VG Lüneburg, Urteil vom 14.06.2007 - 2 A 390/06
Fundstelle
openJur 2012, 45921
  • Rkr:
Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen die Rücknahme einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung für eine Windfarm.

Mit Bescheid vom 10. Februar 2003 erteilte der Beklagte dem Planungsbüro G. H. eine Genehmigung nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz zur Errichtung und zum Betrieb einer Windfarm mit acht Windenergieanlagen, davon drei Windenergieanlagen des Typs NEG Micon 1.500 mit 72 m Rotordurchmesser und 64 m Nabenhöhe und fünf Windenergieanlagen des Typs NEG Micon 900 mit 52 m Rotordurchmesser und 61,50 m Nabenhöhe. Standort der Anlagen sollten die Grundstücke Flurstücke 21, 22, 23, 24, 32, 44, 45 und 48 der Flur 3 der Gemarkung I. sein.

Am 19. Februar 2003 legte das Planungsbüro H. Widerspruch gegen die naturschutzrechtlichen Auflagen ein.

Am 3. März 2003 teilte das Planungsbüro H. dem Beklagten mit, es sei nunmehr umgewandelt worden in die J. K..

Mit E-Mail vom 17. September 2003 teilte Herr L. M., der sich ehrenamtlich als Vogelbeobachter betätigt, der unteren Naturschutzbehörde des Landkreises Harburg mit, seit dem 12. September 2003 könne er bestätigen, dass sich zwei Seeadler zeitgleich im N. O. aufhielten. Am 12. September 2003 seien diese bereits mehrfach parallel geflogen und hätten sich im Flug einmal verhakt.

Diese E-Mail befindet sich in den Akten des Beklagten als Anlage zu einem Vermerk vom 15. Juli 2004 (Band III Blatt III 114). Weitere ggfs. frühere E-Mails des Herrn M. befinden sich nicht in den vorgelegten Akten.

Unter dem 10. Dezember 2003 vermerkte der Beklagte, die Windenergieanlagen lägen in der Fluglinie der Seeadler. Das Futtervorkommen für die Seeadler sei u.a. die Gänsefarm P.. Der Seeadler gehöre zu den streng geschützten Arten nach § 10 Abs. 2 Nr. 11 BNatG. Durch das Verhalten der Seeadler sei mit einer Kollision mit Windenergieanlagen zu rechnen. Seeadler würden im Luftraum keine natürlichen Feinde kennen und daher in die Windenergieanlagen hinein fliegen. Sie seien sehr arglos. Das Gefährdungspotential sei sehr hoch. In dem hier in Rede stehenden Bereich könne sich ein Seeadler langfristig halten. Es gebe wenige Bereiche, wo dies gegeben sei. Es werde ein 6-km-Radius um den Schlafbaum gezogen, der von Gefahrenstellen freizuhalten sei.

Mit Schreiben vom 14. Januar 2004 hörte der Beklagte die J. K. zum beabsichtigten Widerruf der Genehmigung an.

Mit Fax vom 4. März 2004 teilte die J. K. mit, der Bauherr habe gewechselt. Neuer Bauherr sei die Q. R. C. aus S..

Mit Schreiben vom 26. Februar 2004 erklärten die Bevollmächtigten des Planungsbüros H., der beabsichtigte Widerruf sei rechtswidrig. Die Meldung eines einzigen Seeadlerpaares begründe nicht die planungsrechtliche Unzulässigkeit der genehmigten Windfarm. Zu berücksichtigen sei dabei, dass das Vorhabengrundstück nach dem Regionalen Raumordnungsprogramm des Beklagten als Vorrangstandort für die Windenergiegewinnung ausgewiesen sei. Ferner sei es im Flächennutzungsplan der Samtgemeinde T. (2. Änderung des Teilplans 9, I.) als Sonderbaufläche, Konzentrationsfläche für Windkraftanlagen, dargestellt. Der mutmaßliche Nistplatz sei 5,5 km bis mehr als 6 km vom Windfarmgebiet entfernt. Zahlreiche Nahrungsplätze lägen westlich der Windfarm. Zu ihrem Aufsuchen müsse die Windfarm vom Horst her nicht überflogen werden, sie liege auch nicht innerhalb oder am Rande eines Flugkorridors auf dem Weg dorthin. Knapp am Rande eines solchen mutmaßlichen Verbindungskorridors liege der Windkrafteignungsraum nur, wenn man als weiteres Nahrungsgebiet auch das Wiesen- und Feuchtgebiet unmittelbar nördlich der Windkrafteignungsfläche, westlich des Ortes Wüstenhöfen, südlich der Aue und östlich des Naturschutzgebietes „U. V.“ in den Blick nehme. Dieses Gebiet liege aber schon sehr viel weiter entfernt vom Horst als die gleichwertigen anderen. Es müsse deshalb davon ausgegangen werden, dass Seeadler bevorzugt die nächstgelegenen Nahrungsgebiete aufsuchten, die entfernteren aber nur seltener. Die Abstandsempfehlung aus Brandenburg gebe zur Vermeidung einer abstrakten Gefahr von Windkraftanlagen freie Verbindungskorridore von maximal 6 km Entfernung zum Horst auf. Bei den fraglichen Wiesen- und Feuchtgebieten nördlich der Windkrafteignungsfläche sei zu bedenken, dass schon die nördliche Grenze des raumordnungsrechtlich festgelegten Windkrafteignungsgebietes etwa 5.700 m vom Horst entfernt sei. Das sich nördlich anschließende Feucht- und Wiesengebiet selbst sei naturgemäß noch weiter entfernt.

Auch die Q. R. C. trat mit Schreiben vom 27. Februar 2004 einem beabsichtigten Widerruf der Genehmigung entgegen.

