LG Hamburg, Urteil vom 26.06.2009 - 324 O 586/08
Fundstelle
openJur 2009, 766
  • Rkr:
Tenor

I. Die Beklagte wird verurteilt, es bei Vermeidung eines vom Gericht für jeden Fall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungsgeldes und für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, einer Ordnungshaft oder einer Ordnungshaft bis zu sechs Monaten (Ordnungsgeld im Einzelfall höchstens € 250.000,00, Ordnungshaft insgesamt höchstens zwei Jahre),

zu unterlassen,

über den Kläger im Zusammenhang mit dem Mord an W. S. unter voller Namensnennung zu berichten.

II. Die Kosten des Verfahrens fallen der Beklagten zur Last.

III. Das Urteil ist hinsichtlich Ziffer I. gegen Sicherheitsleistung in Höhe von € 10.000,00 und hinsichtlich Ziffer II. gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

und beschließt: Der Streitwert wird auf € 10.000,00 festgesetzt.

Tatbestand

Der Kläger wurde 1993 wegen Mordes an dem Schauspieler W. S. zu lebenslanger Haft verurteilt und im Januar 2008 aus der Haft entlassen. 2004 wandte sich der Kläger im Zusammenhang mit dem von ihm betriebenen Wiederaufnahmeverfahren an den Journalisten H. von der „S.“ und forderte ihn zu weiterer Berichterstattung auf (vgl. Anlagenkonvolut B 5). Im April 2005 unterrichtete der Strafverteidiger des Klägers, der Zeuge Professor W., unter namentlicher Nennung des Klägers die Öffentlichkeit mit einer Presseerklärung über das Wiederaufnahmeverfahren (Anlage B 2). Der Zeuge W. veröffentlichte diese Presseerklärung wie auch die den Kläger namentlich benennenden Folgeberichterstattungen bis Juni 2006 auf seiner Internetseite (Anlagenkonvolut B 3).

Die Beklagte berichtet auf den von ihr verantworteten Online-Seiten www. k..de unter der Überschrift „S.-Mord: Gericht prüft Wiederaufnahme des Verfahrens“ unter voller Namensnennung über den Kläger als Mörder. In dem Beitrag heißt es unter anderem:

„(...) will die Strafkammer am Landgericht Augsburg in den nächsten 14 Tagen entscheiden, ob das Verfahren gegen die verurteilten Mörder W. W. und M. L. noch einmal aufgerollt wird. (...)L. und sein Halbbruder W. waren im Mai 1993 wegen Mordes an S. zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt worden.“

Es handelt sich um einen Beitrag, der erstmals im April 2005 veröffentlicht worden war. Die Beklagte hat ihn für die aktuell abrufbare Veröffentlichung weder aktualisiert noch im tagesaktuellen Angebot Hyperlinks auf ihn gesetzt. Zwischen der Überschrift und dem Fließtext befindet sich der Einschub „ERSTELLT 12.04.05, 08:40h“. Wegen der weiteren Einzelheiten der Berichterstattung wird auf den als Anlage K 1 vorgelegten Ausdruck Bezug genommen. Im Juli 2008 wurde der Beitrag nur zweimal und in den Monaten Dezember 2008 und Januar 2009 gar nicht abgerufen.

Das Rechtsanwaltsschreiben vom 4. Juli 2008, mit dem der Kläger die Abgabe einer Unterlassungsverpflichtungserklärung verlangte (Anlage K 2), erwiderte die Beklagte mit dem ablehnenden Schreiben vom 11. Juli 2008 (Anlage K 3).

Der Kläger meint, die identifizierende Berichterstattung verletze ihn in seinem Persönlichkeitsrecht, da nunmehr kein so starkes Informationsbedürfnis der Allgemeinheit mehr bestehe und seine Wiedereingliederung unmöglich wäre, wenn die Presse ihn auf Jahrzehnte hinaus öffentlich als Mörder brandmarken dürfe.

