VG Hamburg, Beschluss vom 08.02.2010 - 15 E 143/10
Tenor

Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 20. Januar 2010 (15 K 149/10) wird angeordnet.

Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragsgegnerin bei einem Streitwert von 2.500 €.

Dem Antragsteller wird für die erste Instanz Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsverpflichtung bewilligt und Rechtsanwalt xxx als Prozessbevollmächtigter beigeordnet.

Gründe

I.

Der Antragsteller wendet sich im Eilverfahren gegen seine Verteilung nach Halberstadt.

Er wurde 1987 im Dorf Kalecik, Kreis Karakocan, Provinz Elazig in der Türkei geboren und ist türkischer Staatsangehöriger kurdischen Volkstums. Von Beruf ist er Friseur. Im Jahr 2006 reiste er nach Bratislava und arbeitete dort für zwei Jahre in einem Hotel. Hiernach reiste er Mitte 2008 illegal nach Deutschland ein, wo bereits mehrere Verwandte leben. Als Motiv gab er an, dass es sein Traum gewesen sei, in Deutschland zu leben.

Im März 2009 lernte er in Hamburg die 1980 geborene deutsche Staatsangehörige Frau K. S. kennen. Dies ist seit ihrer Geburt gehbehindert und leidet seit 2007 unter mittelschweren depressiven Episoden.

Im Sommer 2009 wurde Frau S. vom Antragsteller schwanger. Das Kind soll voraussichtlich am 22. März 2010 geboren werden. Als sich ihr Gesundheitszustand verschlechterte, zog der Antragsteller Oktober 2009 bei ihr ein. Am 29. Dezember 2009 erkannte der Antragsteller die Vaterschaft für das ungeborene Kind an. Außerdem einigten sich die beiden werdenden Eltern dahingehend, das Sorgerecht gemeinsam auszuüben.

Am 6. Januar 2010 beantragte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin unter Hinweis auf das erwartete Kind eine Aufenthaltserlaubnis und bis zu deren Erteilung eine Duldung. In einem dem Antrag beigefügten Anwaltsschreiben wies er auf den Sachverhalt hin und gab an, dass der werdenden Mutter die Schwangerschaft zunehmend Probleme bereitet habe, so dass er zu ihrer Unterstützung bei ihr eingezogen sei. Beigefügt waren die Urkunde über die Anerkennung der Vaterschaft, die Urkunde über Sorgerechtserklärungen, ein ärztliches Attest über den Zustand der werdenden Mutter vom 22. Dezember 2009 sowie deren eidesstattliche Versicherung vom 5. Januar 2010, worin diese angab, dass sie vom Antragsteller seit seinem Einzug liebevoll rund um die Uhr betreut werde und nach seiner Legalisierung mit ihm und dem gemeinsamen Kind zusammenleben wolle.

Am 18. Januar 2010 wurde der Antragsteller von der Antragsgegnerin persönlich angehört.

Mit Bescheid vom gleichen Tage verfügte die Antragsgegnerin nach § 15a AufenthG, dass der Antragsteller im Rahmen der länderübergreifenden Verteilung dem Bundesland Sachsen-Anhalt zugewiesen werde. Es werde angeordnet, dass er sich unverzüglich in eine Aufnahmeeinrichtung in Halberstadt zu begeben habe. Sofern er dieser Anordnung nicht bis zum 19. Januar 2010 Folge geleistet habe, werde die zwangsweise Verlegung in die genannte Einrichtung angedroht. Zur Begründung führte die Antragsgegnerin an, dass nach Maßgabe des § 15a Abs. 1 AufenthG unerlaubt eingereiste Ausländer, die weder um Asyl nachsuchten noch unmittelbar nach der Feststellung der unerlaubten Einreise in Abschiebehaft genommen und aus der Haft abgeschoben oder zurückgeschoben werden könnten, auf die Bundesländer verteilt würden. Die hierfür zuständige zentrale Verteilungsstelle habe festgestellt, dass der Antragsteller im Bundesland Sachsen-Anhalt seinen Wohnsitz zu nehmen habe. Da er nicht beanspruchen könne, in ein bestimmtes Bundesland oder an einen bestimmten Ort verteilt zu werden, sei er verpflichtet, dieser Verteilungsentscheidung Folge zu leisten. Auf die familiäre Situation des Antragstellers ging der Bescheid nicht ein.

