LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 28.07.2006 - L 8 SO 45/06 ER
Fundstelle
openJur 2012, 44575
  • Rkr:

1. Erhalten Leistungsberechtigte nach den §§ 41 ff SGB XII einen Teil ihrer Ernährung anderweitig (hier kostenlos in der WfbM zur Verfügung gestelltes Mittagessen), ist der Sozialleistungsträger grundsätzlich befugt, die dem Leistungsempfänger gewährte Grundsicherung wegen der Nutzung des kostenlosen  Mittagessens zu kürzen. Die Regelbedarfsätze können dann abweichend festgelegt werden (§ 28 Abs 1 Satz 2 SGB XII).

2. Vorläufig ist insoweit bei Haushaltsangehörigen ein Betrag von 1,45 € pro Mittagessen entsprechend 26,58 € monatlich anzusetzen.

Tenor

Auf die Beschwerden der Beteiligten wird der Beschluss des Sozialgerichts Osnabrück vom 15.Mai 2006 neu gefasst.

Der Antragsgegner wird im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig-unter dem Vorbehalt der Rückforderung-vom 1.März bis 31.Dezember 2006 höhere Leistungen nach dem 4. Kapitel Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch-Sozialhilfe-(SGB XII) unter Berücksichtigung eines um nur 26,58€ (statt 40,00€) monatlich reduzierten Regelsatzes zu gewähren.

Im Übrigen werden die Beschwerden zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat dem Antragsteller 1/3 seiner zweitinstanzlich angefallenen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes höhere Leistungen zur Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel SGB XII. Dabei ist streitig, ob bzw in welcher Höhe der Regelsatz zu kürzen ist, weil der Antragsteller in der Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) unentgeltlich eine Mahlzeit erhält.

Der 1977 geborene Antragsteller (Beschwerdeführer und Anschlussbeschwerdegegner), der zum Personenkreis der behinderten Menschen gehört (GdB 100, Merkzeichen G, H, B) lebt bei seinen Eltern und arbeitet in einer WfbM, einer teilstationären Einrichtung, in der ihm arbeitstäglich eine vollständige Mahlzeit zur Verfügung gestellt wird. Er bezog von dem Antragsgegner (Beschwerdegegner und Anschlussbeschwerdeführer) auf Grund eines bis zum 31.Dezember 2005 befristeten Bescheides vom 9.Mai 2005 Leistungen nach § 41 ff SGB XII in Höhe von (hier unstreitigen) 352,86 € monatlich. Mit Bescheid vom 29.Dezember 2005 wurden ihm Leistungen der Grundsicherung für die Zeit vom 1.Januar 2006 bis zum 31.Dezember 2006 nur noch in Höhe von 312,86 € gewährt. Dabei wurde der früher bewilligte Betrag um 40,00 € gekürzt, weil er in der WfbM eine vollständige Mahlzeit erhalte. Diese nehme er unentgeltlich ein, so dass ein Teil des Bedarfs an Ernährung gedeckt werde und eine Abweichung von der Regelleistung gerechtfertigt sei. Der hiergegen am 2.Januar 2006 eingelegte Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 10.Februar 2006), am 6. März 2006 hat der Antragsteller Klage beim Sozialgericht (SG) Osnabrück erhoben (Az: S 10 SO 48/06).

Am 8.März 2006 hat der Antragsteller beim SG Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt und die Zahlung weiterer 40,00 € monatlich an Grundsicherungsleistungen begehrt. Mit Beschluss vom 15.Mai 2006 hat das SG den Antragsgegner im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes verpflichtet, dem Antragsteller ab dem 1.März 2006 bis zum 31.Dezember 2006 unter dem Vorbehalt der Rückforderung weitere Leistungen in Höhe von 13,42 € monatlich zu gewähren. Der Antragsgegner sei grundsätzlich berechtigt, das in der Werkstatt eingenommene Mittagessen leistungsmindernd zu berücksichtigen. Der mit monatlich 40,00 € angesetzte Betrag für das Mittagessen sei zu hoch, ein Betrag von 1,45 € pro Mittagessen sei angemessen. Von dem Regelsatz für einen Haushaltsvorstand (345,00 €) entfielen auf Nahrungsmittel einschließlich Getränke und Tabakwaren 132,48 €, dementsprechend seien bei einer Gewährung von 80% des Regelsatzes 3,53 € täglich für den Ernährungsanteil zu berücksichtigen. Da das Mittagessen an dem gesamten Ernährungsbedarf mit 2/5 zu bewerten sei, ergebe sich ein Betrag von 1,41 €, der wegen der ersparten Aufwendungen für die Zubereitung des Mittagessens auf 1,45 € zu erhöhen sei. Bei durchschnittlich 220 Arbeitstagen pro Jahr seien dies 26,58 € pro Monat.

