VG Minden, Beschluss vom 10.09.2009 - 9 L 474/09.A
Fundstelle
openJur 2009, 902
  • Rkr:
Öffentliches Recht
§ 123 VwGO; §§ 27a, 34a AsylVfG
Tenor

1. Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, Maßnahmen zum Vollzug der Verbringung des Antragstellers nach Griechenland vorläufig auszusetzen. Soweit bereits eine Abschiebungsanordnung erlassen und der zuständigen Ausländerbehörde übergeben wurde, wird der Antragsgegnerin aufgegeben, dieser mitzuteilen, dass eine Abschiebung des Antragstellers nach Griechenland vorläufig nicht durchgeführt werden darf.

2. Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt die Antragsgegnerin.

Gründe

Der Antrag ist zulässig (dazu 1.) und begründet (dazu 2.).

1. Der Antrag ist zulässig. Dem Antragsteller fehlt nicht das erforderliche Rechtsschutzinteresse (dazu a) und § 34a Abs. 2 AsylVfG steht der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht entgegen (dazu b)).

a) Dem Antragsteller fehlt für den Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO nicht das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis.

Dem steht nicht entgegen, dass ihm die Überstellung nach Griechenland bislang noch nicht konkret in Aussicht gestellt worden ist. Ihm ist gleichwohl nicht zuzumuten, zunächst die Mitteilung des Termins der Zurückschiebung oder gar die Zustellung eines Bescheides nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG abzuwarten. Der Antragserwiderung ist zu entnehmen, dass die Antragsgegnerin beabsichtigt, den Antragsteller gemäß der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestallten Asylantrag zuständig ist, vom 18. Februar 2003 (ABl. EU L 50 vom 25. Februar 2003, S. 1) - Dublin II-VO - nach Griechenland zu überstellen. Schließlich hat die Antragsgegnerin bisher nicht erklärt, von einer Zurückschiebung (derzeit) absehen zu wollen. Dem Antragsteller ist unter diesen Umständen nicht zuzumuten, zunächst die Zustellung eines entsprechenden Bescheides abzuwarten. Es ist zu erwarten, dass die Zustellung erst kurz vor der Abschiebung erfolgt, und sodann kaum Zeit bleibt, um Rechtsschutz nachzusuchen.

Vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 22. Dezember 2008 - 13 L 1993/08.A -, S. 2; VG Sigmaringen, Beschluss vom 25. November 2008 - A 2 K 2032/08 -, S. 4.

b) Der Zulässigkeit des Antrags steht auch § 34a Abs. 2 AsylVfG nicht entgegen. Hiernach darf die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat, der - wie hier - auf dem Wege des § 27a AsylVfG ermittelt worden ist, zwar nicht nach § 80 oder § 123 VwGO ausgesetzt werden. Die vorläufige Untersagung der Abschiebung nach § 123 VwGO kommt jedoch dann in Betracht, wenn eine die konkrete Schutzgewährung nach § 60 AufenthG in Zweifel ziehende Sachlage im für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gegeben ist.

Entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Drittstaatenregelung,

vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938, 2315/93 -, BVerfGE 94, 49 (113),

ist die Vorschrift des § 34a AsylVfG auch im Hinblick auf die Fälle des § 27a AsylVfG verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass sie entgegen ihrem Wortlaut die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes im Zusammenhang mit geplanten Abschiebungen in den sicheren Drittstaat, namentlich auf der Grundlage der Dublin II-VO, nicht generell verbietet, sondern derartiger Rechtsschutz in Ausnahmefällen nach den allgemeinen Regeln möglich bleibt. Eine Prüfung, ob der Zurückweisung in den Drittstaat oder in den nach europäischem Recht oder Völkerrecht für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat ausnahmsweise Hinderungsgründe entgegenstehen, kann der Ausländer danach dann erreichen, wenn es sich auf Grund bestimmter Tatsachen aufdrängt, dass er von einem der im normativen Vergewisserungskonzept des Art. 16a Abs. 2 GG und der §§ 26a, 27a, 34a AsylVfG nicht aufgefangenen Sonderfälle betroffen ist. Zwar sind an die Darlegung eines solchen Sonderfalles strenge Anforderungen zu stellen, doch ist ein Antrag nach § 123 VwGO in diesen Fällen auch in Ansehung von § 34a AsylVfG nicht generell unzulässig.

Vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938, 2315/93 -, BVerfGE 94, 49 (102), und Beschluss vom 08. September 2009 - 2 BvQ 56/09 -, S. 3 f.

2. Der Antrag ist begründet.

Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden.

So liegt es hier.

Unter Berücksichtigung des umfangreichen Vorbringens des Antragstellers, der bisherigen Rechtsprechung zur Überstellung von Asylbewerbern nach Griechenland auf der Grundlage der Dublin II-VO,

vgl. eine Überstellung nach Griechenland (vorläufig) ablehnend: BVerfG, Beschluss vom 08. September 2009 - 2 BvQ 56/09 -, S. 1 ff. (§ 32 Abs. 1 BVerfGG); EGMR (II. Sektion), Entscheidung vom 11. März 2009 - 12922/09 (Awdesh ./. Belgien) - (R. 39); VG Minden, Beschluss vom 31. August 2009 - 9 L 453/09.A, S. 1 ff.; VG Düsseldorf, Beschlüsse vom 28. Juli 2009 - 18 L 1084/09.A, S. 3 ff., und vom 22. Dezember 2008 - 13 L 1993/08.A -, S. 2 f.; VG Frankfurt, Urteil vom 28. Juli 2009 - 7 K 4376/07.F.A (3), S. 9; VG Würzburg, Urteil vom 28. April 2009 - W 6 K 08.30170 -, juris; VG Gießen, Beschluss vom 22. April 2009 - 1 L 775/09.GI.A -, juris Rn. 17 f.; VG Berlin, Beschluss vom 27. Februar 2009 - VG 34 L 57.09.A -, S. 2; VG Hamburg, Beschluss vom 04. Februar 2009 - 8 AE 26/09 -, S. 4; VG Sigmaringen, Beschluss vom 25. November 2008 -, A 2 K 2032/08 -, S. 4 ff.; VG Stuttgart, Beschluss vom 16. Oktober 2008 - A 6 K 3489/08 -, S. 2; a. A. EGMR (IV. Sektion), Entscheidung vom 02. Dezember 2008 - 32733/08 (K. R. S. / Vereinigtes Königreich) -, NVwZ 2009, 965 ff.; OVG NRW, Beschluss vom 31. August 2009 - 9 B 1198/09.A -, 1 ff.; VG Minden, Urteile vom 02. Juli 2009 - 1 K 514/09.A -, S. 7 ff., und vom 18. Mai 2009 - 10 K 3066/08.A -, S. 7 f.; VG Berlin, Beschluss vom 28. Mai 2009 - 33 L 113.09 A, juris; VG Ansbach, Urteil vom 16. April 2009 - AN 3 K 09.30012 -, S. 4 f.; VG Frankfurt, Urteil vom 10. März 2009 - 12 K 217/08.F.A (1), S. 4 f.; VG Bremen, Beschluss vom 03. März 2009 - 5 V 251/09.A; VG Münster, Beschluss vom 04. März 2009 - 9 L 77/09.A -, NRWE Rn. 23 ff.; VG Cottbus, Urteil vom 20. Februar 2009 - 7 K 848/08.A -, juris Rn. 22; VG Würzburg, Beschluss vom 10. November 2008 - W 4 E 08.30145 -, S. 9 ff.; VG Düsseldorf, Beschluss vom 24. Oktober 2008 - 16 L 1654/08.A -, NRWE Rn. 15 ff.,