Am 20. Januar 2010 hat der Antragsteller hiergegen Klage erhoben und zugleich beantragt, deren aufschiebende Wirkung anzuordnen: Nach § 15a Abs. 1 S. 6 AufenthG seien zwingende Gründe, die der Verteilung an einen bestimmten Ort entgegenstünden, zu berücksichtigen, wenn auf diese vor Veranlassung der Verteilung hingewiesen worden sei. Letzteres habe er bereits im Zusammenhang mit dem Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis getan. Dies habe die Antragsgegnerin in keiner Weise beachtet. Mittlerweile sei Frau S. noch mehr auf seine Unterstützung angewiesen. Sie könne nicht mehr alleine das Haus verlassen. Außerdem habe er sie wegen Schwangerschaftsbeschwerden sowohl im Dezember 2009 als auch im Januar 2010 ins Krankenhaus bringen müssen. Für ihn sei es wichtig, seine Freundin während der letzten Schwangerschaftswochen zu begleiten und sie zu betreuen. Insbesondere wolle er jederzeit in der Lage sein, sie bei plötzlich auftretenden Komplikationen zu stützen, zu trösten und gegebenenfalls ins Krankenhaus zu bringen. Dies könne er nicht von Halberstadt aus.

II.

Der zulässige Antrag hat auch in der Sache Erfolg.

1. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist statthaft, weil die aufschiebende Wirkung der hier aufgrund von § 15a Abs. 4 S. 7 AufenthG ohne Vorverfahren zulässigen parallelen Klage nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 15a Abs. 4 S. 8 AufenthG kraft Gesetzes ausgeschlossen ist.

2. Das private Interesse des Antragstellers, sich bis zu einer Entscheidung über seine Klage nicht nach Halberstadt begeben zu müssen, überwiegt das öffentliche Interesse der Antragsgegnerin an seiner sofortigen Verbringung nach Sachsen-Anhalt.

Nach der im Eilverfahren lediglich gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage erscheint die mit der Klage angefochtene Verfügung, sich nach Halberstadt zu begeben, als rechtswidrig. Hinzu kommt, dass der Antragsteller ein besonderes schützenswertes Interesse daran hat, nicht auch nur für einen vorübergehenden Zeitraum der Verteilungsentscheidung Folge leisten zu müssen. Denn seine schwangere deutsche Freundin, der ein Verlassen Hamburgs nicht zumutbar ist, bedarf in hohem Maße seiner ständigen Anwesenheit. Demgegenüber spräche lediglich das öffentliche Interesse, die durch illegal eingereiste Ausländer verursachten Belastungen möglichst gleichmäßig auf die Bundesländer zu verteilen, gegen seinen weiteren Verbleib in Hamburg.

Die im Falle des Antragstellers erfolgte Verteilungsentscheidung dürfte rechtswidrig sein, weil § 15a Abs. 1 S. 6 AufenthG nicht beachtet wurde. Entsprechendes gilt damit für die hierauf basierende streitbefangene Anordnung nach § 15a Abs. 4 S. 1 AufenthG, dass der Antragsteller sich zu einer Aufnahmeeinrichtung in Halberstadt zu begeben habe (vgl. dazu VG Hamburg, Beschluss vom 23.4.2008, 4 E 891/08, Juris Rn. 3).

Zwar handelt es sich beim Antragsteller um einen unerlaubt eingereisten Ausländer, der grundsätzlich der Verteilung nach § 15a AufenthG unterliegt. Insoweit war jedoch die Einschränkung des § 15a Abs. 1 S. 6 AufenthG zu beachten: Weist der Ausländer vor Veranlassung der Verteilung nach, dass eine Haushaltsgemeinschaft zwischen Ehegatten oder Eltern und ihren minderjährigen Kindern oder sonstige zwingende Gründe bestehen, die der Verteilung an einen bestimmten Ort entgegenstehen, ist dem bei der Verteilung Rechnung zu tragen.

