LG Göttingen, Urteil vom 13.01.2003 - 9 S 55/02
Fundstelle
openJur 2012, 39119
  • Rkr:
Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Northeim vom 8. August 2002 - 3 C 179/02 - wird auf ihre Kosten nach einem Berufungsstreitwert von 2.029,34 € zurückgewiesen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Wegen der erstinstanzlichen Feststellungen wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.

Die Beklagten wenden sich gegen das erstinstanzliche Urteil mit ihrer nach wie vor vertretenen Rechtsauffassung, nur mit einer Quote von 20 % zu haften. Sie machen geltend, der Zeuge Felde habe mit seinem Lkw trotz Überholverbotes überholt; insoweit falle ihm ein Verschulden zur Last. Hierzu behaupten die Beklagten, der Lkw des Zeugen Felde sei mit etwa 90 km/h nur unwesentlich schneller als der überholte Lkw mit 82 km/h gewesen. Auch sei der Zeuge Felde mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren. Demgegenüber sei ein Verschulden des Beklagten zu 1. nicht nachgewiesen.

Die Beklagten beantragen,

dass angefochtene Urteil abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen. 

Sie meint, ein schuldhafter Verstoß des Zeuge Felde, ihres Fahrers, gegen das Überholverbot gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 StVO sei nicht nachgewiesen. Jedenfalls aber stehe dem ein grob fahrlässiges Verhalten des Beklagten zu 1. gegenüber, dass ein Mitverursachungsbeitrag der Klägerin zurücktreten lasse.

Gründe

Die zulässige Berufung ist nicht begründet.

Die Beklagten haften der Klägerin gemäß §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG, 3 PfVG in vollem Umfang für die Schäden aus dem Verkehrsunfall vom 24.07.2000. Der ersatzfähige Schaden der Klägerin beträgt 2.356,84 €. Hierauf sind vorprozessual 327,31 € gezahlt worden, so dass ein ersatzfähiger Schaden von 2.029,53 € verbleibt. Das Amtsgericht hat der Klägerin 2.029,34 € zugesprochen, weshalb die Beklagte durch diese Entscheidung nicht beschwert sind. Die Klägerin ihrerseits hat keine Berufung eingelegt.

101. Die Kammer tritt der Beweiswürdigung des Amtsgerichts bei, das zu dem Ergebnis gelangt ist, der Lkw der Klägerin sei längst vollständig auf die Überholspur ausgeschert gewesen, als es zu dem Unfall kam. Es ist deshalb von einem Auffahrunfall auszugehen, nicht jedoch von einem Unfall in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Ausscheren des Lkw der Klägerin. In solchen Fällen spricht der Anscheinsbeweis für schuldhaftes Verhalten des Auffahrenden, denn die Umstände deuten typischer Weise daraufhin, dass der Auffahrende entweder zu schnell und/oder unaufmerksam gefahren ist (vgl. dazu die Nachweise bei Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 36. Auflage, § 4 StVO Rn. 18). Veranschaulicht sei dies durch folgendes Rechenwerk: Nach dem Vortrag der Beklagten betrug die Differenzgeschwindigkeit zwischen den beiden Lkw

8 km/h, also 2,22 m pro Sekunde. Der Zeuge Felde hatte den Überholvorgang fast abgeschlossen, als es zu dem Aufprall kam. Er hatte mithin eine Differenzstrecke von geschätzten 40 m zurückzulegen. Hierfür benötigte er mit der oben dargelegten Differenzgeschwindigkeit 18 Sekunde. In diesen 18 Sekunden legte der Beklagte zu 1. mit dem Pkw des Beklagten zu 2. bei einer Geschwindigkeit von 180 km/h 900 m zurück. Dass er angesichts dessen, mindestens unaufmerksam gefahren ist, liegt auf der Hand, weil er aus derart großer Entfernung den links fahrenden Lkw ohne weiteres hätte früher bemerken müssen; sofern seine Sicht durch eine Kurve beschränkt war, hat er gegen das Sichtfahrgebot aus § 3 Abs. 1 Satz 4 StVO verstoßen, dass in Kurven auch auf Autobahnen gilt (OLG Celle, VR 75, 264; Hentschel § 18 StVO Rn. 19).

2. Grundsätzlich haftet der Auffahrende zu 100 % für die Unfallfolgen (vgl. dazu die Nachweise bei Grüneberg, Haftungsquoten bei Verkehrsunfällen, 6. Auflage Rn. 135).