sowie den Auskünften zur Lage von Asylbewerbern in Griechenland,

vgl. Schneider/Schmidt, The situation of persons returned by Austria to Greece under the Dublin Regulation from 17th August 2009, S. 1ff.; Human Rights Watch, Griechenland: Abschiebung und Verhaftung von Migranten vom 27. Juli 2009; UNHCR, Pressemeldung "Kein UNHCR-Beteiligung an neuem griechischen Asylverfahren" vom 17. Juli 2009 (in deutscher Übersetzung vom 23. Juli 2009); Auswärtiges Amt, Auskunft vom 14. Juli 2009 gegenüber VG Stuttgart, S. 1 ff.; CPT, Report to the Goverment of Greece on the visit to Greece from 30th June 2009, 7 ff.; Pro Asyl, Stellungnahme vom 19. Februar 2009 zur aktuellen Situation von Asylsuchenden in Griechenland, S. 1 ff.; UNHCR, Stellungnahme gegenüber Rechtsanwalt Freckmann vom 05. Februar 2009, S. 1 ff.; Hammarberg, Bericht vom 04. Februar 2009 - CommDH (2009)6 -, S. 10 f.; UNHCR, Ergänzende Informationen von UNHCR zur Situation des Asylverfahrens in Griechenland vom 01. Dezember 2008, S. 1 f.; Pro Asyl, The situation in Greece is out of control, Recherche vom 20. bis 28. Oktober 2008, S. 7; UNHCR, Positionspapier vom 15. April 2008 zur Überstellung von Asylsuchenden nach Griechenland nach der "Dublin-II-Verordnung", S. 3 f.; siehe ferner: EGMR (I. Sektion), Entscheidung vom 11. Juni 2009 - 53541/07 (Affaire S. D. ./. Griechenland) -,

ist im Hauptsacheverfahren zu prüfen, ob und gegebenenfalls welche Vorgaben das Grundgesetz für die fachgerichtliche Prüfung der Grenzen des Konzepts der normativen Vergewisserung,

vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938, 2315/93 -, BVerfGE 94, 49 (99 f.),

trifft, wenn eine Abschiebung in einen nach der Dublin II-VO zuständigen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften - hier Griechenland - Verfahrensgegenstand ist, und ob etwaige Vorgaben einer Überstellung hier nach Griechenland entgegenstehen.

Vgl. zu dieser Prüfung im Rahmen der Verfassungsbeschwerde mit Blick auf § 34a Abs. 2 AsylVfG: BVerfG, Beschluss vom 08. September 2009 - 2 BvQ 56/09 -, S. 3.

Die Erfolgsaussichten eines diese Prüfung umfassenden Hauptsacheverfahrens sind weder offensichtlich zu verneinen, noch zu bejahen. Denn die Prüfung erfordert die Beantwortung tatsächlich und rechtlich komplexer Fragen, die im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nicht möglich ist.

Zur Problematik der Bestimmung sicherer Drittstaaten: BVerfG, Beschluss vom 08. September 2009 - 2 BvQ 56/09 -, S. 3; Lübbe-Wolff, Das Asylgrundrecht nach den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Mai 1996 - DVBl. 1996, 825 ff.; Weinzierl (Deutsches Institut für Menschenrechte), Der Asykompromiss 1993 auf dem Prüfstand, 2009, S. 1 ff.

Bliebe dem Antragsteller der begehrte Erlass der einstweiligen Anordnung versagt, obsiegte er aber in der Hauptsache, könnten möglicherweise bereits eingetretene Rechtsbeeinträchtigungen nicht mehr verhindert oder rückgängig gemacht werden. Bereits die Erreichbarkeit des Antragstellers in Griechenland für die Durchführung des Hauptsacheverfahrens wäre nicht sichergestellt, sollte, was ernst zu nehmende Quellen stützen, ihm in Griechenland eine Registrierung faktisch unmöglich sein und ihm die Obdachlosigkeit drohen. Die Nachteile, die entstünden, wenn die einstweilige Anordnung erginge, dem Antragsteller der Erfolg in der Hauptsache aber versagt bliebe, wiegen dagegen weniger schwer. Insbesondere widerspricht die Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz im Überstellungsverfahren nicht gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland. Eine gemeinschaftsrechtliche Pflicht zum Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes bei Überstellungen nach der Dublin II-VO besteht nicht. Vielmehr sieht das Gemeinschaftsrecht die Möglichkeit der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen Überstellungen an den zuständigen Mitgliedstaat nach deren Art. 19 Abs. 2 Satz 4 und Art. 20 Abs. 1 Buchst. e Satz 4 Dublin II-VO selbst vor.

BVerfG, Beschluss vom 08. September 2009 - 2 BvQ 56/09 -, S. 3 f.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i. V. m. § 83b AsylVfG.

Der Beschluss ist gemäß § 80 AsylVfG unanfechtbar.

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