Mit Bescheid vom 3. August 2004, der Q. R. C. zugestellt am 6. August 2004, widerrief der Beklagte die Genehmigung nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz vom 10. Februar 2003. Zur Begründung führte er aus, zum Schutze der Seeadler sei es erforderlich, die erteilte Genehmigung nach § 21 Abs. 1 Nr. 3 BImSchG zu widerrufen. Die Genehmigung sei am 10. Februar 2003 erteilt worden. Im September 2003 seien sowohl ihm als auch der Bezirksregierung Lüneburg bekannt geworden, dass sich in der Umgebung der geplanten Windfarm zwei Seeadler aufhielten. Aufgrund dieser Tatsachen wäre er berechtigt, die Genehmigung nicht zu erteilen. Die Europäische Vogelschutzrichtlinie enthalte eine imperative Verpflichtung, zur Sicherung des ökologischen Wertes präzise Maßnahmen der Erhaltung der Lebensräume wildlebender Vogelarten zu treffen, und zwar bevor eine Verringerung der Anzahl von Vögeln oder die konkrete Gefahr des Aussterbens einer geschützten Art nachgewiesen werde. Weiterhin sei der Seeadler artenschutzrechtlich nicht nur eine besonders geschützte Art, sondern sogar eine streng geschützter Art. Er unterliege somit dem strengen Schutz nach § 10 BNatG. Er sei eine vom Aussterben bedrohte Art, die landesweit nur noch mit zehn Brutpaaren vorkomme. Deutschland sei zum Schutz der Tiere unabhängig von EU-Vogelschutzgebieten verpflichtet. Die tierökologischen Abstandskriterien des Landes Brandenburg seien in Niedersachsen uneingeschränkt anwendbar. Nach Einschätzung des Niedersächsischen Landesamtes für Ökologie seien die Verbindungskorridore vom Horst zum Nahrungshabitat in einem 6-km-Radius von Windenergieanlagen freizuhalten. Das sei hier nicht der Fall, denn der Abstand der Windenergieanlagen zum Horst betrage nur 5,5 km. Die Seeadler seien im September 2003 und danach regelmäßig in der Umgebung der geplanten Windfarm gesehen worden. Beobachtungen zur Nahrungssuche u.a. durch die Gänsefarm und die Gänsehaltung auf den verschiedenen Flächen in dem großräumigen Bereich und im Bereich der geplanten Windfarm seien von Herrn L. M. gemacht worden. Im Ergebnis könne der erforderliche Schutz der Seeadler lediglich durch den Verzicht auf den Bau der Anlagen erreicht werden. Zum Vertrauensschutz des Betroffenen sei festzustellen, dass der Vorhabenträger selbst Widerspruch gegen den Umfang der Kompensationsmaßnahmen eingelegt und die Wirtschaftlichkeit des genehmigten Vorhabens in Frage gestellt habe. Er habe zur Erreichung der Wirtschaftlichkeit des Vorhabens der Bezirksregierung Lüneburg schon Planungen über eine Änderung des Vorhabens vorgestellt.

Am 2. September 2004 legte die Q. R. C. gegen diesen Bescheid Widerspruch ein und führte zur Begründung aus: Die Voraussetzungen des § 21 BImSchG seien nicht gegeben. Der Eintritt nachträglicher Tatsachen sei nicht ersichtlich. Maßgebliche zeitliche Schnittstelle sei dabei der 10. Februar 2003 als Datum der Genehmigungserteilung. Die Anwesenheit von Seeadlern in der näheren Umgebung des Vorhabenstandortes sei der Genehmigungsbehörde bereits lange vor diesem Zeitpunkt bekannt gewesen. Dafür spreche zum einen, dass bereits im Jahre 2001 in der näheren Umgebung des heutigen Standortes Todfunde von Seeadlern stattgefunden hätten. Ferner spreche für eine vorzeitige Kenntnis der Genehmigungsbehörde die Ausweisung des in der Nähe des Standortes gelegenen Europäischen Vogelschutzgebietes V 22 „W. bei X.“, welches ausdrücklich auch dem Aufenthalt und Schutz von Seeadlern diene. Das Schutzgebiet sei durch Bekanntmachung im Bundesanzeiger vom 11. Juni 2003 ausgewiesen. Da entsprechende Vogelschutzgebiete europaweit kartiert und an die EG-Kommission weitergemeldet würden und darin zugleich ein hohes Schutzniveau garantiert werde, sei von entsprechend langfristigen Planungen und Beobachtungen bei Gebietsausweisungen auszugehen. Diese dürften jedenfalls deutlich vor dem Zeitpunkt der Genehmigungserteilung begonnen worden sein, wenn man bedenke, dass die maßgebliche Änderung der Vogelschutzrichtlinie, die auch dieser Gebietsausweisung zugrunde liege, auf das Jahr 1997 zurückgehe. Auch § 6 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG iVm § 11 NNatG vermöge einen Genehmigungswiderruf nicht zu rechtfertigen. Es fehle an einem Eingriff, denn eine erhebliche Beeinträchtigung des natürlichen Lebensraums für Seeadler sei nicht gegeben. Die Abstandskriterien aus Brandenburg seien angesichts der unterschiedlichen lokalen Verhältnisse nicht anwendbar. Es seien ohnehin nur Kriterien für die Aufstellung von Plänen, aber nicht für die Zulassung von Einzelvorhaben. Ferner sei eine Verletzung der Abstandskriterien nicht ersichtlich, zumal der genaue Standort des Horstes unbekannt sei. Es werde ausdrücklich bestritten, dass sich in der näheren Umgebung des Windparks I. überhaupt Seeadler dauerhaft mit einem Nistplatz niedergelassen hätten. Eine Einzelfallbetrachtung sei völlig unterblieben. Der Widerrufsbescheid stelle noch nicht einmal fest, ob ein Horst tatsächlich existiere. Eine Überschneidung von lediglich 500 m zu konstatieren, ohne den genauen Standort des Brutplatzes überhaupt zu kennen, erscheine zumindest sehr gewagt.