Der Kläger beantragt,

der Beklagten bei Vermeidung eines in jedem Falle der Zuwiderhandlung fälligen Ordnungsgeldes bis zum Betrag von € 250.000 ersatzweise Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, zu vollstrecken an ihren Geschäftsführern, zu untersagen,

über den Kläger im Zusammenhang mit dem Mord an W. S. unter voller Namensnennung zu berichten.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte beruft sich auf das so genannte Archivprivileg, weil der streitgegenständliche Beitrag damals (tagesaktuell im Zusammenhang mit dem Wiederaufnahmeverfahren) rechtmäßig verbreitet worden sei und weil er als Archivbeitrag erkennbar gekennzeichnet sei. Die Breitenwirkung eines im Online-Archiv „endgelagerten“ Beitrags sei äußerst gering, zumal die Verfügbarkeit des Archivbeitrages die aktive und zielgerichtete Suche des Nutzers erfordere (vgl. Anlage B 7). Die nachträgliche Bereinigung von Online-Archiven verfälsche die historische Abbildung und verletze damit die grundrechtlich geschützte Informationsfreiheit.

Unter Bezugnahme auf eine schriftliche Zeugenaussage des damaligen Strafverteidigers des Klägers, des Zeugen W., aus dem ähnlich gelagerten Rechtsstreit der Kammer zum Az. 324 O 764/06 (Anlage B 4) trägt die Beklagte weiter vor, dass dem Kläger das öffentlichkeitsbezogene Auftreten seines Verteidigers zuzurechnen sei. Mit der Mandatierung habe der Kläger sein generelles Einverständnis mit den mandatsbezogenen Handlungen erklärt; die Namensnennung habe auch keine Überschreitung des im Innenverhältnis Zulässigen dargestellt.

Die Kammer hat die schriftliche Aussage des Zeugen Professor W. vom 19. Mai 2008 aus dem Rechtsstreit zum Az. 324 O 764/06 zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht. Wegen des weiteren Parteivortrags wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlungen vom 29. Mai 2009 und auf die zur Akte gereichten Schriftsätze und Anlagen Bezug genommen.

Gründe

I. Die zulässige Klage ist begründet. Dem Kläger steht der geltend gemachte Unterlassungsanspruch aus §§ 823 Abs. 1, 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB analog in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG zu, denn die angegriffene Berichterstattung verletzt bei fortbestehender Wiederholungsgefahr sein allgemeines Persönlichkeitsrecht.

Die Kammer hat hierzu in einem Urteil vom 23. März 2007 (Az.: 324 O 783/06) zu einem anderen, in verschiedenen Aspekten ähnlich gelagerten Sachverhalt folgendes ausgeführt:

„1. Die angegriffenen Artikel verletzen das Persönlichkeitsrecht des Klägers. Die Berichterstattung bei voller Namensnennung berührt den Schutzbereich seiner Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Menschenwürde sichern jedem Einzelnen einen autonomen Bereich privater Lebensgestaltung, in dem er seine Individualität entwickeln und wahren kann. Hierzu gehört auch das Recht, in diesem Bereich "für sich zu sein", "sich selber zu gehören" (so schon Arndt, Bespr. v. BGH, NJW 1966, S. 2353, in NJW 1967, S. 1845 ff., 1846) und ein Eindringen oder einen Einblick durch andere auszuschließen (BVerfG, Urt. v. 5. 6. 1973, BVerfGE 35, S. 202 ff., 233 ff. – Lebach I, m.w.N.). Es umfasst damit das Verfügungsrecht über Darstellungen der eigenen Person (BVerfG aaO. – Lebach I), das auch dann beeinträchtigt ist, wenn – und sei es wahrheitsgemäß – öffentlich darüber berichtet wird, dass der Betroffene in der Vergangenheit eine Straftat begangen hat. Eine Beeinträchtigung liegt insbesondere in Darstellungen, die die Resozialisierung, mithin die Wiedereingliederung von Straftätern in die Gesellschaft nach Verbüßung der Strafe wesentlich zu erschweren drohen (vgl. BVerfG aaO. – Lebach I; BVerfG, Beschl. v. 25. 11. 1999, NJW 2000, S. 1859 ff., 1860 f. – Lebach II). Gerade bei einer Berichterstattung unter voller Namensnennung, wie sie die Beklagte vorgenommen hat, liegt diese Gefahr nahe.

