OLG Celle, Beschluss vom 08.11.2004 - 4 AR 90/04
Fundstelle
openJur 2012, 42184
  • Rkr:
Tenor

Das AG Rotenburg (Wümme) ist zuständig. Diese Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei; außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

Gründe

I. Die Antragsteller haben von der Antragsgegnerin ein Hausgrundstück gekauft und wollen wegen einer nach Übergabe festgestellten Schimmelbildung Ansprüche geltend machen. Zur Vorbereitung einer Hauptsacheklage haben sie das anhängige selbständige Beweisverfahren beim AG Rotenburg beantragt und im Antrag ausdrücklich als vorläufigen Streitwert den Betrag von 3.000 Euro angegeben. Das AG hat zunächst die Antragsgegnerin angehört und dann den Beweisbeschluss vom 16.8.2004 erlassen. Auf dieser Grundlage ist das Gutachten des Sachverständigen M. eingeholt worden. In dem Gutachten hat der Sachverständige die Sanierungskosten auf 23.484,20 Euro beziffert. Das AG hat mit Beschluss vom 6.9.2004 den Wert des Streitgegenstandes auf bis zu 25.000 Euro festgesetzt und seine vermeintliche Abschlussverfügung getroffen. Die Antragsgegnerin greift nunmehr das Gutachten an, lehnt den Sachverständigen M. ab und beantragt mit Schriftsatz vom 23.9.2004 die Begutachtung durch einen anderen Sachverständigen. Darauf hat das AG durch Verfügung vom 28.9.2004 die Parteien auf seine Auffassung hingewiesen, dass wegen des Antrages der Antragsgegnerin das Beweisverfahren noch nicht abgeschlossen sei, und angefragt, ob im Hinblick auf den Streitwertbeschluss Abgabeantrag gestellt werde. Das haben beide Parteien getan. Darauf hat das AG das Verfahren mit Beschluss vom 13.10.2004 an das LG „abgegeben”. Dieses hat die Akte formlos mit dem Bemerken zurückgesandt, dass das AG zunächst über den Befangenheitsantrag entscheiden müsse. Nunmehr hat das AG mit Beschluss vom 25.10.2004 beschlossen, dass es sich bei dem Abgabebeschluss vom 13.10.2004 um eine Verweisung handele, die auch im selbständigen Beweisverfahren zulässig sei, sodass die Zuständigkeit des AG ende. Das LG hat sich mit Beschluss vom 4.11.2004 für unzuständig erklärt und die Akten dem OLG gem. § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO vorgelegt.

II. Die Vorlage ist zulässig. § 36 Abs. 1 ZPO ist auch bei Zuständigkeitsfragen im selbständigen Beweisverfahren anwendbar (OLG Celle v. 23.11.2000 - 4 AR 55/00, OLGReport Celle 2001, 97). Das AG Rotenburg (Wümme) war als zuständiges Gericht zu bestimmen, weil es ungeachtet der nach Eingang des Gutachtens eingetretenen Erhöhung des Streitwerts weiterhin zuständig ist und im selbständigen Beweisverfahren eine Verweisung nach § 281 ZPO nicht in Betracht kommt, sodass sich die Frage einer etwaigen Bindung des LG an einen sachlich unrichtigen Verweisungsbeschluss nicht stellt. Im Übrigen wäre aber auch im vorliegenden Fall selbst bei Anwendung des § 281 ZPO die Verweisung wegen (mindestens) objektiver Willkür nicht bindend.