Mit Bescheid vom 14. Februar 2006 deutete der Beklagte den Widerruf der Genehmigung in eine Rücknahme der Genehmigung um und wies den Widerspruch der Klägerin zurück. Zur Begründung führte er u.a. aus, die Ermittlungen während des Widerspruchsverfahrens hätten ergeben, dass die Umgebung der geplanten Windkraftanlagen mindestens seit 1999 ein bedeutendes Gebiet als Rast- und Durchzugsraum und Jagdrevier für Seeadler sei. Dies ergebe sich aus den beigefügten Beobachtungsdaten von L. M., der vom NLWKN als fachlich versierter und zuverlässiger Ornithologe anerkannt werde. Der Ausgangsbescheid könne in eine Rücknahme umgedeutet werden, da eine Rücknahme nach § 48 VwVfG auf das gleiche Ziel wie ein Widerruf gerichtet sei, nämlich die Aufhebung der Genehmigung. Die Genehmigung sei von Anfang an rechtswidrig gewesen. Die in § 35 Abs. 3 BauGB aufgeführten öffentlichen Belange könnten grundsätzlich auch einem privilegierten Vorhaben entgegengehalten werden. Privilegierte Vorhaben seien aber im Unterschied zu sonstigen Außenbereichsvorhaben nur dann planungsrechtlich unzulässig, wenn ihnen die öffentlich-rechtlichen Belange entgegenstünden. Wie sich aus den ihm nunmehr zur Kenntnis gebrachten Beobachtungen der Ornithologen überzeugend und nachvollziehbar ergebe, habe das Gebiet in der Umgebung der geplanten Windkraftanlagen einen besonders hohen Stellenwert für den Artenschutz der strengstens artgeschützten Seeadler. Das Gebiet, in dem sich der Standort der Windkraftanlagen befinde, diene als Rast- und Trittstein für durchziehende und überwinternde Seeadler. Das bedeute, das Gebiet werde von Seeadlern, die sich vor kälteren Witterungsverhältnissen z.B. aus Skandinavien weiter in den Westen flüchteten, als „Tankstelle“ genutzt, um dort ihre Energiereserven für den Rückzug in ihre Brutgebiete wieder aufzufüllen. Hier biete das Gebiet in der Umgebung der Windkraftanlagen optimale Bedingungen durch das hohe Nahrungsangebot (z.B. die offenen Moorbereiche). Neben der „Tankstellenfunktion“ für durchziehende Vögel sei seit spätestens 2003 ein gleichbleibendes, Revier anzeigendes Seeadlerpaar (dieselben Individuen) beobachtet worden. Dieses Paar habe sich offenkundig aufgrund der idealen Bedingungen für das Gebiet in der Umgebung der geplanten Windkraftanlagen als dauerhaftes Jagdrevier entschieden. Die Hauptaktion des Seeadlerpärchens finde von einer bevorzugten Ansitzwarte bzw. dem sog. Schlafbaum aus statt. Der Standort dieses Schlafbaumes sei von den ortskundigen Ornithologen im Gelände identifiziert und in der Karte vom 15. Oktober 2003 eingetragen worden. Neben diesem eindeutig identifizierten Standort würden erfahrungsgemäß noch weitere untergeordnete Ansitzwarten genutzt. Aufgrund der Raumausstattung und der Gebietskulisse sei davon auszugehen, dass weitere Standorte in noch wesentlich geringerer Entfernung zum geplanten Windkraftstandort existierten. Mit der Aufnahme des Brutgeschäftes durch das Seeadlerpaar werde jährlich gerechnet. Weiterhin seien durchgehend heranwachsende, noch nicht reviergebundene Seeadler gesichtet worden. Die Revierbindung der Seeadler trete erst mit der Geschlechtsreife ein. Solange diese noch nicht eingetreten sei, könne ein Seeadler mit einem Revier anzeigenden Pärchen sich ein besonders attraktives Jagdrevier teilen. Das sei im Gebiet der zunächst genehmigten Windkraftanlagen wiederholt der Fall gewesen. Es sei mit einer Kollision der Seeadler mit den Windenergieanlagen zu rechnen. Seeadler würden im Luftraum keine natürlichen Feinde kennen und daher, wie in der Vergangenheit bereits beobachtet, arglos in die Windenergieanlagen hinein fliegen. Das Gefährdungspotential durchziehender und Revier anzeigender Seeadler sei in der Umgebung von Windenergieanlagen deshalb sehr hoch. Nach Auskunft der Projektgruppe Seeadler seien 17 Seeadler seit 2002 bei der Kollision mit Windkraftanlagen allein in Deutschland zu Tode gekommen. Angesichts der niedrigen Population dieser geschützten Vogelart handele es sich um einen sehr hohen Verlust. Die Rücknahmefrist des § 48 Abs. 4 VwVfG sei gewahrt, da er erst seit September 2003 Kenntnis von dem kontinuierlichen Vorkommen des Seeadlerpaares gehabt habe.

Am 17. März 2006 hat die Klägerin Klage erhoben.

Sie trägt vor, sie sei klagebefugt, da sie die Rechtsnachfolgerin der Q. R. C. sei. Widerruf und Widerspruchsbescheid seien bereits deshalb rechtswidrig, weil es an einer Rechtsgrundlage fehle. Ein Widerruf nach § 21 Abs. 1 Nr. 3 BImSchG setze voraus, dass nachträglich Tatsachen eingetreten seien, die die Genehmigungsbehörde berechtigten, die Genehmigung nicht zu erteilen. Allein an derartigen Nachträglichkeiten fehle es im vorliegenden Fall, da Seeadler am streitgegenständlichen Anlagenstandort zeitlich bereits deutlich vor dem 10. Februar 2003 beobachtet worden seien. Das in der Nähe des Standorts gelegene Europäische Vogelschutzgebiet V 22 „W. bei Y.“ sei durch Bekanntmachung im Bundesanzeiger vom 11. Juni 2003 ausgewiesen. Um seine erforderlichen Grenzen zu bestimmen, sei im Vorfeld auch die Betrachtung des streitgegenständlichen Standorts notwendig gewesen. Diese sei bereits vor Februar 2003 erfolgt. Darüber hinaus belegten die dem Widerspruchsbescheid beigefügten Beobachtungen der Ornithologen im Gebiet der geplanten Windenergieanlagen, dass Seeadler wiederholt bereits seit 1999 in der Nähe des Standortes ausgemacht worden seien.

Ferner sei eine Rücknahme wegen Verfristung nach § 48 Abs. 4 VwVfG nicht mehr zulässig. Es sei davon auszugehen, dass Herr M. seine Beobachtungen über das Seeadlervorkommen dem Beklagten regelmäßig mitgeteilt habe. Da die Beobachtungen bis in das Jahr 1999 zurückreichten, müsse der Beklagte bereits vorher Kenntnis vom Seeadlervorkommen gehabt haben. Für eine Kenntnis des Seeadlerauftretens in der näheren Umgebung des Anlagenstandortes reiche auch jene der Abteilung Naturschutz/Landschafts-pflege beim Beklagten aus.

Im Übrigen sei der nachgelagerte Rahmen der Abwägungsentscheidung bei der immissionsschutzrechtlichen Genehmigung bzw. ihre Aufhebung ungeeignet, die Problematik des Vogelschutzes zu bewältigen. Wo durchgängige Überplanung eines Gebiets bis hinunter zur Ebene des Flächennutzungsplans existiere, könne diese nicht schlicht mit Belangen des Vogelschutzes konterkariert werden. Hier wiesen sowohl das Regionale Raumordnungsprogramm für den Landkreis Harburg vom 16. November 2000 als auch der Flächennutzungsplan der Samtgemeinde T. (2. Änderung des Teilplans 9, I.) am streitgegenständlichen Standort Vorrang- bzw. Konzentrationsflächen für Windkraftanlagen auf, obwohl die Seeadlerproblematik bereits zum Zeitpunkt des jeweiligen Inkrafttretens bekannt gewesen sei. Selbst wenn später ein tiefgreifender Wandel der avifaunistischen Situation vor Ort eingetreten wäre, sei dies in erster Linie planungsrechtlich mit allen einhergehenden auch schadensrechtlichen Konsequenzen zu bewältigen.