Hier hat der Antragsteller schon bei seiner ersten Kontaktaufnahme mit der Antragsgegnerin darauf hingewiesen und durch geeignete Nachweise glaubhaft gemacht, dass er demnächst Vater eines Kindes wird, für welches er bereits jetzt das Sorgerecht übernimmt, dass er mit der werdenden Mutter in einem Haushalt zusammenwohnt, dass diese aufgrund von gesundheitlichen Beschwerden in besonderem Maße auf seine Anwesenheit angewiesen ist und dass er die gebotene Fürsorge auch tatsächlich erbringt.

Diese besondere familiäre Situation spricht gegen die verfügte Verteilung nach Sachsen-Anhalt, die zwangsläufig eine Trennung der werdenden Eltern zur Folge hätte. Bereits aus den in § 15a Abs. 1 S. 6 AufenthG genannten Regelbeispielen der Haushaltsgemeinschaft zwischen Ehegatten oder Eltern und ihren minderjährigen Kindern ist zu entnehmen, dass familiären Bezügen bei der Verteilung in besonderem Maße Rechnung zu tragen ist. Dies ist zudem auch aufgrund des Schutzes der Familie durch Art. 6 GG verfassungsrechtlich geboten. Zwingende Gründe im Sinne dieser Vorschrift liegen deshalb insbesondere auch dann vor, wenn außerhalb einer Ehe oder einer Eltern-Kind-Beziehung notwendige familiäre Beistandsleistungen erbracht werden, die nach einer Verteilung des Ausländers in ein anderes Bundesland nicht mehr möglich wären.

Zu diesen schützenswerten Beistandsleistungen gehören jene, die ein unverheirateter werdender Vater für die mit ihm zusammenlebende werdende Mutter erbringt. Auch wenn diese nicht dem Schutz der Ehe unterfallen, so unterfallen sie doch dem antizipierten Schutz der aus Eltern und Kindern bestehenden Familie (so z.B. OVG Hamburg, Beschluss vom 13.2.2007, 4 Bs 313/06; vgl. auch VG Münster, Beschluss vom 13.5.2009, 1 L 162/09, Juris Rn. 12). Denn der Schutz der Familie und der Elternrechte vor staatlichen Übergriffen wäre unvollständig, wenn nicht die Vorstufe der Elternschaft, die Zeit der Schwangerschaft und Geburt, bereits umfasst wäre (vgl. entsprechend für den Schutz des werdenden Lebens BVerfG, Urteil vom 25.2.1975, BVerfGE 39, 1 ff., Rn. 137 f.). Dies gilt in gleicher Weise für eheliche wie für nichteheliche Kinder (vgl. Art 6 Abs. 5 GG). Eine möglichst unbeeinträchtigte Schwangerschaft dient nicht nur dem Wohl der werdenden Mutter (vgl. Art. 6 Abs. 4 GG), sondern ist auch bereits von Bedeutung für das Wohl des noch ungeborenen Kindes. Zudem festigt sich während der Schwangerschaft die Beziehung der werdenden Eltern zueinander und der werdende Vater kann eine solche zu seinem ungeborenen Kind begründen, was für die spätere gemeinsame Elternschaft und damit auch das Kindeswohl von hohem Wert ist. Die Beistandsleistungen eines werdenden Vaters können deshalb keinesfalls durch Dritte - Familienangehörige der werdenden Mutter oder professionelle Hilfskräfte - in gleicher Weise erbracht werden.

Im zu entscheidenden Fall wäre es nicht zu verantworten, den Antragsteller von der werdenden Mutter bis zur Geburt des Kindes oder sogar darüber hinaus zu trennen. Zum einen ist sie körperbehindert, so dass sie gerade unter den Bedingung der Schwangerschaft seiner praktischen Hilfe bedarf. Zum anderen leidet sie ausweislich eines ärztlichen Attests seit längerem unter depressiven Verstimmungen. Voraussichtlich würden eine erzwungene Trennung vom Kindesvater und der Umstand, dann auf sich allein gestellt zu sein, diese Symptomatik der Schwangeren verstärken und damit nicht nur ihr Wohlbefinden, sondern auch ihre Gesundheit und möglicherweise ebenfalls die des ungeborenen Kindes beeinträchtigen.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 und 2 GKG.

Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beruht auf § 166 VwGO in Verbindung mit §§ 114 ff. ZPO.