1. Ungeachtet aller Zweifel an der Zweckmäßigkeit des § 486 ZPO im Grenzbereich von Streitwerten um die Streitwertgrenze zwischen amts- und landgerichtlicher Zuständigkeit ist für die Zuständigkeit des Gerichts im selbständigen Beweisverfahren der Streitwert bei Antragstellung maßgeblich (OLG Celle v. 9.12.2003 - 16 W 63/03, OLGReport Celle 2004, 257 = NJW-RR 2004, 234; Zöller/Herget, ZPO, 24. Aufl., § 486 Rz. 4; Fischer, MDR 2001, 608 [609]). Deshalb muss der Antragsteller sein Interesse nachvollziehbar beziffern und das Gericht schon vor Erlass eines Beweisbeschlusses und Beauftragung des Sachverständigen den Wert und demgemäß seine Zuständigkeit sorgfältig ermitteln (OLG München OLGReport München 1993, 166). Wie auch sonst ist für die Bewertung des zu sichernden Anspruchs grundsätzlich auf die Tatsachenbehauptungen des Antragstellers bei der Einleitung des selbständigen Beweisverfahrens abzustellen; allenfalls offensichtliche Unter- oder Überbewertungen der Schätzung des Antragstellers zu Verfahrensbeginn können eine Korrektur rechtfertigen (OLG Celle v. 9.12.2003 - 16 W 63/03, OLGReport Celle 2004, 257 = NJW-RR 2004, 234). Spätere Veränderungen in der Einschätzung des Werts, insb. der durchaus häufige Fall, dass bei Einholung eines Sachverständigengutachtens sich deutlich höhere oder niedrigere Bewertungen ergeben, führen nicht zum Wechsel des Zuständigkeitsstreitwerts; ob für den Kostenstreitwert spätere Erkenntnisse im Lichte des eingeholten Gutachtens zu berücksichtigen sind (vgl. dazu Zöller/Herget, ZPO, 24. Aufl., § 3 Rz. 16, „selbständiges Beweisverfahren” m.w.N.; s. auch OLG Celle v. 13.8.2002 - 4 W 154/02, OLGReport Celle 2003, 116), ist im vorliegenden Zuständigkeitskonflikt ohne Bedeutung. Der Senat lässt diese Frage offen, zumal keine Partei eine Streitwertbeschwerde eingelegt hat.

Dementsprechend haben die Antragsteller den Wert und damit ihr Interesse an einer Hauptsacheklage mit voraussichtlich 3.000 Euro angegeben und die vor Erlass des Beweisbeschlusses angehörte Antragsgegnerin hat jedenfalls nicht der Wertangabe widersprochen. Das AG ist auch nicht etwa aufgrund einer „dringenden Gefahr” i.S.v. § 486 Abs. 3 ZPO angerufen worden, sondern aufgrund seiner sachlichen Zuständigkeit entsprechend der Bewertung des Sicherungsinteresses der Antragsteller. Das AG hat sich auf dieser Grundlage zutreffend in der Annahme eines Streitwerts von 3.000 Euro für zuständig erachtet und demgemäß den Beweisbeschluss erlassen.

Selbst wenn im Hinblick auf das Ergebnis des Gutachtens der Kostenstreitwert nunmehr auf bis zu 25.000 Euro festgesetzt werden konnte und sich die Antragsteller die Schätzung des Sachverständigen zu Eigen machen, ändert dies nichts an der einmal gegebenen Zuständigkeit des AG. Dies folgt aus § 261 Abs. 3 ZPO und dem darin verankerten Grundsatz der „perpetuatio fori”, der zwar wegen fehlender Rechtshängigkeit nicht unmittelbar, gleichwohl nach soweit ersichtlich unbestrittener Auffassung aber jedenfalls analog anwendbar ist. Der Ausnahmefall des § 506 ZPO, dass bei Erhebung einer Widerklage oder durch eine Klageerweiterung in einem beim AG rechtshängigen Verfahren ein Anspruch erhoben wird, der zur Zuständigkeit des LG gehört, betrifft nicht das selbständige Beweisverfahren, auch wenn sich - ohne Änderung von Anträgen - aufgrund späterer Erkenntnisse die die Zuständigkeit begründende Schätzung des Antragstellers als zu niedrig oder zu hoch erweist (OLG Frankfurt v. 26.9.1997 - 21 AR 76/97, NJW-RR 1998, 1610; OLG Bamberg v. 15.4.1998 - 3 W 28/98, OLGReport Bamberg 1998, 282; Fischer, MDR 2001, 610). § 506 ZPO ist eine Ausnahmevorschrift von dem Grundsatz der von § 261 Abs. 3 ZPO gewollten „perpetuatio fori” und deshalb durch enge Auslegung auf die beiden in der Vorschrift geregelten Tatbestände zu beschränken (BGH v. 7.12.1995 - VII ZR 112/95, NJW-RR 1996, 891). Dazu gehören geänderte Schätzungen des Werts im selbständigen Beweisverfahren - weder nach oben noch nach unten - nicht. Andernfalls käme man zu dem wenig sinnvollen Ergebnis, dass etwa dann, wenn sich in einem beim LG anhängigen Beweisverfahren aufgrund des Gutachtens herausstellt, dass die vom Antragsteller behauptete Kausalität nicht gegeben ist und damit der geltend gemachte Anspruch schon dem Grunde nach nicht besteht, der Wert „0 Euro” wäre und das LG für folgende Streitfragen die Sache an das AG verweisen müsste.