Schließlich sei die Aufhebungsentscheidung des Beklagten ermessensfehlerhaft. Selbst wenn die tierökologischen Abstandskriterien für die Errichtung von Windenergieanlagen in Brandenburg auf niedersächsische Verhältnisse übertragbar sein sollten, so seien sie vorliegend jedenfalls nicht derart verletzt, dass sie eine Aufhebungsentscheidung rechtfertigen würden. Ausweislich Ziffer 3.1 des Kriterienkatalogs sei ein meist direkter Verbindungskorridor in einer Breite von 1.000 m zwischen Horst und Nahrungsgewässern im Radius von 6.000 m um den Brutplatz von einer Nutzung durch Windenergieanlagen freizuhalten. Darüber hinaus sei ein Abstand von wenigstens 3.000 m zum Horst einzuhalten. Der Kriterienkatalog bezeichne somit terminologisch lediglich Horst- und Brutplatz. Beides scheine er gleichzusetzen. Zweck der Konkretisierung auf den Brutplatz als besonders sensiblen, dauerhaften Aufenthaltsort der Seeadler dürfte dabei die Fütterungsnotwendigkeit von Nachwuchs sein. Einen Brutplatz stelle der vom Beklagten angeführte „Schlafbaum“ jedoch nicht dar. Nachwuchs habe das Seeadlerpärchen, falls es sich tatsächlich stabil ortsfest am vom Beklagten bezeichneten Standort aufhalte, nicht zu verzeichnen gehabt. Allein deshalb sei bereits zweifelhaft, ob Ziffer 3.1 des Kriterienkatalogs, zumindest soweit das Erfordernis freizuhaltender, direkter Verbindungskorridore mit 1.000 m Breite und einem Radius von 6.000 m um den Brutplatz aufgestellt werde, hier überhaupt einschlägig sein könne. Jedenfalls sei es unverhältnismäßig, eine derartige Zone unter dem Gesichtspunkt, dass sich künftig zu einem unbestimmten Zeitpunkt einmal Nachwuchs einstellen könnte, beliebig in Reserve zu halten. Sollten tatsächlich Jungvögel auftreten, so sei es Angelegenheit des Beklagten, hierauf entsprechend zu reagieren. Eines präventiv-absoluten Verbotes bedürfe es nicht. Im Übrigen stelle der 6.000 m-Radius lediglich einen sog. Restriktionsbereich dar, in dem sich sowohl die Belange des Naturschutzes als auch die des Anlagenbetriebes verwirklichen können. Im Einzelfall könnten z.B. Höhenbegrenzungen, zeitliche Einschränkungen des Anlagenbetriebes (Tagbetrieb) oder verstärkte Anforderungen an die Kompensation entstandener Beeinträchtigungen auf Seiten des Anlagenbetreibers eingefordert werden. Ein vollständiges Nutzungsverbot infolge einer zwingenden Durchsetzung der Belange des Naturschutzes werde aber gerade nicht postuliert. Die im Widerspruchsbescheid nachgeholte Ermessensausübung sei mängelbehaftet. Der Beklagte gehe davon aus, dass der Belang „Seeadlerschutz“ generell von überragender Bedeutung und daher unbedingt zu gewährleisten sei. Der Beklagte habe verkannt, dass nordöstlich des Vorhabenstandortes bevorzugte Zielpunkte wie Nahrungsgewässer nicht auszumachen seien. Darauf deute auch der vorgelegte tatsächliche Befund.

Die Klägerin beantragt,

den Widerrufsbescheid vom 3. August 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Februar 2006 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er trägt vor, für die Fristberechnung nach § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG sei auf die Kenntnis der unteren Immissionsschutzbehörde abzustellen. Tatsächlich hätten seine Mitarbeiter erstmals am 17. September 2003 vom Vorkommen des Seeadlers im Gebiet I. erfahren. An diesem Tag habe Herr L. M. per Mail u.a. an Herrn Z. AA. geschrieben, dass er seit dem 12. September 2003 bestätigen könne, dass sich zwei Seeadler zeitgleich im N. Bauernmoor aufhielten. Herr M. sei ausschließlich ehrenamtlich tätig, und zwar als Beobachter im N. Bauernmoor vor allem für den Kranichschutz. Seine Seeadlerbeobachtungen und die entsprechenden Aufzeichnungen seien eigentlich nur Abfallprodukte, die er im September 2003 an die zuständigen Stellen weitergegeben habe. Das Niedersächsische Umweltministerium habe im Juni 2000 zur Aktualisierung der Gebietsvorschläge gemäß EU-Vogelschutzrichtlinien den Vorschlag V 22 Moor bei Y. vorgelegt. Nach diesem Vorschlag sei für die Gebietsauswahl nicht ausschlaggebend gewesen das Vorkommen des Seeadlers. Bis September 2003 seien Seeadler im N. Bauernmoor zwar regelmäßig, aber nur als Einzelexemplare oder als durchziehende Individuen festgestellt worden. Ein Revier anzeigendes Paar sei erst im September 2003 festgestellt worden. Mittlerweile habe Herr M. das Vorhandensein eines Horstes bestätigt. Nach den vorgelegten Kartierungen sei ersichtlich, dass gerade auch die Flächen ostwärts des Großen Moores für die Nahrungssuche bevorzugt würden, weil dort rings um die Gänsefarm P. die Auslaufflächen für die Gänse dieses Betriebes lägen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der beigezogenen Akten des Beklagten sowie der Gerichtsakte Bezug genommen.

Gründe

Die Klage hat Erfolg.

Der angefochtene Bescheid des Beklagten vom 3. August 2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 14. Februar 2006 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

1. Rechtsgrundlage für die im maßgeblichen Widerspruchsbescheid angeordnete Rücknahme der Genehmigung nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz vom 10. Februar 2003 ist § 48 Abs. 1 VwVfG des Bundes. Danach kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), darf nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 zurückgenommen werden.

Die Rücknahme setzt stets voraus, dass ein Verwaltungsakt bereits im Zeitpunkt seines Erlasses rechtswidrig war, dass also die Behörde bei dem Erlass des Verwaltungsaktes gegen geltendes Recht verstoßen hat. Eine Änderung der Sach- und Rechtslage im Zeitraum nach Erlass des Verwaltungsaktes kann zwar dazu führen, dass die Regelung in Widerspruch zum geltenden Recht gerät, nicht aber zur Rechtswidrigkeit und Rücknehmbarkeit des Verwaltungsaktes. Etwas anderes gilt nur in den Fällen, in denen sich eine Rechtslage rückwirkend ändert (vgl. Kopp/Ramsauer, Komm. zum VwVfG, 8. Aufl. 2003, § 48 Rdnr. 33 m.w.N.).

Voraussetzung für die immissionsschutzrechtliche Genehmigung der Windkraftanlagen ist u.a. nach § 6 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG, dass andere öffentlich-rechtliche Vorschriften der Errichtung und dem Betrieb der Anlage nicht entgegenstehen. Zwischen den Beteiligten streitig ist die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens.

