VG Hannover, Beschluss vom 07.12.2007 - 6 A 1117/07
Fundstelle
openJur 2012, 46750
  • Rkr:

1. Der im Kostenfestsetzungsverfahren nach § 164 VwGO verfolgte Erstattungsanspruch umfasst nur die Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts, die diesem von seinem Auftraggeber nach Maßgabe des Gebührenrechts als notwendige Aufwendungen im Sinne von § 162 Abs. 1 VwGO geschuldet werden.2. Die Anrechnungsvorschrift in Vorbemerkung 3 Abs. 4 Satz 1 in Teil 3 VV ist daher auch im Kostenfestsetzungsverfahren anzuwenden (a.A. OVG Lüneburg, 10. Senat, 10 OA 73/07 und 10 OA 201/07).

Gründe

Der Antrag auf Entscheidung des Gerichts (Erinnerung) ist gemäß § 165 i.V.m. § 151 VwGO zulässig, aber nicht begründet.

Mit dem angegriffenen Kostenfestsetzungsbeschluss vom 17. Oktober 2007 hat der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle die im Wege der Kostenausgleichung von der Beklagten an die Klägerin zu erstattenden Kosten rechtlich zutreffend und rechnerisch richtig mit 186,79 Euro festgesetzt.

Grundlage des Kostenerstattungsanspruchs der Klägerin ist die Kostenentscheidung des in der Sache ergangenen Urteils vom 8. Juni 2007, wonach die Klägerin und die Beklagte die Kosten des Verfahrens jeweils zur Hälfte tragen. Die Kostenpflicht der Beklagten umfasst nach § 162 Abs. 1 VwGO auch die Erstattung der Hälfte der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen der Klägerin. Notwendig im Sinne von § 162 Abs. 1 VwGO sind alle Aufwendungen, welche die Klägerin im Sachzusammenhang mit der gerichtlichen Anfechtung des Widerrufsbescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 7. Februar 2007 erbringen musste (außergerichtliche Prozesskosten).

Gemäß § 162 Abs. 2 Satz 1 VwGO sind die Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts stets erstattungsfähig. Danach kann die Klägerin von der Beklagten dem Grunde nach die Erstattung der Hälfte der Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 des Vergütungsverzeichnisses (VV) Anlage 1 zu § 2 Abs. 2 Satz 1 RVG (VV) nebst Auslagen verlangen, denn diese Gebühr ist entstanden, weil die Prozessbevollmächtigte der Klägerin gegen den Widerruf der Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegend Klage erhoben hatte. Der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle hat die Verfahrensgebühr gemäß § 30 Satz 1 RVG zutreffend nach einem Gegenstandswert von 3.000,00 Euro berechnet (VG Hannover, Beschl. vom 29.11.2007 - 6 A 1904/05 -, http://www.dbovg.niedersachsen.de).

Dass der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle auf die danach in Höhe von 245,70 Euro entstandene Verfahrensgebühr einen Betrag von 141,75 Euro angerechnet hat, ist rechtlich nicht zu beanstanden. Dieser Betrag entspricht einem 0,75fachen Satz der Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV, welche die Klägerin ihrer Rechtsanwältin für die anwaltliche Vertretung im Widerrufsverfahren vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge schuldet. Seine Anrechnung auf die Geschäftsgebühr folgt aus der ausdrücklichen Regelung in der Vorbemerkung 3 Abs. 4 Satz 1 in Teil 3 des Vergütungsverzeichnisses, die über die Verweisung des § 2 Abs. 2 Satz 1 RVG ihrerseits Rechtsnorm im formellen und materiellen Sinne ist und folgenden Wortlaut hat:

„Soweit wegen desselben Gegenstands eine Geschäftsgebühr nach den Nummern 2300 bis 2303 entsteht, wird diese Gebühr zur Hälfte, jedoch höchstens mit einem Gebührensatz von 0,75, auf die Verfahrensgebühr des gerichtlichen Verfahrens angerechnet.“

