Niedersächsisches OVG, Urteil vom 15.07.2003 - 8 ME 96/03
Fundstelle
openJur 2012, 40118
  • Rkr:

Vorläufiger Rechtsschutz gegen die Anordnung des Ruhens der Approbation eines Arztes wegen des Verdachts einer Straftat.

Gründe

Die Beschwerde des Antragstellers ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Denn das Verwaltungsgericht hat seinen Antrag, die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 11. April 2003 gemäß § 80 Abs. 5 VwGO wiederherzustellen, zu Unrecht vollständig abgelehnt.

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen den angefochtenen Bescheid, durch den die Antragsgegnerin das Ruhen der Approbation des Antragstellers unter Anordnung der sofortigen Vollziehung angeordnet hat, ist vom Verwaltungsgericht mit der Begründung abgelehnt worden, dass das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Anordnung des Ruhens der Approbation gegenüber dem Interesse des Antragstellers an einer Aussetzung der Vollzugs bis zur endgültigen Entscheidung über seinen Rechtsbehelf überwiege, weil der angefochtene Bescheid bei summarischer Prüfung wahrscheinlich rechtmäßig sei. Der Antragsteller sei der Straftat des § 174 c Abs. 2 StGB verdächtig. Die Staatsanwaltschaft B. habe ihn angeklagt, am 5. April 2002 während einer Hypnosebehandlung sexuelle Handlungen an einer Patientin vorgenommen zu haben bzw. an sich habe vornehmen lassen. Dieser Tatvorwurf werde durch die Aussage der Patientin und das fachpsychiatrische Gutachten von Prof. Dr. med. C. und Dr. med. D. vom 16. Dezember 2002 bestätigt. Das Vorbringen des Antragstellers führe zu keiner anderen Beurteilung. Nach den Feststellungen der Gutachter sei es unwahrscheinlich, dass die Patientin eine Pseudohalluzination erlebt habe. Die Gutachter hätten auch eine schwerwiegende sexuelle Traumatisierung der Patientin nicht feststellen können. Sie hätten außerdem betont, dass das Verhalten der Patientin während des sexuellen Übergriffs nachvollziehbar sei. Darüber hinaus spreche gegen den Antragsteller, dass er nach den Feststellungen der Gutachter bei der Hypnosebehandlung die Grenze dessen, was als üblich und lege artis angesehen werde, eindeutig überschritten habe. Außerdem sei nicht erkennbar, weshalb die Patientin den Antragsteller ohne Grund des sexuellen Missbrauchs beschuldigt haben sollte. Die Antragsgegnerin habe auch zu Recht angenommen, dass sich aus der dem Antragsteller zur Last gelegten Straftat seine Unwürdigkeit zur Ausübung des ärztlichen Berufs ergeben würde. Eine Beschränkung der Anordnung des Ruhens auf einen Teil der Approbation sei weder möglich noch erforderlich gewesen.

Diese Entscheidung des Verwaltungsgerichts hält der Überprüfung im Beschwerdeverfahren nicht stand.

Die gerichtliche Entscheidung über die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs setzt eine Abwägung des Interesses des Antragstellers, von der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts bis zur endgültigen Entscheidung über seine Rechtmäßigkeit verschont zu bleiben, gegen das zumeist öffentliche Interesse an dessen sofortiger Vollziehung voraus. Diese Abwägung fällt in der Regel zu Lasten des Antragstellers aus, wenn bereits im Aussetzungsverfahren zu erkennen ist, dass sein Rechtsbehelf offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg bietet (BVerfG, Beschl. v. 11.2.1982 - 2 BvR 77/82 - NVwZ 1982 S. 241; BVerwG, Beschl. v. 9.9.1996 - 11 VR 31/95 -; Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 4. Aufl., Rn. 858). Dagegen überwiegt das Interesse an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung in aller Regel, wenn sich der Rechtsbehelf als offensichtlich begründet erweist (BVerwG, Beschl. v. 20.10.1995 - 1 VR 1/95 -). Bleibt der Ausgang des Verfahrens in der Hauptsache bei der im Aussetzungsverfahren nur möglichen summarischen Prüfung (vgl. dazu BVerwG, Beschl. v. 11.9.1998 - 11 VR 6/98 -) jedoch offen, kommt es auf eine bloße Abwägung der widerstreitenden Interessen an (BVerwG, Beschl. v. 29.4.1974 - IV C 21.74 - DVBl. 1974 S. 566; Senatsbeschl. v. 11.4.2002 - 8 ME 66/02 -; Senatsbeschl. v. 26.9.2002 - 8 MA 18/02 -; Finkelnburg/Jank, Rn. 864).

Ein Fall der letztgenannten Art liegt hier vor, weil sich die Anordnung des Ruhens der Approbation bei der in diesem Verfahren nur möglichen summarischen Prüfung weder als offensichtlich rechtmäßig noch als offensichtlich rechtswidrig erweist.

Nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 der Bundesärzteordnung – BÄO – kann das Ruhen der Approbation angeordnet werden, wenn gegen den Arzt wegen des Verdachts einer Straftat, aus der sich seine Unwürdigkeit oder Unzuverlässigkeit zur Ausübung des ärztlichen Berufs ergeben kann, ein Strafverfahren eingeleitet ist. Die Antragsgegnerin ist daher befugt, schon nach der Einleitung eines Strafverfahrens zum Schutz der Patienten und der Allgemeinheit nach pflichtgemäßem Ermessen einzuschreiten. Dabei muss sie allerdings beachten, dass die Anordnung des Ruhens der Approbation nicht nur eine Beschränkung der Berufsausübung, sondern auch einen Eingriff in die durch Art. 12 Abs. 1 GG gewährleistete Freiheit der Berufswahl darstellt, der nur zum Schutz wichtiger Rechtsgüter und unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen darf (vgl. dazu BVerfG, Beschl. v. 2.3.1977 - 1 BvR 124/76 - BVerfGE 44, 105 (117); BVerwG, Urt. v. 16.9.1997 - 3 C 12.95 - BVerwGE 105, 114 (117); Senatsbeschl. v. 29.8.2002 - 8 LA 92/02 -). Daher darf das Ruhen der Approbation nur dann angeordnet werden, wenn eine Verurteilung des Arztes wegen der ihm zur Last gelegten Straftat hinreichend wahrscheinlich ist (vgl. Senatsbeschl. v. 29.8.2002, a.a.O.; vgl. dazu auch OVG Münster, Beschl. v. 21.5.1996 - 13 B 350/96 - NJW 1997 S. 2470; Beschl. v. 6.6.1988 - 5 B 309/88 - MedR 1989 S. 44, VGH Mannheim, Beschl. v. 19.7.1991 - 9 S 1227/91 - NJW 1991 S. 2366).

Im vorliegenden Fall ist bei summarischer Prüfung jedoch nicht offensichtlich, dass diese Voraussetzung für die Anordnung des Ruhens der Approbation vorliegt.

Die Staatsanwaltschaft hat sich bei der Anklageerhebung auf die Angaben der Patientin zum Tatgeschehen und das fachpsychiatrische Gutachten von Prof. Dr. med. C. und Dr. med. D. gestützt. Nach diesem Gutachten sind die Angaben der Patientin grundsätzlich glaubhaft. Die Gutachter haben die Patientin als zurückhaltende, stille und eher schüchterne Frau, die sich differenziert, klar und bestimmt zu ihrer aktuellen Lebenssituation und den betreffenden Ereignissen äußern kann, beschrieben und betont, dass bei ihr keine Tendenzen, die darauf hinwiesen, dass sie den Antragsteller in einem ungünstigen Licht habe darstellen wollen, erkennbar gewesen seien. Außerdem haben die Gutachter festgestellt, dass aus fachpsychiatrischer Sicht als sicher angenommen werden müsse, dass der Antragsteller “den Trancezustand der Patientin in eine nicht therapeutisch sinnvolle Richtung lenkte, die es ihm möglicherweise auch ermöglichte, diesen zur Befriedigung eigener Bedürfnisse zu nutzen“.

Diesen eingehend begründeten Feststellungen stehen allerdings die Aussagen des Gutachtens entgegen, das Dr. med. E. im Auftrag des Antragstellers am 20. Mai 2003 erstellt hat. Denn Dr. med. E. hält es aufgrund des Literaturstudiums, der örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten und „vor allem des nach wie vor geltenden Paradigmas, dass unter Hypnose im Gegensatz zu weit verbreiteten Vorurteilen keine Überschreitungen der ethischen Grenzen möglich sind, für praktisch ausgeschlossen“, dass die dem Antragsteller vorgeworfene Straftat stattgefunden hat.

Außerdem wird das fachpsychiatrische Gutachten von Prof. Dr. med. C. und Dr. med. D. in der vom Antragsteller eingeholten gutachterlichen Stellungnahme von Prof. Dr. jur. F. vom 1. Juli 2003 als nicht methodengerecht bezeichnet. Prof. Dr. F. beanstandet nicht nur, dass die Gutachter denkbare und plausible alternative Verläufe nicht "durchgespielt" und beurteilt hätten, sondern auch, dass das Vorgehen der Gutachter nicht dem Standard der Glaubhaftigkeitsbegutachtung entsprochen habe.

Angesichts dieser Einwände gegen das fachpsychiatrische Gutachten von Prof. Dr. med. C. und Dr. med. D. ist eine weitere Aufklärung des Sachverhalts, gegebenenfalls auch die Einholung eines weiteren fachpsychiatrischen Gutachtens, erforderlich. Daher ist gegenwärtig bei summarischer Prüfung keineswegs offensichtlich, dass die Voraussetzungen für die Anordnung des Ruhens der Approbation des Antragstellers vorliegen.