Das von der Klägerin geplante Vorhaben war zum Zeitpunkt der Erteilung der Genehmigung - 10. Februar 2003 - am vorgesehenen Standort im Außenbereich nach § 35 Abs. 1 Nr. 5 BauGB zulässig, da öffentliche Belange nicht entgegen standen.

32a) Bei der Prüfung des Vorhabens der Klägerin ist zu berücksichtigen, dass die geplante Windfarm sich sowohl nach dem Regionalen Raumordnungsprogramm des Beklagten als auch nach dem Flächennutzungsplan der Gemeinde in einem ausgewiesenen Vorranggebiet für Windkraftanlagen befindet. Nach § 35 Abs. 3 Satz 2, 2. Halbsatz BauGB stehen öffentliche Belange raumbedeutsamen Vorhaben nach Absatz 1 nicht entgegen, soweit die Belange bei der Darstellung dieser Vorhaben als Ziel der Raumordnung in Plänen im Sinne der §§ 8 oder 9 des Raumordnungsgesetzes abgewogen worden sind. Bei der Ausweisung des genehmigten Standortes als Vorrangfläche für die Windenergienutzung im Regionalen Raumordnungsprogramm des Beklagten handelt es sich um eine raumordnerische Zielsetzung im Sinne dieser Vorschrift. Mit dieser Vorschrift wird berücksichtigt, dass in diesen Plänen für bestimmte Vorhaben außerhalb der Ortslagen Standorte festgelegt worden sind und dass bei dieser Festlegung auf der Ebene der Raumordnungsplanung überörtlich bedeutsame Standortfragen im Sinne einer Abwägung geprüft und berücksichtigt sowie zu einem Ausgleich gebracht worden sind. Dieses „Abwägungsergebnis“ soll im Rahmen der Zulässigkeitsfrage von privilegierten Vorhaben im Außenbereich nutzbar gemacht werden (Bundestagsdrucksache 10/6166, S. 132). Diese positive Wirkung von Zielen der Raumordnung befolgt folgenden Zweck: Privilegierte Vorhaben sind zulässig, wenn ihnen öffentliche Belange nicht entgegenstehen, d.h. überwiegende öffentliche Belange können im Einzelfall zu Unzulässigkeiten privilegierter Vorhaben im Außenbereich führen. Für die Frage, ob öffentliche Belange einem privilegierten Vorhaben entgegenstehen, hat Satz 3, 2. Halbsatz - und allein dafür - Bedeutung. Grundvoraussetzung ist, dass Ziele der Raumordnung Darstellungen enthalten, die dem privilegierten Vorhaben entsprechen. In Betracht kommen Vorranggebiete, durch die ein Gebiet mit der Festlegung dargestellt wird, dass das betreffende Gebiet für ein privilegiertes Vorhaben vorgesehen ist und andere raumbedeutsame Nutzungen in diesem Gebiet ausgeschlossen werden. Darüber hinaus wird vorausgesetzt, dass entsprechend den allgemeinen Planungsgrundsätzen bei der konkreten Darstellung des Vorhabens in einem Raumordnungsplan vom Vorhaben berührte Belange berücksichtigt und abgewogen worden sind. Nur soweit eine solche planungsrechtliche Abwägung stattgefunden hat, kommt die Regelung überhaupt zum Zug. Diese Feststellung kann anhand der Darstellung des Raumordnungsplans selbst sowie aus der Erläuterung zum Raumordnungsplan entnommen werden. Im Ergebnis kann es bedeuten, dass - je nach Planung - zu überörtlich bedeutsamen Standortfragen, z.B. denen des Umweltschutzes, eine Abwägung erfolgt ist. Diese Abklärungen sollen, aber auch nur soweit sie tatsächlich erfolgt sind, mit der dargelegten Wirkung dem privilegierten Vorhaben im Genehmigungsverfahren zugute kommen. Es kann im allgemeinen davon ausgegangen werden, dass bei festgelegten Vorrang- und Eignungsgebieten zugunsten der dort vorgesehenen raumbedeutsamen Vorhaben eine planerische Abwägung stattgefunden hat (vgl. Söffker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg, Komm. zum BauGB, Stand: Juli 2006, § 35 Rdnr. 121, 122). Soweit öffentliche Belange dabei nicht - oder nicht ausreichend - berücksichtigt worden sind, verbleibt es bei der uneingeschränkten Prüfung im Baugenehmigungsverfahren, ob öffentliche Belange entgegenstehen (vgl. Söffker, aaO, § 35 Rdnr. 122; VG Frankfurt, Beschl. v. 15.2.2002 - 4 G 4722/01 - in juris).

Im Regionalen Raumordnungsprogramm für den Landkreis Harburg 2000 hat eine Abwägung auch avifaunistischer Belange stattgefunden. Dazu heißt es im Raumordnungsprogramm (Erläuterung-D 3.5 Energie S. 167 ff): „Ein verstärkter Einsatz der Windkraft zur Energieversorgung ist im Landkreis Harburg nur in begrenztem Umfang möglich. Im teilweise dicht besiedelten Ordnungsraum Hamburg können Windkraftanlagen und Windparks die notwendigen Mindestabstände zu anderen Nutzungen oftmals nicht einhalten oder stehen im Konflikt zu diesen Nutzungen. Insbesondere Belange des Naturschutzes und der Landschaftspflege sind betroffen, aber auch die der Siedlungsentwicklung und der Erholung. Da in Ordnungsräumen in besonderem Maße ordnende Maßnahmen und damit eine stärkere planerische Beeinflussung als in anderen Räumen geboten ist und eine verstärkte Standortnachfrage aufgrund der Novellierung des BauGB sowie der anhaltenden Subventionierung durch das Stromeinspeisegesetz zu erwarten ist, wird in diesem RROP eine Steuerung von raumbedeutsamen Anlagen angestrebt. Dazu werden mittels einer kreisweiten Standortsuche geeignete Flächen bestimmt.“ Im Rahmen dieser Standortsuche bestimmt das Raumordnungsprogramm auf Seite 168 u.a. als Abwägungskriterien avifaunistisch wertvolle Gebiete von lokaler und höherer Bedeutung. Ferner setzt es als Ausschlusskriterien u.a. Naturschutzgebiete, besonders geschützte Biotope sowie Vorranggebiete für Natur und Landschaft fest und legt Abstandskriterien zu diesen Ausschlussgebieten fest. Dementsprechend ist davon auszugehen, dass der Beklagte bereits bei Aufstellung seines Regionalen Raumordnungsprogramms die avifaunistischen Belange abgewogen und berücksichtigt hat. Dies umfasst auch Seeadlersichtungen, die es schon seit mindestens 1999 im fraglichen Gebiet gibt und die auch bereits im Gebietsvorschlag „V22 Moore bei Y.“ des Landes Niedersachsen vom Juli 2000 dokumentiert wurden.