Die Beklagte hat den Kläger durch die angegriffenen Artikel in Bezug zu der Tat gesetzt, wegen der er verurteilt worden ist; dies erfolgte zudem öffentlich. Unstreitig hat die Beklagte die in Rede stehenden Artikel, in denen er als Täter des Mordes an ...namentlich genannt wird, in ihrem Online-Archiv in der Weise zum Abruf vorgehalten, dass Nutzer diese lesen konnten. Bei einer derartigen „Archivierung“ handelt es gerade nicht um ein lediglich internes Archiv der Beklagten, denn diese Artikel waren für jedermann über das Internet öffentlich zugänglich. Hierdurch wurde die Täterschaft des Klägers für die Öffentlichkeit ständig aktualisiert, indem die Artikel jederzeit abrufbar waren.

Für die Beklagte streitet zwar vorliegend die Freiheit der Meinungsäußerung aus Art. 5 Abs. 1 GG. Dieses Grundrecht ist schlechthin konstituierend für die freiheitlich-demokratische Grundordnung (BVerfG aaO. – Lebach I, m.w.N.). Unter Berücksichtigung der besonderen Umstände dieses Einzelfalles hat das Interesse der Öffentlichkeit, etwas über die Person des Klägers zu erfahren, indessen hinter seinem Individualinteresse, mit seiner Tat „in Ruhe gelassen“ zu werden und so eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu ermöglichen (a.), im Rahmen der erforderlichen Abwägung (b.) zurückzutreten.

a. Die angegriffene Berichterstattung gefährdet die Resozialisierung des Klägers, weil sie ihn mit seiner Tat erneut an das Licht der Öffentlichkeit zerrt und sich so bereits in der Haftsituation schädliche Wirkungen ergeben können, die eine spätere Wiedereingliederung erschweren. (...) Gemäß § 2 des Strafvollzugsgesetzes (StVollzG) dient der Vollzug der Freiheitsstrafe ausschließlich der Resozialisierung und dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten (§ 2 Satz 1, 2 StVollzG). Schädlichen Folgen des Freiheitsentzugs ist entgegenzuwirken (§ 3 Abs. 2 StVollzG).

