LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 22.06.2006 - L 8 AS 165/06 ER
Fundstelle
openJur 2012, 44464
  • Rkr:

1. Leistungen für Unterkunft und Heizung sind gemäß § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II unabhängig von der Rechtmäßigkeit des Mietverhältnisses zu erbringen. Maßgebend sind allein die tatsächlichen Aufwendungen. Ob ein Hauptmieter zur Untervermietung an den Hilfebedürftigen berechtigt ist, ist unbeachtlich, solange Zahlungen erfolgt sind.2. Die Regelung des § 33 Abs 2 Satz 1 Nr 2 SGB II, nach der der Übergang eines Unterhaltsanspruchs unter bestimmten Voraussetzungen nicht bewirkt werden darf, führt dazu, dass die Träger der Grundsicherung in diesen Fällen der Prüfung enthoben sind, ob ein Unterhaltsanspruch zusteht. Konsequenterweise kann ein solcher Anspruch nicht nach § 9 Abs 1 oder § 2 Abs 1 Satz 1 SGB II berücksichtigt werden.

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Oldenburg vom 13. März 2006 geändert.

Die Antragsgegnerin wird im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig - unter dem Vorbehalt der Rückforderung - ab dem 1.Mai bis zum 31.Juli2006 laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von 449,-- € monatlich zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin zu erstatten.

Gründe

I. Die Antragstellerin begehrt im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II). Streitig ist dabei insbesondere, ob sie die ihr obliegenden Mitwirkungsverpflichtungen erfüllt hat und die Antragsgegnerin in der Lage ist, die Anspruchsvoraussetzungen für den streitigen Leistungsbezug zu prüfen.

Die 1958 geborene Antragstellerin (ledig, keine Kinder) hat im Jahre 2003 ein Studium an der Fachhochschule D. (Sozialpädagogik/Sozialarbeit) erfolgreich mit Diplom und staatlicher Anerkennung abgeschlossen. Nach einem anschließenden Anerkennungspraktikum bezog sie bis zum 30. Januar 2006 Arbeitslosengeld (Alg) in Höhe von 20,76 € täglich. Ausweislich eines Untermietvertrages bewohnt sie seit dem 15. Juli 2004 als Untermieterin von Frau E. ein Zimmer von 12 m² mit der Möglichkeit, Küche, Bad, Waschküche und Fahrradschuppen mit benutzen zu dürfen. Hierfür sind zu zahlen monatlich 60,00 € Kaltmiete sowie anteilige Nebenkosten (14,00 €), Heizkosten (30,00 €) und Stromkosten (10,00 €).

Am 31. Januar 2006 beantragte die Antragstellerin formlos bei der Antragsgegnerin die Bewilligung von Arbeitslosengeld II (Alg II). In der Folgezeit gab es einen ausführlichen Schriftwechsel zwischen der Antragstellerin und der Antragsgegnerin über tatsächlich oder vermeintlich fehlende Unterlagen und Informationen. Dabei ging es insbesondere um die Vorlage ungeschwärzter Kontoauszüge, die Vorlage eines (Haupt-)Mietvertrages bzw der Gestattung des Vermieters zur Untervermietung sowie Angaben über die Eltern der Antragstellerin. Entsprechende Angaben wurden von der Antragstellerin verweigert. Mit Schreiben vom 2. März 2006 wurde die Antragstellerin aufgefordert, die angeforderten Unterlagen bis zum 17. März 2006 einzureichen bzw vorzulegen, anderenfalls werde ihr Antrag auf Gewährung von Alg II wegen fehlender Mitwirkung nach § 66 Abs 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - (SGB I) abgelehnt. Da die Antragstellerin sich weiterhin weigerte, die entsprechenden Unterlagen vorzulegen, wurde mit Bescheid vom 29. März 2006 der Antrag auf Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II gemäß § 66 SGB I aufgrund fehlender Mitwirkung abgelehnt. Hiergegen legte die Antragstellerin rechtzeitig Widerspruch ein, über den bisher, soweit ersichtlich, nicht entschieden worden ist.