34Daher ist grundsätzlich eine nochmalige Prüfung avifaunistischer Belange ausgeschlossen.

b) Im Übrigen würde eine derartige nochmalige Prüfung auch nicht zur Rechtswidrigkeit der erteilten Genehmigung führen, denn die Kammer vermag ein Entgegenstehen der Belange des Vogelschutzes nicht festzustellen.

Hinsichtlich der vom Beklagten aufgeführten öffentlichen Belange ist zunächst noch einmal darauf hinzuweisen, dass sie nicht nur „beeinträchtigt“ werden dürfen, sondern „entgegenstehen“ müssen. Die Privilegierung wirkt sich in einem stärkeren Durchsetzungsvermögen gegenüber den berührten öffentlichen Belangen aus (OVG Lüneburg, Beschluss v. 20. 12. 2001 - 1 MA 3579/01 -, BauR 2002, S. 592).Die unter § 35 Abs. 1 BauGB fallenden Vorhaben sind im Außenbereich bevorzugt zulässig. Diese Bevorzugung ist allerdings nicht von quantitativer Art in dem Sinne, dass in einem Verstoß gegen entgegenstehende öffentliche Belange (Abs. 1) ein im Vergleich zur Beeinträchtigung öffentlicher Belange (Abs. 2) höherer Grad der Verletzung zu sehen wäre. Kennzeichnend sind vielmehr Unterschiede im erforderlichen Abwägungsvorgang. Für die Anwendung des ersten und zweiten Absatzes von § 35 BauGB gilt übereinstimmend, dass es jeweils einer Abwägung zwischen dem beabsichtigten Vorhaben und den von ihm etwa berührten öffentlichen Belangen bedarf. Bei dieser Abwägung muss jedoch - darin unterscheiden sich die beiden Absätze - zugunsten der von § 35 Abs. 1 BauGB erfassten Vorhaben die ihnen vom Gesetz zuerkannte Privilegierung gebührend in Rechnung gestellt werden. Das hat zwar nicht immer, aber doch im Regelfall zur Folge, dass sich ein privilegiertes Vorhaben zu Lasten von öffentlichen Belangen und insofern zu Lasten der Allgemeinheit auch dann noch durchsetzen kann, wenn unter gleichen Voraussetzungen ein sonstiges Vorhaben nach § 35 Abs. 2 BauGB wegen dieser von ihm beeinträchtigten öffentlichen Belange (schon) unzulässig ist (BVerwG, Urteil vom 14. März 1975 - 4 C 41.73 -, BauR 1975, 261; seitdem st. Rspr. )

An dem Belang des Schutzes einer bestimmten Vogelart kann die Errichtung eines bevorzugt im Außenbereich zulässigen Bauvorhabens nicht nur innerhalb ausgewiesener oder faktischer Europäischer Vogelschutzgebiete scheitern (so auch VG Stuttgart, Urteil vom 3. Mai 2005, NuR 2005, 673, 674). Die den Vogel- und Artenschutz betreffenden rechtlichen Regelungen in ihrer Gesamtheit schließen die Annahme einer derart beschränkten Wirkkraft des auf Vogelarten bezogenen Artenschutzes aus (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 16.3.2006 - 1 A 10884/05 - in juris).

Nach § 39 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 BNatSchG umfasst der Artenschutz den Schutz der Tiere und Pflanzen und ihrer Lebensgemeinschaften vor Beeinträchtigungen durch den Menschen und den Schutz, die Pflege, die Entwicklung und die Wiederherstellung der Biotope wildlebender Tier- und Pflanzenarten sowie die Gewährleistung ihrer sonstigen Lebensbedingungen, wobei die Länder gemäß § 41 Abs. 1 Satz 1 BNatSchG Vorschriften über den Schutz der wildlebenden Tiere und Pflanzen erlassen. Dementsprechend bestimmt § 28 Abs. 1 LNatSchG, dass seltene, in ihrem Bestand bedrohte, für den Naturhaushalt oder für Wissenschaft und Bildung wichtige Arten wildlebender Tiere und Pflanzen geschützt sind und ihre Lebensstätten und Lebensgemeinschaften zu erhalten sind.

39Die Notwendigkeit des Artenschutzes für den Seeadler leitet sich insbesondere daraus ab, dass diese Art im Anhang I der EU-Vogelschutzrichtlinie 1 aufgeführt ist und es sich dabei um eine in Niedersachsen vom Aussterben bedrohte Art handelt. Demzufolge handelt es sich bei dem Seeadler gleichzeitig um eine besonders geschützte Art i.S. des § 10 Abs. 2 Nr. 10 Buchst. a BNatSchG und um eine streng geschützte Art i.S. des § 10 Abs. 2 Nr. 11 Buchst. a BNatSchG. Der im Bundes- und im Landesnaturschutzgesetz angelegte Schutz dieser Art erschöpft sich nicht in einer strikten Beschränkung des Handels mit den Tieren, sondern erstreckt sich insbesondere auch auf den Schutz ihrer Lebensräume und -bedingungen in und außerhalb von für sie festgesetzten oder faktischen Schutzgebieten. Sollten die nationalen Regelungen, insbesondere §§ 41 Abs. 1 und 42 BNatSchG und/oder § 28 Abs. 1 und 2 LNatSchG insoweit ungenügend sein, ist die Gewährung eines ausreichenden Artenschutzes über eine direkte Anwendung der Vogelschutz-Richtlinie sicherzustellen.

40Die dergestalt abzuleitende Notwendigkeit des Lebensraumschutzes für den Seeadler erreicht an dem von der Klägerin in Aussicht genommenen Anlagenstandort aber noch keine so große Intensität, dass der öffentliche Belang des Artenschutzes hier der Errichtung der im Außenbereich gemäß § 35 Abs. 1 Nr. 5 BauGB bevorzugt zulässigen Windkraftanlagen entgegenstehen würde.