Der rechtzeitig eingelegten Beschwerde des Antragstellers hat das SG nicht abgeholfen und sie dem Landessozialgericht zur Entscheidung vorgelegt. Der Antragsteller beruft sich weiterhin auf das Urteil des SG Dortmund vom 18.Oktober 2005 (S31 SO 10/05, NDV-RD 2006, S. 40) und führt darüber hinaus aus, dass das SG die Vorschrift von § 92 Abs 2 Satz 4 SGB XII falsch interpretiert habe. Danach sei die Aufbringung der Mittel nach § 92 Abs 1 Satz 1 Nrn 7 und 8 SGB XII aus dem Einkommen dem behinderten Menschen nicht zumutbar, wenn sein Einkommen insgesamt einen Betrag in Höhe des zweifachen Eckregelsatzes nicht übersteige. Schließlich sei er - der Antragsteller - nur ca 170Tage im Jahr in der Werkstatt anwesend.

Der Antragsgegner hat am 9.Juni 2006 ebenfalls Beschwerde eingelegt. Er führt aus, der Gesetzgeber habe in § 92 Abs 2 Satz 4 SGB XII bestimmt, dass die zuständigen Landesbehörden berechtigt seien, Näheres über die Bemessung der für den häuslichen Lebensbedarf ersparten Aufwendungen für das Mittagessen zu bestimmen. Er beruft sich auf den Runderlass der zuständigen Landesbehörde vom 7.April 1998 (zuletzt in der Fassung vom 1.November 2003). Danach sei für das Mittagessen ein Betrag von 2,50 € als Kostenbeitrag festzusetzen.

II.

Die gemäß §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässigen Beschwerden des Antragstellers und des Antragsgegners gegen den Beschluss des SG Osnabrück vom 15.Mai 2006 sind nicht begründet. Der Senat hat den erstinstanzlichen Tenor nur zur Klarstellung neu gefasst. Das SG ist zu Recht zu dem Ergebnis gekommen, dass das dem Antragsteller in der WfbM gewährte Mittagessen grundsätzlich auf den Leistungsanspruch nach dem Vierten Kapitel des SGB XII anzurechnen ist, allerdings nicht in der vom Antragsgegner angenommenen Höhe. Es besteht keine Veranlassung, die im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes ergangene Entscheidung des SG zu ändern.

Im vorläufigen Rechtsschutzverfahren kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte; einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Anwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs 2 Satz 2 SGG). Dazu muss glaubhaft gemacht werden, dass das geltend gemachte Recht des Antragstellers gegenüber dem Antragsgegner besteht (Anordnungsanspruch) und dass der Antragsteller ohne den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung wesentliche, in § 86b Abs 2 SGG näher gekennzeichnete Nachteile erleiden würde (Anordnungsgrund).

1. Der Antragsteller hat das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs lediglich insoweit glaubhaft gemacht, wie das SG seinem Antrag stattgegeben hat. Ihm stehen, so das Ergebnis der summarischen Prüfung, zwar höhere Leistungen als vom Antragsgegner bewilligt zu, jedoch nicht ohne jegliche Berücksichtigung des ihm von der WfbM zur Verfügung gestellten Mittagessens.