aa. Das allgemeine Vollzugsziel der Resozialisierung gilt auch für die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Für den ... zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Kläger ergibt sich ein Resozialisierungsinteresse aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 GG, denn auch der verurteilte Mörder muss nach deutschem Recht grundsätzlich die Chance haben, nach Verbüßung einer gewissen Strafzeit – in der Regel nach Verbüßung des gesetzlich angeordneten Mindestmaßes von 15 Jahren, § 57a Abs. 1 StGB – wieder in die Freiheit zu gelangen; bei diesem Grundsatz handelt es sich mithin um ein Gebot mit Verfassungsrang (BVerfG, Beschl. v. 3. 6. 1992, NJW 1992, S. 2947 ff., 2948 – Lebenslange Freiheitsstrafe). Schon nach systematischer Betrachtung des Strafvollzugsgesetzes – und des in § 2 normierten Vollzugszieles für die Freiheitsentziehung – bezieht dieses auch die lebenslange Freiheitsstrafe mit ein. Aber auch nach dem Sinn und Zweck der Vorschriften wirkt sich das im Strafvollzugsgesetz gesicherte Resozialisierungsziel für diese Täter aus. Es wird so sichergestellt, dass sie bei einer späteren Entlassung noch lebenstüchtig und wieder eingliederungsfähig sind (BVerfG aaO. – Lebenslange Freiheitsstrafe). Die Vollzugsanstalten sind so auch bei den zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Gefangenen verpflichtet, auf deren Resozialisierung hinzuwirken und schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzugs und damit auch und vor allem deformierenden Persönlichkeitsveränderungen entgegenzuwirken (BVerfG aaO. – Lebenslange Freiheitsstrafe, m.w.N.). Der verurteilte Straftäter muss die Chance erhalten, sich nach Verbüßung seiner Strafe wieder in die Gemeinschaft einzuordnen (BVerfG aaO. – Lebach I). Folgerichtig steht auch dem zu lebenslanger Haft verurteilten Mörder ein Anspruch auf Resozialisierung zu, der stets aktuell ist, mag für den Verurteilten auch erst nach langer Strafverbüßung die Aussicht bestehen, sich auf das Leben in Freiheit einrichten zu dürfen (vgl. BVerfG aaO. – Lebenslange Freiheitsstrafe).
(...)
cc. Auch ohne eine relative zeitliche Nähe zur Haftentlassung können die möglichen Folgen eines Berichts über die Straftat eines Verurteilten für sein Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gravierend sein, indem sie zu Stigmatisierung, sozialer Isolierung und einer darauf beruhenden grundlegenden Verunsicherung führen (dazu vgl. BVerfG aaO. – Lebach II). Mit dem Anspruch des Betroffenen, mit seiner Tat „in Ruhe gelassen“ zu werden, gewinnt es mit zeitlicher Distanz zur Straftat und zum Strafverfahren zunehmende Bedeutung, vor einer Reaktualisierung seiner Verfehlung verschont zu bleiben (vgl. jüngst BVerfG, Beschl v. 13. 6. 2006, NJW 2006, S. 2835 f. m.w.N.). Die Grenze zwischen dem Zeitraum, in dem eine den Täter nennende Berichterstattung als aktuelle Berichterstattung über ein Ereignis von öffentlichem Interesse grundsätzlich zulässig ist, und dem Zeitraum, zu dem wegen Zurücktretens des berechtigten öffentlichen Interesses eine spätere Darstellung oder Erörterung unzulässig geworden ist, lässt sich nicht allgemein, jedenfalls nicht mit einer nach Monaten und Jahren für alle Fälle fest umrissenen Frist fixieren (so schon BVerfG aaO. – Lebach I; nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls kann bereits nach einem Zeitraum von nur sechs Monaten nach Rechtskraft des Strafurteils die Namensnennung unzulässig geworden sein, s. etwa BGH, Urt. v. 9. 6. 1965, NJW 1965, S. 2148 ff. – Spielgefährtin I). Der maßgebende Zeitpunkt für eine die Resozialisierung gefährdende, unzulässige Berichterstattung unter Namensnennung ist aber jedenfalls erheblich früher anzusetzen, als auf das Ende der Strafverbüßung. § 2 StVollzG gebietet es, vom Beginn der Strafzeit an auf das Vollzugsziel der Resozialisierung hinzuarbeiten. Dem Gefangenen sollen Fähigkeit und Willen zu verantwortlicher Lebensführung vermittelt werden. Er soll es lernen, sich unter den Bedingungen einer freien Gesellschaft ohne Rechtsbruch zu behaupten, ihre Chancen wahrzunehmen und ihre Risiken zu bestehen (BVerfG aaO. – Lebach I). Eine Gefährdung der Resozialisierung ist durch eine Berichterstattung auch dann zu befürchten, wenn die Tat bereits lange Zeit zurückliegt. Gerade ein Mord ist derart persönlichkeitsbestimmend, dass der Mörder mit der Tat praktisch lebenslang identifiziert wird (BVerfG aaO. – Lebach II). Bezogen auf den Kläger bedeutet dies, dass in der besonderen Situation der Haft, die seine derzeitige Umwelt darstellt, sich bereits zum jetzigen Zeitpunkt schädliche Wirkungen für ihn ergeben können. So ist es jedenfalls nicht a priori auszuschließen, dass sich der Kläger durch eine mediale Reaktualisierung aus Furcht vor Missachtung und Ablehnung isolieren wird. In einer Situation, die ohnehin von Isolation geprägt ist, kann ein innerer und äußerer Rückzug des Betroffenen – z.B. durch Einrichtung von Einzelfreistunde, Aufgabe einer Teilnahme an Gruppenveranstaltungen – dazu führen, dass die Resozialisierung scheitert. Das aber widerspräche den oben dargelegten Vollzugszielen, wonach auch ein Straftäter wie der Kläger ein Recht darauf haben soll, schon während seiner Haftzeit die Erfahrung machen zu können, dass ihn seine Umwelt vorurteilslos wieder aufnimmt.