41Bei der Abwägung fällt ins Gewicht, dass nicht nur der Beklagte in seinem Regionalen Raumordnungsprogramm, sondern auch die Gemeinde die Fläche als Vorrangstandort für Windenergieanlagen in ihrem Flächennutzungsplan ausgewiesen hat, und die Klägerin grundsätzlich auf den Bestand dieser kommunalen Planungen vertrauen darf. Beide Körperschaften haben seit 2003 die Beobachtungen des Herrn M. nicht zum Anlass genommen, eine kurzfristige Änderung ihrer Planungen vorzunehmen. Die Kammer hat sich seitdem mehrfach mit dem Regionalen Raumordnungsprogramm des Beklagten befasst (vgl. Urteile v. 8. Juli 2003 - 2 A 62/02 - ; 26. April 2004 - 2 A 127/02 - ; 16. März 2005 - 2 A 192/03 - ) und es ebenso wie das niedersächsische Oberverwaltungsgericht (Urteil v. 28.3.2006 - 9 LC 225/03 -) im Hinblick auf die Konzentrationswirkung nach § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB für wirksam erachtet, ohne dass der Beklagte in einem dieser Verfahren Erwägungen zur Änderung dieser Planung oder gar eine mangelnde Eignung eines der ausgewiesenen Vorranggebiete vorgetragen hätte. Soweit der Vertreter des Beklagten in der mündlichen Verhandlung auf Nachfrage nach einem Telefonat mit der Planungsabteilung des Beklagten erstmalig erklärt hat, seit drei Jahren werde an der Novellierung der Planung gearbeitet, die im Jahre 2008 umgesetzt werden solle, wirkt sich dies auf den hier maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung - des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 14. Februar 2006 - nicht mehr aus, in dem die Planung noch nicht verbindlich geändert war.

Demgegenüber wiegen die vom Beklagten ermittelten avifaunistischen Belange nicht derart schwer, dass von einem Entgegenstehen im Sinne von § 35 Abs. 1 BauGB auszugehen wäre. Zu berücksichtigen ist dabei, dass im Rahmen des immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahrens die Rechtsvorgängerin der Klägerin einen landschaftspflegerischen Begleitplan der Planungsgruppe Elbwerk, Stand: Februar 2002, vorgelegt hat, die auch eine avifaunistische Erfassung durch den Dipl.-Biologen AB. AC. enthält. Nach dieser avifaunistischen Erfassung, die auf vier Begehungen im Herbst 1999 und drei weiteren Begehungen im Frühjahr 2000 beruht, wurden keinerlei Seeadler gesichtet. Auf Seite 2 der faunistischen Erfassung heißt es dazu: „Gemäß Nachfrage beim Niedersächsischen Landesamt für Ökologie, Staatliche Vogelwarte in Niedersachsen, und beim Landkreis Harburg liegen keine Erkenntnisse über Rastvögel, Durchzügler und Nahrungsgäste aus dem Untersuchungsgebiet vor.“ Demgegenüber liegen dem Beklagten lediglich E-Mails des Herrn M. vor, in denen er jeweils mit Datum seine Seeadlerbeobachtungen auflistet. Insoweit wird auf Blatt 33 und Blatt 35 der Beiakte F verwiesen.

Im Verfahren 2 A 127/02 in ihrem Urteil vom 26. April 2004 (WKA-Standort AD.) hat die Kammer zum Seeadlerschutz ausgeführt:

„Ob dem Vorhaben der Klägerin zudem Belange des Naturschutzes gemäß § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 BauGB entgegen stehen, wie im Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung Lüneburg ausführlich dargelegt, kann hier offen bleiben, zumal weder das tatsächliche Vorkommen und der genaue Horststandort der Seeadler geklärt sind noch es gesicherte Erkenntnisse über die Auswirkungen von Windkraftanlagen auf Seeadler gibt (vgl. einerseits die von der Klägerin vorgelegten Berichte über eine Seeadler-Ansiedlung im Windpark AE., andererseits die Berichte über Kollisionen von Seeadlern mit Windkraftanlagen in den Lübecker Nachrichten vom 14.4. 2004 sowie im Jahresbericht 2003 der Projektgruppe Seeadlerschutz Schleswig-Holstein e.v.).“

Ob sich die Sachlage seitdem geändert hat und es nunmehr sichere Erkenntnisse über das Verhalten der Seeadler im Hinblick auf Windkraftanlagen gibt, ist angesichts der nach wie vor geringen Zahl von Seeadlern in Deutschland zweifelhaft, auch wenn es mittlerweile weitere Erkenntnisse über Totfunde bei Windkraftanlagen gibt. Der Beklagte hat bei seinen Entscheidungen nunmehr die „Tierökologischen Abstandskriterien für die Errichtung von Windkraftanlagen in Brandenburg“ herangezogen, die für den Seeadler unter 3.1 folgendes vorsehen:

„Art mit sehr hoher Sensibilität gegenüber anthropogen bedingten Störquellen. Nahrungsgebiete können bis zu 12 Kilometer vom Horst entfernt sein. Nahrungsflüge erfolgen zum Horst meist geradlinig. Windenergieanlagen im Verbindungskorridor zwischen Brutplatz und Nahrungsgebieten können zur Aufgabe des Brutplatzes oder zu direkter Kollision führen.

Kriterien: - Einhaltung eines Abstandes von wenigstens 3000 m zum Horst

- Freihaltung des meist direkten Verbindungskorridors (1000 m Breite) zwischen Horst und Nahrungsgewässer(n) im Radius 6.000 m um den Brutplatz.“

Ob diese Kriterien geeignet und auf Niedersachsen übertragbar sind, ist zweifelhaft, zumal nicht nachvollziehbar ist, warum der angeblich gegenüber Windkraftanlagen „arglose“ Seeadler ohne erlittene Kollision zur Aufgabe seines Brutplatzes bewegt werden soll; nach dem Vermerk der Bezirksregierung Lüneburg vom 21.10.2003 (Bl. 611 f. Beiakte C) soll es gerade gegenüber dem Seeadler keine sog. Scheuchwirkung geben.

Auch bei sachlicher Anwendung führen diese Kriterien nicht dazu, dass ein Entgegenstehen des Seeadlerschutzes positiv festgestellt werden kann.

Nach dem Vermerk der Bezirksregierung Lüneburg vom 23. Oktober 2003 (Bl. 611 Beiakte C) sollen sich die Windkraftanlagen ca. 5 km vom Schlafbaum der Seeadler entfernt, aber nicht zwischen Schlaf- und Nahrungsplatz befinden. Gleichwohl soll eine Gefährdung wegen einer in unmittelbarer Nähe zum geplanten Windpark befindlichen Gänsefarm bestehen, die von den Seeadlern zur Nahrungssuche häufig aufgesucht wird.

Der Standort der Windkraftanlagen befindet sich etwa 500 m nördlich der L 142 und etwa 800 m westlich der Ortschaft AF.; demgegenüber befindet sich der „Schlafbaum“ des gesichteten Seeadlerpärchens etwa 140 m südlich der L 142 und etwa 5500 m südwestlich der südlichsten WKA. Die Gänsefarm befindet sich ausweislich der Karte Bl. 124 etwa 500 m westlich bis südwestlich der genehmigten Windfarm, die daher von den Seeadlern nicht durchflogen werden muss.