Nach alledem ändert sich an der Zuständigkeit des AG auch dann nichts, wenn die Festsetzung des Kostenstreitwerts auf bis zu 25.000 Euro richtig wäre.

2. Auch über § 281 Abs. 2 ZPO - bindende Verweisung - ergibt sich keine Zuständigkeit des LG. Denn nach h.M. ist eine „Verweisung” im selbständigen Beweisverfahren nicht möglich, weil es an der Voraussetzung einer Verweisung, nämlich der Rechtshängigkeit, fehlt (OLG Zweibrücken v. 28.5.1997 - 2 AH 15/97, BauR 1997, 885; Zöller/Herget, ZPO, 24. Aufl., § 486, Rz. 2; a.A. Fischer, MDR 2001, 608 [611]). Vielmehr ist bei Einverständnis des Antragstellers etwa bei Zweifeln des angerufenen Gerichts an dessen Angaben zum Streitwert bei Antragstellung und vor einer Entscheidung des Gerichts über den Antrag selbst eine Abgabe möglich. Für eine bindende Verweisungsmöglichkeit im selbständigen Beweisverfahren und damit eine analoge Anwendung des § 281 Abs. 2 ZPO gibt es auch keine zwingenden Gründe. Denn da nach § 486 Abs. 2 ZPO im nachfolgenden Streitverfahren allenfalls der Antragsteller, nicht aber der Antragsgegner gehindert wäre, sich auf die Unzuständigkeit des Gerichts zu berufen, geht das Gesetz selbst davon aus, dass im selbständigen Beweisverfahren keine endgültige Bindung für das Gericht des Hauptsacheverfahrens geschaffen werden soll. Insofern konnte eine - an sich nicht gegebene - Zuständigkeit des LG auch nicht über eine sog. bindende Verweisung eintreten.