Hierbei ist zu Lasten der Beklagten von einer durch schuldhaftes Verhalten beträchtlich erhöhten Betriebsgefahr des Fahrzeugs des Beklagten zu 2. auszugehen, wobei dessen nach absoluten Werten mit 180 km/h sehr hohe Geschwindigkeit noch an als die Betriebsgefahr erhöhender Faktor hinzukommt (vgl. dazu BGH NJW 1992, 1684). Der Beklagte zu 1. musste auch jederzeit damit rechnen, dass sich ein 90 km/h fahrender Lkw auf der Überholspur befinden werde, da dies auf Bundesautobahnen zum Einen grundsätzlich zum Zwecke des Überholens erlaubt ist und zum Anderen auch alltäglich vorkommt.

14Dem steht auf Seiten der Klägerin lediglich die Betriebsgefahr ihres Fahrzeuges gegenüber. Von einem für die Klägerin unabwendbaren Ereignis (§ 7 Abs. 2 StVG) kann nicht ausgegangen werden, weil ein Idealfahrer bei einer möglicherweise in Betracht kommenden Differenzgeschwindigkeit von lediglich 8 km/h nicht überholt hätte. Andererseits aber ist nicht von einem durch schuldhaftes Verhalten des Zeuge Felde gesteigerter Betriebsgefahr des Lkw der Klägerin auszugehen. Hierbei spielt der Umstand keine Rolle, dass der Lkw mit 90 km/h die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten hatte. Denn das Verbot, schneller als 80 km/h zu fahren, dient nicht dem Schutz des Auffahrenden. Ob der Zeuge Felde einem Überholverbot gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 StVO unterlag, kann dahinstehen (vgl. dazu BGH VRS 30, 349; VM 59, 14; OLG Frankfurt Versicherungsrecht 1994, 700; OLG Stuttgart DAR 1962, 190; OLG Braunschweig VRS 21, 461). Dahinstehen kann auch, ob auf Grund der Aussage des Zeugen B. die von den Beklagten behauptete Differenzgeschwindigkeit überhaupt bewiesen ist. Denn die Kammer folgt der Rechtsprechung des Bayerischen Obersten Landesgerichtes (NJW 1961, 1078), wonach das Überholverbot gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 StVO nur die Flüssigkeit des Verkehrs auf der Überholspur schützen will, nicht hingegen dem Verhindern von Auffahrunfällen dient. Dem steht die Rechtsprechung des BGH (Versicherungsrecht 1968, 578) nicht im Wege, weil sich dieses mit einem anderen Fall befasst, nämlich einem durch Verkehrszeichen gemäß § 5 Abs. 3 Nr. 5 StVO angeordneten Überholverbot.

Zwar hat zu dem Unfallgeschehen die Betriebsgefahr des Lkw der Klägerin beigetragen (vgl. dazu BGH NZW 1971, 1063, 1064). Diese wird aber durch den Verursachungsbeitrag des Beklagten zu 2. völlig zurückgedrängt, weil die Betriebsgefahr des Fahrzeuges des Beklagten zu 2. durch schuldhaftes Verhalten des Beklagten zu 1. und durch eine besonders hohe Geschwindigkeit beträchtlich erhöht war.

3. Der Klägerin ist ein ersatzfähiger Schaden von 2.356,84 € entstanden. Dieser setzt sich aus Reparaturkosten von 1.035,20 €, Ersatzteilbeschaffung für 192,30 und 286,27 €, aus Verdienstausfall in Höhe von 818,07 € und einer Kostenpauschale von 25,00 € zusammen.

Der der Höhe nach unstreitige Verdienstausfall in Höhe von 818,07 € stellt sich als ersatzfähiger Schaden dar (vgl. dazu Parlandt/Heinrichs, BGB, 61. Auflage, vor § 249 Rn. 24 a mit weiteren Nachweisen). Beim Ausfall eines gewerblich genutzten Kraftfahrzeuges bemißt sich der Schaden nämlich nach dem entgangenem Gewinn gemäß § 252 BGB. Er kann statt dessen auch nach den Vorhaltekosten eines Reservefahrzeuges berechnet werden. Dies kommt aber nicht in Betracht, sofern - wie hier - ein Reservefahrzeug nicht bereit gehalten worden ist (vgl. dazu Parlandt/Heinrichs, vor § 249 Rn. 24 a, 43).

18Der Arbeitsaufwand für die Beschaffung von Ersatzteilen in Höhe von 177,27 € ist hingegen nicht ersatzfähig, weil die Klägerin die Reparaturkosten auf der Grundlage des Kostenvoranschlages einer Fachwerkstatt abrechnet. In einer solchen Werkstatt wären keine Kosten für das Beschaffen von Teilen angefallen, weshalb sie auch die Klägerin nicht ersetzt verlangen kann.

Vorprozessual sind auf den sonach entstandenen Schaden von 2.356,84 € bereits 327,31 € gezahlt worden, so dass eine berechtigte Schadensersatzforderung von 2.029,53 € verbleibt.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 11, 711, 713 ZPO.

Die Zulassung der Revision war nicht veranlasst.

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