Bereits vorher hatte die Antragstellerin am 8. März 2006 beim Sozialgericht (SG) Oldenburg einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt und die Leistung von Geldmitteln zur Sicherung ihres Lebensunterhalts begehrt. Der Antrag wurde mit Beschluss vom 13. März 2006 mit der Begründung abgelehnt, die Hilfebedürftigkeit der Antragstellerin könne wegen fehlender Mitwirkung nicht festgestellt werden.

Gegen diesen Beschluss hat die Antragstellerin am 29. März 2006 Beschwerde eingelegt. Das SG hat der Beschwerde nicht abgeholfen und sie dem Landessozialgericht zur Entscheidung vorgelegt.

Im Laufe des Beschwerdeverfahrens hat die Antragstellerin auf gerichtliche Hinweise ungeschwärzte Kopien von Kontoauszügen und eines Sparbuches vorgelegt sowie Mietquittungen über jeweils 114,-- € für die Monate Dezember 2005 bis Februar 2006 und eine Vereinbarung zwischen ihr und Frau E., nach der letztere der Antragstellerin die Warmmiete für das untervermietete Zimmer in Höhe von 114,-- € ab März 2006 für längstens vier Monate stundet. Im Übrigen vertritt die Antragstellerin weiter die Auffassung, dass die Vorlage einer Genehmigung zur Untervermietung nicht erforderlich ist; dessen ungeachtet habe Frau E. eine entsprechende Genehmigung vom Vermieter erbeten. Hinsichtlich der Angabe zu ihren Eltern vertritt die Antragstellerin die Auffassung, dass derartige Auskünfte nicht verlangt werden können, weil sie weder nach bürgerlichem Recht noch nach dem SGB II einen Unterhaltsanspruch gegenüber ihren Eltern habe. Ihren Vater habe sie zuletzt im Alter von drei Jahren gesehen und wisse nicht, ob er noch lebe. Von ihrer seit fast zwanzig Jahren in zweiter Ehe verwitweten Mutter habe sie immer mal wieder, soweit es ihr möglich gewesen sei, finanzielle Unterstützung erhalten. Hinsichtlich der erforderlichen Eilbedürftigkeit hat die Antragstellerin vorgetragen, dass sie wegen fehlendem Krankenversicherungsschutz sich ab Februar 2006 freiwillig krankenversichert hat, Zahlungen jedoch nur für Februar 2006 habe leisten können; ausweislich eines Schreibens der Barmer Ersatzkasse vom 18. Mai 2006 endet die freiwillige Mitgliedschaft der Antragstellerin zum 15. Juni 2006, wenn weiterer Zahlungsverzug eintreten sollte. Nach Angaben der Antragstellerin habe ihre Vermieterin ihr zudem die voraussichtliche Kündigung zum 30. Juni 2006 angekündigt. Da sie nicht einmal Lebensmittelgutscheine erhalte, müsse sie sich Geld leihen, um Nahrung kaufen zu können.

Die Antragsgegnerin vertritt weiterhin die Auffassung, dass ohne Vorlage einer Genehmigung zur Untervermietung Leistungen für Kosten der Unterkunft nicht erbracht werden könnten. Auch die Angaben zu den Eltern seien erforderlich; über einen Leistungsanspruch könne erst nach Vorlage der Personendaten der Eltern und der Genehmigung zur Untervermietung entschieden werden.

II. Die Beschwerde ist zulässig (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) und im wesentlichen begründet. Der Antragstellerin sind ab dem 1. Mai 2006 vorläufig unter dem Vorbehalt der Rückforderung Regelleistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nach § 20 SGB II und die Kosten der Unterkunft nach § 22 SGB II bis zum 31. Juli 2006 zu gewähren. Im Übrigen bleibt die Beschwerde erfolglos. Der angefochtene Beschluss des SG ist deshalb insoweit zu ändern.

Die Voraussetzung für eine Regelungsverfügung gemäß § 86 b Abs 2 Satz 2 SGG liegen ab dem 1. Mai 2005 vor. Ohne Erlass der einstweiligen Anordnung müsste die Antragstellerin wesentliche Nachteile befürchten (Anordnungsgrund), weil sie nicht über ausreichende finanzielle Mittel verfügt, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Sie hat glaubhaft gemacht, dass ihr keine liquiden Barmittel zur Verfügung stehen, sowie ihr Krankenversicherungsschutz und ihre Unterkunft gefährdet sind. Der Senat lässt offen, ob die Eilbedürftigkeit auch bereits für die davor liegende Zeit ab Antragstellung bestanden hat, weil insoweit der weiter für den Erlass der hier streitigen Regelungsanordnung erforderliche Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht worden ist, wie sich aus dem Folgenden ergibt.