3. Letztlich kann aber auch diese Frage offen bleiben. Denn wenn man mit der Auffassung von Fischer (Fischer, MDR 2001, 608 [611]) eine Anwendung von § 281 Abs. 2 ZPO auf das selbständige Beweisverfahren befürworten würde (so wird z.B. im PKH-Verfahren auch ohne die Bedingung der Rechtshängigkeit § 281 Abs. 3 ZPO für anwendbar gehalten, vgl. Zöller/Greger, ZPO, 24. Aufl., § 281 Rz. 2, m.w.N.), wäre der Verweisungsbeschluss des AG wegen objektiver Willkür nicht bindend (vgl. Zöller/Greger, ZPO, 24. Aufl., § 281 Rz. 17, m.w.N.). Objektive Willkür fehlt regelmäßig dann, wenn sich das verweisende Gericht für seine möglicherweise auch unrichtige Auffassung auf jedenfalls „vertretbare” Argumente berufen kann (BGH v. 9.7.2002 - X ARZ 110/02, BGHReport 2002, 946 = MDR 2002, 1450 = NJW-RR 2002, 1498). Für seine Auffassung, durch die höhere Einschätzung des Werts im Hinblick auf das Ergebnis des Gutachtens und die damit einhergehende - mindestens vertretbare - Festsetzung des Kostenstreitwerts auf 25.000 Euro ende seine sachliche Zuständigkeit für das selbständige Beweisverfahren, kann sich das AG auf - soweit ersichtlich - keine in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Argumente berufen; die von ihm im Anschluss an die Kommentierung bei Zöller/Greger, ZPO, 24. Aufl., § 281 Rz. 15 zitierte BGH-Entscheidung (BGH v. 17.2.1993 - XII ARZ 2/93, NJW-RR 1993, 700) betrifft nur die allgemeine Wirkung einer bindenden Verweisung, besagt aber nichts für die sachliche Zuständigkeit im selbständigen Beweisverfahren. Das AG setzt sich auch nicht mit der nahe liegenden Frage auseinander, weshalb es sich - zutreffend - selbst ursprünglich für zuständig angesehen, den in der Sache beantragten Beweisbeschluss erlassen, auch in Kenntnis des Ergebnisses des Gutachtens den Kostenstreitwert auf 25.000 Euro festgesetzt und ohne Zweifel an seiner Zuständigkeit die das Verfahren abschließende Verfügung („Gutachten an Parteien, Kosten, weglegen”) getroffen und solche Zweifel erst bekommen hat, als sich im Hinblick auf die Stellungnahme der Antragsgegnerin zum Gutachten Probleme ergaben, die sich nicht über die üblicherweise formularmäßigen gerichtlichen Entscheidungen im selbständigen Beweisverfahren lösen lassen. Man kann zweifeln, ob hier sogar subjektive Willkür vorlag (warum wurde der „Abgabebeschluss” vom 13.10.2004 nachträglich als „Verweisungsbeschluss” deklariert, als sich für das AG abzeichnete, dass das LG die Sache nicht einfach übernehmen würde?). Es genügt jedoch objektive Willkür, die dann gegeben ist, wenn ein zuständiges Gericht die Sache verweist, ohne dass es sich auf wenigstens vertretbare Zweifel an seiner Zuständigkeit berufen könnte. Solche zumindest vertretbaren Zweifel an der weiteren Zuständigkeit des AG gibt es aus den obigen Gründen nicht und das AG nennt solche beachtlichen Gründe auch nicht. Es widerspräche auch der üblichen Gerichtspraxis im selbständigen Beweisverfahren, wenn z.B. nach Durchführung des bereits von dem angerufenen Gericht erlassenen Beweisbeschlusses - dessen Erlass ja die Bejahung seiner Zuständigkeit durch das erlassende Gericht voraussetzt - das Verfahren vom LG ans AG oder vom AG ans LG abgegeben würde, je nachdem, ob der Sachverständige die vom Antragsteller zunächst gemachten Angaben zur Höhe seines Interesses für überhöht oder zu niedrig erachtet. Es gibt also auch keine übliche Gerichtspraxis, auf die sich das AG für seine Auffassung berufen könnte, wenn es denn schon keine Argumente dafür angibt.

Der Annahme mindestens objektiver Willkür steht auch nicht entgegen, dass beide Parteien die Abgabe an das LG beantragt haben. Zwar vertritt der erkennende Senat in Übereinstimmung mit der herrschenden Rechtsprechung zur Bindungswirkung von Verweisungsbeschlüssen nach § 281 Abs. 2 ZPO die Auffassung, dass - in den Grenzen der „Gerichtsstandserschleichung” - es an objektiver Willkür einer Verweisung in der Regel fehlt, wenn das verweisende Gericht den übereinstimmenden Anträgen der Parteien folgt (OLG Celle OLGReport Celle 2000, 224; Tombrink, NJW 2003, 2364 [2366]). Das gilt aber nicht bei einer sog. „provozierten Verweisung”. Weist ein Gericht von sich aus auf eine nach der Rechtslage aber nicht gegebene Verweisungsmöglichkeit hin, so sind auch der daraufhin vom Kläger/Antragsteller gestellte Verweisungsantrag und das Einverständnis des Gegners nicht geeignet, der rechtswidrigen Verweisung den Willkürcharakter zu nehmen (BGH v. 10.9.2002 - X ARZ 217/02, BGHReport 2003, 44 = MDR 2002, 1446 = NJW 2002, 3634). So liegt es hier: Wie oben schon dargelegt hat das AG von sich aus - noch nicht einmal im Zusammenhang mit dem Erlass des Streitwertbeschlusses vom 6.9.2004 - den unzutreffenden Hinweis auf die sachliche Zuständigkeit des LG für die Fortsetzung des Beweisverfahrens gegeben und so die Abgabeanträge der Parteien ausgelöst.