7Angesichts der sprachlich und inhaltlich eindeutig bestimmten Anrechnungsvorschrift besteht kein Zweifel daran, dass diese uneingeschränkt anzuwenden ist (BGH, Urteil vom 7.3.2007, NJW 2007 S. 2049, 2050; BayVGH, Beschl. vom 6.3.2006, NJW 2006 S. 1990 f.). Schon aus diesem Grund schließt sich das Gericht der in der Kostenrechtsprechung überwiegend vertretenen Auffassung, wonach die Vorbemerkung 3 Abs. 4 Satz 1 in Teil 3 VV zwar im Rechtsverhältnis zwischen Auftraggeber und Rechtsanwalt Anwendung finde, bei der gerichtlichen Berechnung der Rechtsanwaltsvergütung im Kostenfestsetzungsverfahren nach § 164 VwGO aber aus gesetzessystematischen Gründen außer Acht bleiben müsse (z.B. OVG Lüneburg, Beschl. vom 8.10.2007 - 10 OA 73/07 und 10 OA 201/07 -, http://www.dbovg.niedersachsen.de; BayVGH, Beschl. vom 10.7.2006, BayVBl. 2007 S. 157 f.; OVG Münster, Beschl. vom 25.4.2006, NJW 2006 S. 1991 f.; jeweils m.w.N.), nicht an.

Die vorstehend zitierte Rechtsprechung berücksichtigt nach Überzeugung des Gerichts nicht, dass den Fachgerichten eine Befugnis zur Korrektur des den Tatbestand und die Rechtsfolge beschreibenden Wortlauts einer Rechtsnorm mit den anerkannten Methoden der Rechtsanwendung nur begrenzt zusteht. Die Grenze zulässiger Auslegung von Gesetzen ist dort zu ziehen, wo der Grundsatz der Gewaltenteilung aus Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG Geltung beansprucht. Die Fachgerichte dürfen den von ihrem Wortlaut vorgegebenen Anwendungsbereich einer Rechtsnorm im Wege der Auslegung nur einschränken, wenn und soweit die Beschränkung des Wortsinns aufgrund des vom Gesetzgeber mit der Norm verfolgten Regelungszieles geboten ist, der Wortlaut des Gesetzes also Sachverhalte erfasst, die er nach dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers nicht erfassen soll (BVerwG, Urteil vom 27.6.1995, DVBl. 1995 S. 1308, 1309). Das ist aber bei dem Wortlaut der Vorbemerkung 3 Abs. 4 Satz 1 in Teil 3 VV nicht der Fall (vgl. BGH, a.a.O., S. 2050 und Urteil vom 14.3.2007, NJW 2007 S. 2050, 2052). Ein erkennbarer Wille des Gesetzgebers, welcher darauf gerichtet wäre, dass der Urkundsbeamte der Geschäftstelle die Rechtsfolgenanordnung der Vorbemerkung 3 Abs. 4 Satz 1 in Teil 3 VV bei Berechnung der vom Prozessgegner zu erstattende Verfahrensgebühr im Kostenfestsetzungsverfahren nach § 164 VwGO nicht zu beachten hat, lässt sich weder dem uneingeschränkten Wortlaut der Vorbemerkung, noch ihrer Entstehungsgeschichte oder ihrer Begründung im Gesetzgebungsverfahren entnehmen.