Andererseits kann die Anordnung des Ruhens der Approbation nicht als offensichtlich rechtswidrig angesehen werden, da ein Tatverdacht zweifellos besteht. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht darauf hingewiesen, dass nicht erkennbar ist, weshalb die Patientin, die den Vorfall mehrfach detailliert und widerspruchsfrei geschildert hat, den Antragsteller grundlos mit falschen Anschuldigungen überzogen haben sollte. Außerdem haben Prof. Dr. med. C. und Dr. med. D. ihre Angaben als grundsätzlich glaubhaft bezeichnet. Darüber hinaus hat das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt, dass die dem Antragsteller vorgeworfenen Handlungen den Straftatbestand des § 174 c Abs. 2 StGB erfüllen würden. Daher würde sich aus dieser Straftat die Unwürdigkeit des Antragstellers zur Ausübung des ärztlichen Berufs ohne weiteres ergeben.

In dieser Situation hängt die Entscheidung über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ausschließlich von der Abwägung der widerstreitenden Interessen ab. Die Interessenabwägung führt hier dazu, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den angefochtenen Bescheid nur wiederherzustellen, soweit die Anordnung des Ruhens der Approbation die neurologische Tätigkeit des Antragstellers betrifft.

Würde es bei der sofortigen Vollziehung der Anordnung des Ruhens der Approbation bis zur endgültigen Entscheidung über ihre Rechtmäßigkeit verbleiben, müsste der Antragsteller nicht nur einen Eingriff in sein Recht auf freie Berufswahl, sondern auch nicht unwesentliche wirtschaftliche Nachteile hinnehmen. Da ein Arzt, dessen Approbation ruht, den ärztlichen Beruf nach § 6 Abs. 3 BÄO nicht ausüben darf, könnte der Antragsteller seine Praxis auf nicht absehbare Zeit nicht mehr betreiben. Die Antragsgegnerin könnte nach § 6 Abs. 4 BÄO zwar zulassen, dass die Praxis vorübergehend von einem anderen Arzt weitergeführt wird. Es ist aber fraglich, ob der Antragsteller einen qualifizierten Vertreter für einen vorübergehenden Zeitraum finden würde. Außerdem müsste er diesen Arzt bezahlen. Daher würden ihm wirtschaftliche Einbußen auch dann entstehen, wenn es möglich wäre, die Praxis vorübergehend von einem anderen Arzt weiterführen zu lassen.

Diesem Interesse des Antragstellers steht ein erhebliches öffentliches Interesse an dem Ruhen der Approbation bis zur endgültigen Klärung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides gegenüber. Hinzu kommt das Interesse potentieller Patienten, vor sexuellen Übergriffen während psychiatrischer oder psychotherapeutischer Behandlungen geschützt zu sein. Diese Interessen sind gewichtig, weil die betroffenen Rechtsgüter der körperlichen und seelischen Integrität sowie der sexuellen Selbstbestimmung von höchstem Rang sind. Außerdem benötigen psychisch Kranke, die sich in eine psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung begeben, absoluten Schutz, da sie in noch höherem Maße als andere Patienten auf die unbedingte Seriosität und Zuverlässigkeit der sie behandelnden Ärzte angewiesen sind.

Diese gewichtigen Interessen genießen den Vorrang vor den wirtschaftlichen und beruflichen Interessen des Antragstellers, solange gegen diesen ein Verdacht auf sexuellen Missbrauch unter Ausnutzung des psychotherapeutischen Behandlungsverhältnisses besteht. Das gilt umso mehr, als dieser Verdacht nicht nur durch die Aussage der Patientin, sondern auch durch ein ausführliches fachpsychiatrisches Gutachten, das die Angaben der Patientin als glaubhaft bezeichnet, gestützt wird und eine Wiederholungsgefahr nicht auszuschließen ist.

Dieser Vorrang besteht jedoch nur, soweit die Anordnung des Ruhens der Approbation die psychiatrische und psychotherapeutische Tätigkeit des Antragstellers betrifft. Denn der Antragsteller soll die ihm zur Last gelegte Straftat im Rahmen dieser Tätigkeit begangen haben, die wegen des großen Vertrauens, das psychisch kranke Patienten dem sie behandelnden Arzt regelmäßig entgegenbringen, und der Möglichkeiten, dieses Vertrauen auszunutzen, eine besonders hohe Integrität des Arztes verlangt. Außerdem bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller das Vertrauensverhältnis zu Patientinnen auch bei neurologischen Behandlungen verletzen könnte. Daher erscheint es gerechtfertigt, hinsichtlich des Fachgebietes der Neurologie die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs wiederherzustellen.

An dieser Entscheidung sieht sich der Senat nicht dadurch gehindert, dass die Approbation als unbeschränkte Erlaubnis zur Ausübung des ärztlichen Berufes grundsätzlich unteilbar ist (vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 16.9.1997, a.a.O.). Im vorliegenden Fall geht es nämlich nicht um die Beschränkung der Approbation, sondern um eine Entscheidung im Rahmen der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO, bei der das Gericht nach seinem Ermessen zu befinden und nach seinem Ermessen geeignete Anordnungen zu treffen hat (vgl. Nomos-Kommentar zur Verwaltungsgerichtsordnung, § 80 Rn. 170).