b. Es besteht auch kein vorrangiges, die Interessen des Klägers überwiegendes Interesse der Öffentlichkeit an einer Aufrechterhaltung einer Berichterstattung über die nunmehr mehr als zehn Jahre zurückliegende Straftat bzw. die nahezu zehn Jahre zurückliegende Verurteilung unter Nennung des Namens des Klägers.

aa. Die Bereithaltung der streitgegenständlichen Artikel durch die Beklagte auf ihren Internetseiten begründet – wie ausgeführt – die Gefahr der ständigen Reaktualisierung der Persönlichkeitsrechtsverletzung des Klägers, die sich durch jeden Abruf der Berichterstattung erneut realisiert. Die Unzulässigkeit einer solchen Berichterstattung beschränkt die Beklagte in ihren Grundrechten aus Art. 5 Abs. 1 GG nur geringfügig. Denn die Tat selbst wird dadurch nicht dem Bereich der Gegenstände, über die öffentlich berichtet werden darf, entzogen. Eingeschränkt wird das Recht, über die spektakuläre Tat des Klägers zu berichten, nur dadurch, dass er den Lesern nicht durch Nennung seines Namens ohne weiteres erkennbar gemacht werden darf. Es ist nicht ersichtlich, inwieweit dadurch die Berichterstattungsfreiheit mehr als nur geringfügig begrenzt würde. Auf der anderen Seite ist nicht ersichtlich, weshalb es für den Kläger weniger gravierend sein soll, wenn dem Leser einer Veröffentlichung deutlich wird, dass diese bereits vor vielen Jahren erstmals veröffentlicht worden war; die stigmatisierende Wirkung, die mit einer Verknüpfung seines Namens mit seinen schrecklichen Taten einhergeht, wird durch alte Artikel genauso perpetuiert wie durch solche, die aktuell veröffentlicht wurden. Auch ist der Aufmerksamkeitswert für die Öffentlichkeit zwar zweifellos höher, wenn eine derartige Berichterstattung im aktuellen Teil einer Online-Veröffentlichung erfolgt, denn nur dieser Bereich wird vom Leser ähnlich einer Zeitung „durchgelesen“, während der Zugriff auf ältere Veröffentlichungen regelmäßig ein gezieltes Tätigwerden des Lesers – in der Regel durch Eingabe von Suchbegriffen – erfordert. Damit sind derartige Artikel aber nicht gänzlich aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwunden, denn durch die heute weit verbreitete Verwendung von Suchmaschinen sind Artikel, die seit Jahren im Internet stehen, in genau der gleichen Weise erreichbar, wie der Artikel vom Vortage, der soeben erst in den „Archivbereich“ verschoben wurde. Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass jeder Internetnutzer, der den Namen des Mordopfers ... in eine Suchmaschine eingibt, in Bruchteilen von Sekunden Artikel wie die streitgegenständlichen auffinden kann, die den Namen des Klägers mit dieser Tat verknüpfen. Mit anderen Worten: Zwar ist zutreffend, dass „archivierte“ Artikel in der Regel nicht „zufällig“ gelesen werden, die durch den Einsatz hocheffizienter Suchmaschinen ermöglichte einfache und blitzschnelle Auffindbarkeit befördert aber alle älteren Artikel gleichberechtigt auf eine Ebene der Wahrnehmbarkeit und Reichweite, die nur knapp unterhalb der einer Veröffentlichung im „aktuellen“ Teil einer Internetplattform liegt. Demnach stellt es für den Kläger keine Erleichterung dar, dass ihn betreffende Artikel „nur“ über Suchmaschinen auffindbar sind, sondern die Möglichkeit einer derartigen Auffindbarkeit begründet gerade ein gegenüber anderen Formen der Publikation erheblich intensiviertes und ganz eigenes Maß an perpetuierter Beeinträchtigung.

bb. Auch der von der Beklagten angeführte Grundgedanke eines „Archivprivilegs“ vermag zu keiner abweichenden Beurteilung zu führen, jedenfalls soweit es um so genannte „Online-Archive“ der vorliegend streitgegenständlichen Art geht.

