Feststellung zu § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG, so dass auch dieser Teil des Bescheides der Aufhebung unterliegt (vgl. BVerwG, Urteile vom 26.06.2002 - 1 C 17.01 - BVerwGE 116, 326 und vom 15.04.1997 - 9 C 19/96 -, BVerwGE 104, 260).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylVfG.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergeht nach § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.