9Zunächst gibt die amtliche Begründung für die Novellierung des Vergütungsrechts der Rechtsanwälte nichts dafür her, dass der Gesetzgeber in Einzelbestimmungen des Vergütungsverzeichnisses indirekt den Inhalt des Erstattungsanspruchs aus § 162 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 VwGO hätte ändern wollen. Inhaltlich ist der nur im Kostenfestsetzungsverfahren nach § 164 VwGO geltend zu machende Erstattungsanspruch darauf beschränkt, dass die im Kostenpunkt obsiegende Partei von dem Prozessgegner nur die Erstattung der Gebühren und Auslagen ihres Rechtsanwalts verlangen kann, welche sie ihrem Prozessbevollmächtigten aus dem Auftragsverhältnis nach Maßgabe des Gebührenrechts als notwendige Aufwendungen im Sinne von § 162 Abs. 1 VwGO schuldet. (vgl. Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 162 Rdnr. 57). § 162 Abs. 2 Satz 1 VwGO enthält danach keinen eigenen Rechtsgrund für die Festsetzung aller im gerichtlichen Verfahren „entstandenen“ Gebühren und Auslagen des Rechtsanwalts, sondern konkretisiert mit seinem Verweis auf die gesetzlich vorgesehenen Gebühren und Auslagen (BayVGH, Beschl. vom 7.2.1990, NVwZ-RR 1990 S. 390 f.; Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl. § 162 Rdnr. 10a m.w.N.) den für die Erstattungsfähigkeit außergerichtlicher Kosten maßgeblichen Rechtsbegriff der „Notwendigkeit“ von Aufwendungen. Für die Kostenfestsetzung nach § 164 VwGO kommt es daher nicht allein darauf an, dass eine Verfahrensgebühr der Rechtsanwältin der Klägerin nach Nr. 3100 VV entstanden ist, sondern auch darauf, welche Kosten die Klägerin für Gebühren und Auslagen ihrer Rechtsanwältin aus dem Geschäft der Prozessführung nach Maßgabe der Gebührenvorschriften des RVG notwendigerweise aufwenden muss. Daraus ergibt sich unmittelbar das Erfordernis, die Verminderung von Verfahrensgebühren durch Anrechnung von außerhalb der Prozesstätigkeit entstandenen Gebühren zu berücksichtigen (vgl. BayVGH, Beschl. vom 7.2.1990, a.a.O., S. 391 zur Anrechnung nach § 118 Abs. 2 BRAGO).

Ist aber die Kostenfestsetzung immer auf die Aufwendungen beschränkt, die der Kostengläubiger seinem Rechtsanwalt aus dem Auftragsverhältnis nach Maßgabe des Gebührenrechts im Sinne von § 162 Abs. 1 VwGO schuldet (Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 162 Rdnr. 57), kommt es nicht auf eine „gesetzessystematische“ Trennung der Teile 2 und 3 des Vergütungsverzeichnisses zum RVG in vorprozessuale und prozessuale Geschäfte (vgl. OVG Lüneburg, a.a.O.) an, zumal auch die Vorschrift über den Grund und die Höhe der Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 VV nur das Schuldverhältnis zwischen dem Rechtsanwalt und seinem Auftraggeber regelt, hingegen keinen eigenen Anspruch des Rechtsanwalts gegen den Prozessgegner seines Mandanten begründet. Dass die Klägerin vorliegend ihrer Rechtsanwältin nur eine um den 0,75fachen Satz der Geschäftsgebühr verminderte Verfahrensgebühr für das Prozessgeschäft schuldet, ist jedoch nicht zweifelhaft. Nur diese verminderte Gebühr kennzeichnet ihren notwendigen Prozessaufwand. Mehr als der dadurch nach Maßgabe des RVG der Höhe nach begrenzte Gesamtbetrag ihrer Aufwendungen kann der Klägerin nach Sinn und Inhalt des § 162 Abs. 1 i.V.m. 2 Satz 1 VwGO nicht von der Prozessgegnerin „erstattet“ werden.