Unter Berücksichtigung des sich aus den vorliegenden Akten ermittelten Sachverhalts und nach der in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung hat die Antragstellerin grundsätzlich einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Sie ist erwerbsfähig und hat zumindest ab Mai 2006 auch ihre Hilfebedürftigkeit glaubhaft gemacht. Sie hat im April auf konkrete Anfragen des Senats Unklarheiten im Hinblick auf bestehende Freistellungsaufträge und ihren Wohnsitz beseitigt und vollständige Kopien ihrer Konten vorgelegt. Damit ist zwischen den Beteiligten nur noch streitig, ob die Antragsgegnerin eine Genehmigung des Hauptmieters zur Untervermietung (1.) sowie Angaben zu den Eltern der Antragstellerin (2.) verlangen kann.

111. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin sind Leistungen für Unterkunft und Heizung gemäß § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II unabhängig von der Rechtmäßigkeit des Mietverhältnisses zu erbringen. Maßgebend sind die tatsächlichen Aufwendungen. Diese beruhen hier auf einem der Antragsgegnerin vorgelegten Mietvertrag vom 15. Juli 2004 zwischen der Antragstellerin und Frau E.. Ob letztere zur Untervermietung berechtigt ist, ist unbeachtlich, solange, wie hier durch Vorlage der Mietquittungen glaubhaft gemacht, Zahlungen erfolgt sind. Eine „ständige Verwaltungsrechtsprechung zur Sozialhilfe“, nach der nur rechtmäßige Kosten der Unterkunft zu berücksichtigen sind (so die Stellungnahme der Antragsgegnerin an den Landesbeauftragten für den Datenschutz Niedersachsen), ist dem Senat nicht bekannt. Im Übrigen würde selbst ein schuldrechtliches Verbot des Hauptvermieters zur Untervermietung den Untermieter (hier die Antragstellerin) nicht von ihrer Verpflichtung aus dem Untermietvertrag befreien. Die Antragsgegnerin hat nur zu prüfen, ob die Kosten angemessen sind. Hieran bestehen bei 74,00 € Kaltmiete keine vernünftigen Zweifel (vgl zum Vorstehenden Berlit in LPK - SGB II, § 22 Rdnr 11)

122. Grundsätzlich sind Verwandte in gerader Linie gemäß § 1601 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), verpflichtet, einander Unterhalt zu gewähren. Ob bei der Antragstellerin, einer 47-jährigen Hilfebedürftigen mit abgeschlossener Berufsausbildung, auch ohne Berücksichtigung der Einkommensverhältnisse ihrer Eltern ein solcher Unterhaltsanspruch realisierbar wäre, kann hier dahinstehen. Tatsächlich hat die Antragstellerin, wie ihren Ausführungen zu entnehmen ist, einen solchen Unterhaltsanspruch nicht geltend gemacht. Damit kann die Antragsgegnerin den Übergang des Unterhaltsanspruchs nicht bewirken (§ 33 Abs 2 Satz 1 Nr 2 1. Halbsatz SGB II). Diese Regelung hat der Gesetzgeber aus dem Recht der Arbeitslosenhilfe übernommen; nach § 194 Abs 3 Nr 11 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung - (SGB III) galten nicht als Einkommen Unterhaltsansprüche, die ein volljähriger Arbeitsloser gegen Verwandte hat, aber nicht geltend macht (s. hierzu Beratungen des Bundestagsausschusses für Wirtschaft und Arbeit BT-Drucks 15/1749, S 33). Im Einzelnen heißt es dort:

„Die Änderung sieht vor, dass Unterhaltsansprüche gegen Verwandte grundsätzlich nicht übergeleitet werden dürfen.

Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes sind an die Beurteilung, ob ein erwachsenes Kind seine Eltern als Verwandte ersten Grades auf Unterhalt in Anspruch nehmen kann, strenge Anforderungen zu stellen. Demnach ist ein Volljähriger, der sich nicht in der Berufsausbildung befindet, zunächst ausschließlich für sich selbst verantwortlich. Eine Unterhaltspflicht Verwandter setzt für ihn daher erst ein, wenn er sich nicht selbst unterhalten kann. Er ist nach Abschluss seiner Ausbildung gehalten, auch berufsfremde Tätigkeiten aufzunehmen, wenn es ihm nicht möglich ist, in dem erlernten Beruf sein Auskommen zu finden. Dabei sind ihm auch Arbeiten unterhalb seiner gewohnten Lebensstellung zuzumuten. Erst danach kommt eine Inanspruchnahme der Eltern in Betracht (vgl. dazu BGHZ 93, 123).

Das Bundessozialgericht hat deutlich gemacht, dass bei erwerbsfähigen Arbeitslosen in aller Regel Unterhaltsansprüche nicht bestehen (vgl. BSG-Urteil vom 25. Oktober 1988 - 7 RAr 120/87). Der Gesetzgeber hat daraus für die Arbeitslosenhilfe die Folgerung gezogen, dass Unterhaltsansprüche gegen Verwandte ersten Grades nur berücksichtigt werden, wenn der Arbeitslose sie geltend macht (vgl. § 138 Abs. 3 Nr. 10 AFG; § 194 Abs. 3 Nr. 11 SGB III). Er hat dabei berücksichtigt, dass die Arbeitslosenhilfe eine Massenleistung ist.

Die Regelung soll für die Bezieher von Arbeitslosengeld II und Sozialgeld übernommen werden. Die Änderung verallgemeinert, dass Unterhaltsansprüche, die geltend gemacht werden, übergeleitet werden können. Sie lässt außerdem die Überleitung von Unterhaltsansprüchen Minderjähriger zu, da ihre Eltern unterhaltsrechtlich „verschärft“ haften (vgl. § 1603 Abs. 2 BGB).“

Die Regelung des § 33 Abs 2 Satz 1 Nr 2 SGB II führt dazu, dass die Träger der Grundsicherung in der Regel der Prüfung enthoben sind, ob ausnahmsweise einem erwachsenen Arbeitslosen gegen seine Eltern oder Großeltern ein Unterhaltsanspruch zusteht. Konsequenterweise kann ein solcher Anspruch auch nicht nach § 9 Abs 1 oder § 2 Abs 1 Satz 1 SGB II berücksichtigt werden.

Die Antragstellerin ist demnach allenfalls verpflichtet mitzuteilen, ob sie gegenüber ihren Eltern einen Unterhaltsanspruch geltend gemacht hat. Wenn die Antragsgegnerin meint, vermögensrechtliche Ansprüche der Antragstellerin gegenüber ihren Eltern prüfen zu müssen (so ihre Stellungnahme gegenüber dem Landesbeauftragten für den Datenschutz Niedersachsen), so mag sie die Antragstellerin konkret befragen und bei berechtigten Zweifeln an der Antwort weitere Auskünfte verlangen. Eine pauschale Auskunftsverpflichtung über mögliche Erblasser oder Schenkungsempfänger ist durch die Mitwirkungsverpflichtung nach § 60 Abs 1 Nr 1 SGB I nicht gedeckt.

Da der Antragsgegnerin die erforderlichen Informationen über die Hilfebedürftigkeit der Antragstellerin nunmehr vorliegen, ist kein Grund ersichtlich, nicht über den Leistungsantrag zu entscheiden. Die alleinstehende Antragstellerin hat einen Anspruch auf die Regelleistung nach § 20 SGB II in Höhe von 345,00 € monatlich und auf Leistungen für Unterkunft (74,00 €) und Heizung (30,00 €). Stromkosten sind im Regelsatz enthalten und nicht zusätzlich zu übernehmen. Ob in den Kosten für die Heizung auch Kosten der Warmwasserbereitung enthalten sind, mag im Hauptsacheverfahren geklärt werden, in dem die Antragsgegnerin auch über eine Bewilligung für die Zeit ab Antragstellung zu befinden haben wird.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).

Zitiert0
Referenzen0
Schlagworte