(a) Es erscheint schon als zweifelhaft, ob es sich bei dem Bereich des Internetauftritts der Beklagten, an dem sich die beanstandete Veröffentlichung befand, um ein „Archiv“ handelt. Denn für den Internetnutzer handelt es sich bei diesem Bereich letztlich um nichts anderes als einen der Bereiche, unter denen Meldungen aufzufinden sind; der Unterschied zu den Meldungen anderer Bereiche ist lediglich der, dass es sich unter den hier vorgehaltenen Meldungen um solche älteren Datums handelt. Weshalb aber das schlichte Alter einer Meldung als solches ein taugliches Kriterium sein soll, um das Verbreiten der einen Meldung gegenüber dem einer anderen zu privilegieren, ist nicht einzusehen. Aber auch aus grundsätzlichen Erwägungen heraus, erscheint der Archivgedanke nicht als tragfähig:

(b) Auf ein Archivprivileg, das analog dem des § 53 Abs. 2 Nr. 2 UrhG gestaltet wäre, kann sich die Beklagte nicht mit Erfolg berufen. Insoweit kann es für die Abwägung der Interessen zwischen der von der Berichterstattung betroffenen Person und dem Verbreiter der Berichterstattung nicht darauf ankommen, ob letzterer der Inhaber eines ausschließlichen Nutzungsrechtes im Sinne des Urhebergesetzes an den betreffenden Artikeln ist. Gegen eine analoge Anwendung der urheberrechtlichen Archivregelung spricht zudem, dass für eine solche Privilegierung hier bereits deshalb kein Raum besteht, weil ein Zugriff auf das Archiv der Beklagten jedermann möglich ist. Die Regelung in § 53 Abs. 2 Nr. 2 UrhG, die den „Archivar“ von Ansprüchen des Urhebers freistellt, wenn zur Aufnahme in sein Archiv fremde Werkstücke vervielfältigt werden, findet nicht für jedes Archiv Anwendung. Nach § 53 Abs. 5 UrhG ist das Archivprivileg insbesondere auf solche Datenbanken beschränkt, die nicht mit elektronischen Mitteln zugänglich sind. Diese Ausnahmevorschrift kommt bereits dann nicht zum Tragen, wenn das Archiv auch nur von einer Mehrzahl von Unternehmensangehörigen genutzt werden kann (BGH, Urt. v. 10. 12. 1998, GRUR 1999, S. 325 ff., 327 m.w.N.). Erst recht findet sie keine Anwendung, wenn außenstehenden Dritten Zugriff auf das Archiv gewährt wird (BGH, Urt. v. 16. 1. 1997, GRUR 1997, S. 459 ff., 463 – CB-Infodatenbank I). Das hat seinen Grund darin, dass eine Multiplikatorfunktion mit der bezweckten Beschränkung auf bloße Bestandssicherung nicht zu vereinbaren ist, weshalb auch eine Ausdehnung des Anwendungsbereiches des § 53 Abs. 2 Nr. 2 UrhG nicht angängig ist (vgl. BGH, Urt. v. 10. 12. 1998, GRUR 1999, S. 325 ff., 327 m.w.N. – elektronische Pressearchive).

