Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 19.04.2004 - 12 ME 78/04
Fundstelle
openJur 2012, 41342
  • Rkr:
Gründe

Die Beschwerde, mit der der am E. 1992 geborene, an frühkindlichem Autismus in Form des sog. high-functioning Autismus leidende Antragsteller die Verpflichtung des Antragsgegners im Wege der einstweiligen Anordnung zur Gewährung einer ambulanten Autismustherapie als Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung im Sinne der §§ 39, 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4, 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BSHG, 12 Nr. 1 Eingliederungshilfe-Verordnung und nicht lediglich - wie durch den angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts zuerkannt - als nur einkommensabhängig zu gewährende Hilfe zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft gemäß §§ 39, 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8, 28 Abs. 1 Satz 1 BSHG, 55 SGB IX begehrt, hat Erfolg.

Das Antragserfordernis in der Beschwerdebegründung ist erfüllt, wenn ein ausdrücklicher Antrag zwar nicht gestellt, sich das Rechtsschutzziel aber aus der Beschwerdebegründung ergibt.

Die Beschwerde ist zulässig, sie erfüllt insbesondere die formellen Voraussetzungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO. Zwar enthält weder die Beschwerdeschrift vom 18. Februar 2004, noch die Beschwerdebegründung vom 5. März 2004 einen bestimmten Antrag, wie dies § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO vorschreibt. Das Antragserfordernis ist jedoch auch dann erfüllt, wenn ein ausdrücklicher Antrag zwar nicht gestellt ist, sich das Rechtsschutzziel des Beschwerdeführers aber eindeutig aus den Darlegungen zur Begründung der Beschwerde entnehmen lässt (VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 1.7.2002 - 11 S 1293/02 -, NVwZ 2002, 1388 ff.; Hamb. OVG, Beschl. v. 3.12.2002 - 3 Bs 253/02 -, NordÖR 2003, 303 ff.; wohl nur im Ansatz, nicht unbedingt im Ergebnis restriktiver: VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 12.4.2002 - 7 F 653/02 -, NVwZ 2002, 883 f.; Hess. VGH, Beschl. v. 25.9.2002 - 12 TG 2216/02.A -, InfAuslR 2003, 281 ff.). Dies ist hier der Fall, denn das Begehren des Antragstellers ist ersichtlich darauf gerichtet, eine vorläufige, gegebenenfalls auch befristete Verpflichtung des Antragsgegners zur Übernahme der Kosten für die begehrte Autismus-Therapie nicht lediglich - wie bereits von dem Verwaltungsgericht ausgesprochen - als einkommensabhängige Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft, sondern als Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung und mithin als sog. erweiterte Hilfe im Sinne des § 43 Abs. 2 BSHG zu erreichen.

Die Beschwerde ist auch in der Sache erfolgreich, denn aus dem Beschwerdevortrag des Antragstellers ergibt sich nach dem Maßstab des § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO und vor dem Hintergrund der durch das Verwaltungsgericht getroffenen, von den Beteiligten im Beschwerdeverfahren nicht in Zweifel gezogenen Feststellungen die für den Erlass der von dem Antragsteller erstrebten Regelungsanordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO erforderliche Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruches und eines Anordnungsgrundes.

Das Verwaltungsgericht hat zunächst festgestellt, dass der Antragsteller, was zwischen den Beteiligten von Anfang an unstreitig war, wegen der bei ihm festgestellten autistischen Störung zu dem Personenkreis gehört, dem - auch in Abgrenzung zu einer Berechtigung aus § 35a SGB VIII - nach § 39 Abs. 1 BSHG Eingliederungshilfe zu gewähren ist. Das Verwaltungsgericht hat es auf der Grundlage der von ihm im Eilverfahren durchgeführten Beweiserhebung weiterhin für glaubhaft gemacht erachtet, dass bei dem Antragsteller neben dessen teilstationärer Unterbringung und Betreuung in der Heilpädagogischen Tagesbildungsstätte im Haus der Lebenshilfe in F. ein ergänzender autismusspezifischer Förderbedarf bestehe. Insbesondere müsse der Antragsteller noch lernen, Aufgaben zu Ende zu bringen, wobei seine psychische Stützung erforderlich sei. Er brauche regelmäßig die Rückversicherung eines Erwachsenen, ob er richtig handele und das Ergebnis stimme. Eine derartige intensive Betreuung könne in der aus acht Schülern bestehenden Gruppe in der Tagesbildungsstätte von zwei Lehrkräften und einem gegebenenfalls anwesenden Zivildienstleistenden nicht geleistet werden, sondern sei nur im Rahmen einer ergänzenden Einzelförderung möglich. Der Antragsgegner ist dieser Bewertung im Beschwerdeverfahren im Ergebnis nicht mehr entgegengetreten, obwohl er sich im Verwaltungsverfahren und im erstinstanzlichen Verfahren des vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutzes noch auf den Standpunkt gestellt hatte, auch der autismusbedingte sonderpädagogische Förderbedarf des Antragstellers werde bereits durch dessen Betreuung in der Heilpädagogischen Tagesbildungsstätte der Lebenshilfe in F. abgedeckt. Vor diesem Hintergrund besteht für den Senat kein Anlass, im Rahmen seiner Entscheidung über die Beschwerde in dem Verfahren des vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutzes eigene weitere Ermittlungen über die spezielle Förderbedürftigkeit des Antragstellers anzustellen.

Der Sozialhilfeträger ist verpflichtet, die Kosten einer Autismustherapie als Eingliederungshilfeleistung zu übernehmen, wenn diese Therapie als heilpädagogische Maßnahme geeignet und erforderlich ist, den Schulbesuch zu erleichtern.