9Der Antragsteller hat gemäß §§ 41, 42, 27, 28 SGB XII bei der Gewährung von Grundsicherungsleistungen einen Anspruch gegen den Antragsgegner auf den Regelbedarf, der durch den notwendigen Lebensunterhalt bestimmt wird. Der notwendige Lebensunterhalt umfasst insbesondere Ernährung, Unterkunft, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Heizung und persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens. Da der Antragsteller einen Teil seiner Ernährung anderweitig erhalten kann und erhält, ist der Antragsgegner befugt, grundsätzlich die dem Antragsteller gewährte Grundsicherung wegen der Nutzung des kostenlosen Mittagessens in der WfbM zu kürzen, wie das SG zutreffend entschieden hat. Das SG hat dabei zu Recht ausgeführt, dass die über § 42 Satz 1 Nr 1 iVm § 28 Abs 1 Satz 1 SGB XII gewährten Regelbedarfssätze abweichend festgelegt werden können, wenn im Einzelfall ein Bedarf ganz oder teilweise anderweitig gedeckt ist (§ 28 Abs 1 Satz 2 SGB XII). Der Senat verweist daher zur Vermeidung überflüssiger Wiederholungen auf die Beschlussgründe, § 142 Abs 2 Satz 3 SGG.

Das vom Antragsteller angeführte Urteil des SG Dortmund (AZ.: S31 SO 10/05 vom 18.Oktober 2005) ist hier nicht einschlägig, weil es zum Grundsicherungsgesetz (GSiG) ergangen ist. Durch die Einbeziehung der Grundsicherungsleistungen ab dem 1.Januar 2005 in das SGB XII und den Verweis des § 42 Satz 1 Nr 1 SGB XII auf den Regelsatz des § 28 SGB XII und damit auch auf § 28 Abs 1 Satz 2 ist jetzt ausdrücklich im Einzelfall bei anderweitiger Bedarfsdeckung eine von den Regelsätzen abweichende Festlegung des Bedarfs zulässig. Außerdem wurde, worauf bereits das SG zutreffend hingewiesen hat, zum GSiG in Rechtsprechung und Literatur die Auffassung vertreten, dass der Hinweis in § 3 Abs 1 Nr 1 GSiG auf den Regelsatz nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) die Möglichkeit einer abweichenden Festlegung des Regelsatzes wie in § 22 Abs 1 Satz 2 BSHG ermöglichte (VG Saarland Urteil vom 16.Dezember 2005 - 3K 136/05 -; Renn/Schoch: Die neue Grundsicherung 1. Aufl. RdNr 50 ff).

Auch bei einer Berücksichtigung des zur Verfügung gestellten Mittagessens als Einkommen (§ 41 Abs 2 iV mit § 82 Abs 1 SGB XII) würde der Antragsteller keinen Anspruch auf einen ungekürzten Regelsatz haben. Das Mittagessen würde dann nach § 2 Abs 1 Satz 1 der Verordnung zur Durchführung des § 82 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 28.November 1962 (BGBl I S 692), zuletzt geändert durch Gesetz vom 14.März 2005 (BGBl I S 818) - DVO -, als Sachbezug anzurechnen sein. Unberührt bliebe gemäß § 2 Abs 1 Satz 4 DVO die Verpflichtung, den notwendigen Lebensunterhalt im Einzelfall nach dem Dritten Kapitel des SGB XII sicherzustellen, so dass im Ergebnis kein Unterschied zu der vom SG und dem Senat favorisierten Reduzierung des Bedarfs bestehen würde.

Die vom Antragsteller angeführte Vorschrift des § 92 SGB XII führt nicht zu einem anderen Ergebnis, da diese Vorschrift gemäß § 41 Abs 2 SGB XII auf Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nicht anzuwenden ist. Außerdem regelt die Vorschrift die Anrechnung von Einkommen auf Leistungen, die infolge einer Behinderung erforderlich werden, nicht jedoch auf Leistungen für den Lebensunterhalt wie der hier gewährten Grundsicherung.

Schließlich rechtfertigt auch der Grundsatz der Nachrangigkeit (§ 2 SGB XII) eine Anrechnung für die kostenlose Inanspruchnahme des Mittagessen. Danach erhält Sozialhilfe nicht, wer sich vor allem durch den Einsatz seiner Arbeitskraft, seines Einkommens und seines Vermögens selbst helfen kann oder wer die erforderliche Leistung von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialhilfeleistungen erhält. Das in der WfbM zur Verfügung gestellte kostenlose Mittagessen stellt eine solche nach § 2 Abs 1 SGB XII wahrzunehmende Selbsthilfemöglichkeit dar, die von dem Antragsteller auch grundsätzlich wahrzunehmen ist (vgl SG Detmold - S19 SO 56/05 - vom 11.Oktober 2005 und SG Detmold - S6 SO 140/05 - vom 10.Mai 2006).