Nach den „Beobachtungen der Ornithologen“, wie sie als Anlage zum Widerspruchsbescheid vom 14. Februar 2006 notiert sind, sollen „im Gebiet der geplanten Windkraftanlagen“ seit dem 2. Oktober 1999 bis zum 29. Oktober 2005 70 Seeadlersichtungen erfolgt sein, ohne dass allerdings der genaue Punkt der Sichtung vermerkt wäre.

Die seitens des Beklagten herangezogenen avifaunistischen Erkenntnismittel erfüllen nicht die Voraussetzungen, die nach den „Hinweisen zur Berücksichtigung des Naturschutzes und der Landschaftspflege sowie zur Durchführung der Umweltprüfung und Umweltverträglichkeitsprüfung bei Standortplanung und Zulassung von Windenergieanlagen (Stand Mai 2005)“ des Niedersächsischen Landkreistages (Abgekürzt: NLT-Papier) sowohl bei der Regional- und Bauleitplanung als auch im bau- und immissionschutzrechtlichen Verfahren zu stellen sind. Danach wäre von einem Gutachter zunächst der Untersuchungsraum festzulegen, der nach Nr. 53 des NLT-Papiers bei derartigen Windfarmen mindestens 2000 m im Umkreis von der äußeren Anlagestandorten umfassen soll. Dann wäre die Brutvogelbestandsaufnahme in 10 Bestanderfassungen, verteilt auf die gesamte Brutzeit, vorzunehmen, wobei die ermittelten Brutvogelreviere und Neststandorte als Punktangaben in Kartenausschnitten (M. 1: 10.000, ggfs. auch 1 : 5000) darzustellen sind. Die artspezifischen Restriktionsbereiche (Nahrungshabitate, Flugwege) für im Gebiet vorkommende besonders störanfällige Arten sind zusätzlich zu untersuchen und in ihrer Funktion kartografisch darzustellen. Weiterhin wäre eine Gastvogelerfassung (56) und eine Untersuchung des Vogelzugs (57) vorzunehmen und schließlich wären die Ergebnisse nach dem niedersächsischen Bewertungsverfahren zu bewerten (59). Gemessen an diesen Maßstäben, die nicht nur für Genehmigung- sondern auch für Rücknahme- und Widerrufsentscheidungen geltend müssen, sind die vom Beklagten zugrunde gelegten Erkenntnisse ersichtlich unzureichend. Abgesehen davon, dass die ehrenamtlichen Ornithologen, über deren Qualifikation im Hinblick auf eine sorgfältige Kartierung nichts bekannt ist, einen Untersuchungsraum nicht festgelegt haben und wohl eher die Vogelschutzgebiete als den Anlagenstandort abgegangen sind, liegt auch keine Protokollierung der erforderlichen Begehungen mit entsprechender kartografischer Darstellung vor. Die dem Widerspruchsbescheid beigefügte Karte im Maßstab 1 : 50.000, auf der von Herrn M. rote Linien eingezeichnet worden sind, genügt diesen Anforderungen nicht.

Wenn man gleichwohl die vorliegenden Erkenntnisse als zutreffend unterstellt und berücksichtigt, so ist festzustellen, dass es zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides weder einen Seeadlerhorst noch einen Brutplatz gab, sondern nur einen sog. Schlafbaum; ob sich dieser später zum Brutplatz entwickeln kann oder die Seeadler sich einen anderen Brutplatz in der Nähe suchen, ist nicht bekannt. Soweit der Beklagte in seinem Schriftsatz vom 10. Juli 2006 erklärt, der Zeuge M. habe erstmals im September 2003 ein revieranzeigendes Paar festgestellt, das im Norden des Waldgebiets AG. seinen Horst gehabt habe und habe, und von dort, nämlich dem bevorzugten Schlafbaum, aber auch von anderen Ansitzwarten aus, gingen die Seeadler auf Nahrungssuche, so deckt sich dies nicht mit den dem Gericht vorgelegten E-Mails des Herrn M., in denen von einem Horst nicht die Rede ist. Auch im Widerspruchsbescheid wird kein Horst, sondern nur ein Schlafbaum und eine Ansitzwarte erwähnt. Soweit der Vertreter des Beklagten in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, Herr M. habe ihm telefonisch das Vorhandensein eines Horstes bestätigt, kann diese zweifelhafte Erkenntnis schon deshalb nicht berücksichtigt werden, weil sie vom Beklagten bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides nicht in den Verwaltungsvorgängen dokumentiert wurde und deshalb davon auszugehen ist, dass sie erst nachträglich entstanden ist.

Für die hier gegebene Konstellation sind die „Tierökologischen Abstandskriterien“ mithin wenig ergiebig, da sie auf einen Brutplatz abstellen, hier aber nur ein Schlafbaum und eine Ansitzwarte vorhanden waren. Angesichts der Entfernung von 5.500 m zum Schlafbaum und der Lage außerhalb der direkten Verbindung zu mutmaßliche Nahrungsquellen - wenn auch nur mit etwa 500 m Abstand zur Gänsefarm - kann ein entgegenstehender Belang nicht positiv festgestellt werden. Die in den „tierökologischen Abstandskriterien“ weiterhin als maßgeblich erachteten Nahrungsgewässer, zu denen ein Verbindungskorridor freigehalten werden soll, liegen im wesentlichen südlich und westlich des Schlafbaumes; um sie zu erreichen, müssen die Seeadler nicht die Windfarm durchfliegen.

2. Auch eine nochmalige Umdeutung des Widerspruchsbescheides in einen Widerruf der Genehmigung, wie ihn der Ausgangsbescheid anordnen wollte, führt nicht zur Rechtmäßigkeit des Widerspruchsbescheides.

Voraussetzung für einen derartigen Widerruf wäre nach § 21 Abs. 1 Nr. 3 BImSchG, dass die Genehmigungsbehörde aufgrund nachträglich eingetretener Tatsachen berechtigt wäre, die Genehmigung nicht zu erteilen und dass ohne die Genehmigung das öffentliche Interesse gefährdet wäre.

Von Bedeutung sind insoweit nur nachträglich eingetretene Tatsachen, also nicht das schon vor der Genehmigung bekannte Seeadlervorkommen, sondern nur die erstmalige Sichtung eines Seeadlerpärchens. Auch insoweit kann die Kammer nicht feststellen, dass ohne den Widerruf das öffentliche Interesse gefährdet wäre. Insoweit verlangt § 21 Abs. 1 Nr. 3 BImSchG, dass der Widerruf notwendig sein muss, um einen konkret drohenden Schaden an Allgemeingütern oder Individualrechtsgütern zu verhindern. Einen solchen konkret drohenden Schaden kann die Kammer derzeit nicht feststellen. Insoweit wird auf die obigen Ausführungen verwiesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.

Gründe für die Zulassung der Berufung liegen nicht vor (§ 124 a Abs. 1 iVm § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder 4 VwGO).