Nicht beizutreten vermag der Senat jedoch der Einschätzung des Verwaltungsgerichts, bei der von dem Antragsteller begehrten Autismustherapie handele es sich um eine Leistung zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft im Sinne der §§ 40 Abs. 1, Satz 1 Nr. 8 BSHG, 55 SGB IX und nicht um eine Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung im Sinne der §§ 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4, 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BSHG, 12 Nr. 1 Eingliederungshilfe-Verordnung. Denn nach den Grundsätzen des von dem Verwaltungsgericht bei seiner Entscheidung nicht herangezogenen Beschlusses des erkennenden Senats vom 17. Dezember 2002 (- 12 ME 657/02 -, FEVS 55, 80 ff.) genügt es für die Annahme einer Verpflichtung des Sozialhilfeträgers, die Kosten einer Autismustherapie als Eingliederungshilfeleistung auf der Grundlage der §§ 39, 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4, 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BSHG, 12 Nr. 1 Eingliederungshilfe-Verordnung zu übernehmen, wenn diese Therapie als heilpädagogische Maßnahme erforderlich und geeignet ist, den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht in dem Sinne zu erleichtern, dass das betroffene Kind bzw. der betroffene Jugendliche in die Lage versetzt wird, die Schule erfolgreicher zu besuchen (ebenso: VG Oldenburg, Urt. v. 25.11.2003 - 13 A 2111/02 -; für eine vergleichbare Fallgestaltung im Hinblick auf eine sog. Petö-Therapie auch der 4. Senat des erkennenden Gerichts: Urt. v. 11.10.2000 - 4 L 6857/99 -, insoweit durch das im Revisionsverfahren ergangene Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 30.5.2002 - BVerwG 5 C 36.01 -, ZFSH/SGB 2002, 602 ff. unbeanstandet, und sodann: Urt. v. 22.1.2003 – 4 LB 316/02 -). Dass diese Voraussetzung im Fall des Antragstellers, wie dieser der Sache nach geltend macht, erfüllt ist, kann bereits auf der Grundlage der durch das Verwaltungsgericht in den Gründen seines Beschlusses benannten Feststellungen jedenfalls für das Eilverfahren mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit angenommen werden. Ergänzend ist hervorzuheben, dass auch in der Begründung des Widerspruchsbescheides des Niedersächsischen Landesamtes für Zentrale Soziale Aufgaben vom 21. Februar 2003 ausgeführt wird, es werde nicht bestritten, dass durch die zusätzliche Förderung im Rahmen einer ambulanten Therapie in Form von Einzelförderung größere Erfolge in der Entwicklung des Antragstellers möglich sein könnten als durch die reine Beschulung in der Tagesbildungsstätte. Weiterhin hat die Lehrerin des Antragstellers in ihrer Zeugenaussage in dem von dem Verwaltungsgericht am 25. November 2003 durchgeführten Termin zur Erörterung mit Beweisaufnahme bekundet, sie sei der Meinung, der Antragsteller könne auf Grund seiner kognitiven Fähigkeiten im Falle einer Einzelförderung stark gefördert werden.

Bei dem nach alledem zu bejahenden Anspruch des Antragstellers auf eine Leistung nach §§ 39, 40 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BSHG, 12 Nr. 1 Eingliederungshilfe-Verordnung handelt es sich um eine sog. Muss-Leistung (vgl. nur: W. Schellhorn / H. Schellhorn, BSHG, 16. Aufl. 2002, § 4, Rn. 5; § 39, Rn. 19 ff.). Das auch insoweit gemäß § 4 Abs. 2 BSHG grundsätzlich bestehende Ermessen des Antragsgegners über Form und Maß der Hilfeleistung sieht der Senat nach den Umständen des Einzelfalls als auf die aus der Beschlussformel ersichtliche Leistung reduziert an. Der zunächst nur begrenzte Leistungszeitraum ermöglicht dabei eine zeitnahe Erfolgskontrolle.

Voraussetzung für die eingliederungsrechtliche Behandlung der Autismus-Therapie, ist die genaue Untersuchung des individuellen Förderbedarfs und dessen Abdeckung in der teilstationären Einrichtung sowie die Geeignetheit und Erforderlichkeit der Therapie für einen erleichternden bzw. erfolgreicheren Schulbesuch.

Der Senat merkt in diesem Zusammenhang an, dass aus seiner Rechtsprechung zur eingliederungshilferechtlichen Behandlung von Autismus-Therapien nicht abgeleitet werden kann, dass diese bei schulpflichtigen behinderten Kindern und Jugendlichen stets als Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung qualifiziert werden müssten. Voraussetzung dafür ist vielmehr einerseits eine genaue Untersuchung des bestehenden individuellen Förderbedarfs und dessen Abdeckung durch die jeweils besuchte teilstationäre Einrichtung, andererseits die Geeignetheit und Erforderlichkeit der Therapie für einen jedenfalls erleichterten bzw. erfolgreicheren Schulbesuch. Weiterhin muss auch der Gesichtspunkt einer etwaigen Überforderung des behinderten Kindes oder Jugendlichen durch mehrere Therapieformen Berücksichtigung finden (vgl. dazu: 4. Senat des erkennenden Gerichts, Urt. v. 22.1.2003 – 4 LB 316/02 -). In dem hier zu entscheidenden Fall hatte der Senat derartige Untersuchungen vor dem Hintergrund der gegebenen prozessualen Situation in dem Verfahren über die Beschwerde im gerichtlichen Eilverfahren jedoch wie dargelegt nicht vorzunehmen.

Im Rahmen der hiernach gegebenen erweiterten Hilfe ist auch ein Anordnungsanspruch des Antragstellers gegeben (vgl. auch hierzu allgemein m.w.N.: Beschl. des erkennenden Senats v. 17.12.2002, a.a.O.).