11Das in diesem Zusammenhang in der Kostenrechtsprechung teilweise vorgebrachte Argument, gemäß § 162 Abs. 2 VwGO könnten Regelungen, die außergerichtliche Gebühren beträfen, nicht zum Gegenstand der Kostenfestsetzung nach § 164 VwGO gemacht werden (vgl. OVG Lüneburg, a.a.O.), ist ebenfalls keine überzeugende Begründung für die Nichtberücksichtigung der Anrechnungsvorschrift. Die Vorbemerkung 3 Abs. 4 Satz 1 in Teil 3 VV „betrifft“ nicht die in einem Verwaltungsverfahren außergerichtlich vor Klageerhebung entstandene Geschäftsgebühr, sondern lässt diese sowohl dem Grunde als auch der Höhe nach unberührt. Vielmehr nimmt der Gesetzgeber mit der Vorbemerkung 3 Abs. 4 Satz 1 in Teil 3 VV eindeutig eine Kürzung der im ersten Rechtszug entstandenen Verfahrensgebühr vor, indem die dem Rechtsanwalt für seine vorprozessuale Tätigkeit bereits zustehende Geschäftsgebühr teilweise angerechnet wird. Die Anrechnungsvorschrift betrifft damit eindeutig die Gebühr für das von dem Rechtsanwalt betriebene prozessuale Geschäft. Insbesondere war es nicht Absicht des Gesetzgebers, die zur Anwendung des § 118 Abs. 1 Nr. 1 BRAGO entwickelte Kostenpraxis, gegen den Wortlaut jener Kostenvorschrift nicht die Verfahrens-, sondern die Geschäftsgebühr zu kürzen, fortzusetzen (BGH, a.a.O.; OVG Münster, Beschl. vom 25.4.2006, NJW 2006 S. 1991, 1992).

Dass die Anrechnung der außergerichtlich entstandene Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr der Nr. 3100 VV ausnahmslos zu erfolgen hat, entspricht ebenfalls der Absicht des Gebührengesetzgebers. Neben der ausdrücklich beabsichtigten Ungleichbehandlung des mit einer Klagesache vorbefassten Rechtsanwalts mit dem, der den Prozessauftrag unmittelbar übernimmt, wollte der Gesetzgeber mit der Anrechnungsvorschrift die Bereitschaft zur außergerichtlichen Erledigung einer Angelegenheit fördern und damit dem Eindruck eines (Eigen-) Interesses des Rechtsanwalts an der Klageerhebung begegnen (Deutscher Bundestag, Gesetzentwurf eines Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes vom 11.11.2003, BT-Drs. 15/1971 S. 209 zu Vorbem. 3 Teil 3 VV; VGH Kassel, Beschl. vom 29.11.2005, NJW 2006 S. 1992, 1993). Dafür, dass der Gesetzgeber diese Absicht für den Fall eines Erfolges oder Teilerfolges der nachfolgenden Klage (§§ 154, 155 VwGO) nicht verfolgt und damit den uneingeschränkten Tatbestand der Norm verkannt hätte, gibt die Gesetzesbegründung zur Vorbemerkung 3 Abs. 4 Satz 1 in Teil 3 VV nichts her. Auch an anderer Stelle finden sich in der Gesetzesbegründung zum Kostenrechtsmodernisierungsgesetz keine Anhaltspunkte dafür, dass die vom Wortlaut der Vorbemerkung vorgegebene uneingeschränkte Anwendung der Anrechnungsregelung dem erklärten Willen des Gesetzgebers widerspräche.

Soweit schließlich die gegenteilige Auffassung (OVG Lüneburg, a.a.O., m.w.N.) auf eine vermeintliche Ungleichbehandlung durch Besserstellung der kostenpflichtigen Partei hinweist, wenn diese im Prozess einem bereits im Verwaltungsverfahren vorbefassten Rechtsanwalt gegenübersteht, ist anzumerken, dass diese Ungleichbehandlung vom Gesetzgeber (a.a.O., BT-Drs. 15/1971 S. 209 zu Vorbem. 3 Teil 3 VV) beabsichtigt ist, um die Bereitschaft vorprozessualer Einigungen der Parteien zu fördern. Andererseits wäre allerdings auch kein sachlicher Grund dafür erkennbar, einer im Kostenpunkt obsiegenden Partei im Wege der Kostenfestsetzung eine „Erstattung“ zuzusprechen, welche diese wegen der uneingeschränkten Geltung der Anrechnungsvorschrift im Verhältnis zu ihrem Prozessbevollmächtigten nicht vollständig zur Begleichung der Zahlungsverpflichtung aus dem Mandatsverhältnis benötigte, sondern dafür verwenden könnte, um ihrem im Verwaltungsverfahren vorbefassten Rechtsanwalt mit dem überschießenden Betrag ein vom Gesetz nicht vorgesehenes Erfolgshonorar zu zahlen.