142. Die Reduzierung des Regelsatzes durch Berücksichtigung des Mittagessens ist nur in der Höhe gerechtfertigt, wie sie vom SG ermittelt worden ist. Die Beschwerde des Antragsgegners ist deshalb ebenfalls erfolglos.

Die Möglichkeit der abweichenden Festlegung des Regelsatzes nach § 28 Abs 1 Satz 2 SGB XII ist verfassungsrechtlich geboten und bringt das Individualisierungsprinzip des § 9 SGB XII zur Geltung. Dabei ist der Einzelfall im Sinne der Vorschrift nicht als einmaliger Fall zu deuten, sondern kann in konkreten Situationen mehrere Personen gleichzeitig treffen. Die hier - vorläufig - zu entscheidende Frage betrifft letztlich sämtliche Personen, denen durch Gewährung anderer staatlicher Leistungen oder privater Zuwendungen ein Mittagessen zur Verfügung gestellt wird. Mit dem SG geht der Senat dabei davon aus, dass es nicht auf den Wert des Essens an sich kommt, sondern auf das durch das zur Verfügung gestellte Essen - individuell - Ersparte. Diese Ersparnis beträgt danach pro Mittagessen 1,45 €, bei 220 Arbeitstagen 26,58 € pro Monat. Der Senat verweist hinsichtlich der Berechnung auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Beschlusses.

Sollte der Antragsteller nicht immer die Möglichkeit haben, das Mittagessen in der WfbM einzunehmen, zB bei längeren Erkrankungen, müsste zumindest in signifikanten Fällen die Berechnung ggf monatlich nachträglich geändert und dem Antragsteller ein höherer Bedarf zuerkannt werden. Eine derartige Verfahrensweise ist für den Sozialhilfeträger nicht unzumutbar. So wird in anderen Fällen wie der Erzielung wechselnder auf staatliche Leistungen anzurechnender Einnahmen eine monatliche Anpassung vorgenommen. Der Antragsteller wäre bei der von ihm behaupteten Anwesenheit von jährlich 170 Tagen rund fünf Tage monatlich und damit weniger als ein Viertel der Arbeitstage an der Nutzung des Mittagessens gehindert. Jedenfalls im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes ist dies keine Größenordnung, die eine weitere abweichende Festlegung des Regelsatzes rechtfertigt.

3. In Höhe des vom Antragsteller glaubhaft gemachten Anordnungsanspruchs liegt auch ein Anordnungsgrund vor. Ohne die Zahlung der vom SG zugesprochenen weiteren Leistungen würde der Antragsteller seinen notwendigen Lebensunterhalt nicht decken können, weil ihm ein höherer Betrag als durch das zur Verfügung gestellte Mittagessen Ersparte vom Regelsatz abgezogen würde. In solchen Fällen, in denen die Hilfebedürftigen keine weiteren Einkünfte haben, ist es diesen im Regelfall nicht zuzumuten, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten, wenn, wie hier, Überwiegendes für das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs spricht.

Hinsichtlich der nach der Senatsauffassung zu Recht bedarfsmindernd berücksichtigten Kosten des Mittagessens fehlt es aus den genannten Gründen am Vorliegen eines Anordnungsgrundes, weil der Antragsteller mit dem gekürzten Regelsatz und dem Mittagessen seinen notwendigen Lebensunterhalt bestreiten kann. Es ist nicht ersichtlich, dass ihm ohne diesbezüglichen vorläufigen Rechtsschutz schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung eine spätere Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG und berücksichtigt den jeweiligen Erfolg im Beschwerdeverfahren.

Gerichtskosten werden in Verfahren dieser Art nicht erhoben.

Der Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.

Zitate0
Zitiert0
Referenzen0
Schlagworte