Diese für das Urheberrecht entwickelten Grundsätze sind es, die gerade dafür sprechen, dass es ein „Archivprivileg“ für in das Internet eingestellte ehemals aktuelle Meldungen nicht geben kann, sondern dass jedenfalls ein Medienunternehmen, das sein Archiv gerade durch Gewährung des Zugangs über das Internet auch für dritte Nutzer zugänglich macht, dafür Sorge zu tragen hat, dass Beiträge, deren Verbreitung nicht oder nicht mehr zulässig ist, gelöscht oder so archiviert werden, dass ihre weitere Verbreitung ausgeschlossen ist. Denn der technische Fortschritt, der die Speicherung und Zugänglichmachung von Daten in immer weiterem Umfang zulässt, darf nicht dazu führen, dass Persönlichkeitsrechtsverletzungen eher hinzunehmen sind (BGH, Urt. v. 16. 9. 1966, NJW 1966, S. 2353 ff., 2354; BVerfG, Beschl. v. 9. 10. 2002, NJW 2002, S. 3619 ff., 3621; s. auch BVerfG, Urt. v. 15. 12. 1983, BVerfGE 65, S. 1 ff. = NJW 1984, S. 419 ff., 421 f. – Volkszählung).

(c) Im Übrigen wird auch aus den gesetzlichen Regelungen über die Verwaltung von Archivgut deutlich, dass nach gesetzgeberischer Wertung zeitliche Schutzfristen für archivierte Beiträge zu beachten sind, die den Schutz der Persönlichkeitsrechte der von dem Archivgut betroffenen Personen dienen, und dass solche Schutzfristen geradezu zum Wesen des Archivrechts gehören. So darf etwa nach § 5 Abs. 2 BArchG Archivgut, das sich auf natürliche Personen bezieht, erst 30 Jahre nach dem Tode der betroffenen Person durch Dritte benutzt werden; ist das Todesjahr nicht oder nur mit unvertretbarem Aufwand festzustellen, endet die Schutzfrist erst 110 Jahre nach der Geburt des Betroffenen. Entsprechende Regelungen enthalten auch die Archivgesetze der Länder (s. z.B. § 5 des Hamburgischen Archivgesetzes v. 21. 1. 1991). Mit derartigen Schutzfristen wird ein angemessener Ausgleich zwischen den Interessen der von den Inhalten des zu archivierenden Schrift- oder Bildguts betroffenen Personen und der Notwendigkeit, kulturell bedeutsames Mediengut dauerhaft zu erhalten und der Öffentlichkeit zur Nutzung zur Verfügung zu stellen, geschaffen. Schon zuvor darf Archivgut genutzt werden, ggf. sind aber die von ihm betroffenen Personen unkenntlich zu machen (s. z.B. auch § 12 Abs. 4 und 5 Stasi-Unterlagen-Gesetz, § 30 BDSG). Auch dies zeigt, dass der Gesetzgeber es als durchaus zumutbar ansieht, wenn ggf. eine nur unter Anonymisierung (§ 3 Abs. 6 BDSG) der betreffenden Person erfolgende Verbreitung von Informationen zugelassen wird.

Einen allgemeinen Rechtsgedanken, wonach die Verbreitung archivierter Materialien gegenüber der von aktuellen Meldungen in weiterem Umfange generell zulässig wäre, solange die von den Inhalten des Materials betroffenen Personen noch am Leben sind, gibt es damit nicht.

c. Damit schuldet die Beklagte als Störerin Unterlassung. Das Eingreifen von Rechtsfertigungsgründen – etwa wegen eines überwiegenden Interesses der Öffentlichkeit an der Führung gerade des streitgegenständlichen Archivs – ist weder dargelegt noch ersichtlich. Wie ausgeführt, erfüllt die hier praktizierte schlichte öffentliche Bereithaltung älterer Veröffentlichungen bereits nicht die spezifischen Funktionen eines Archivs, das an dem grundsätzlich berechtigten Interesse ausgerichtet ist, publizistische Erzeugnisse „dem wissenschaftlich und kulturell Interessierten möglichst geschlossen zugänglich zu machen und künftigen Generationen einen umfassenden Eindruck vom geistigen Schaffen früherer Epochen zu vermitteln“ (BVerfG, B. v. 14. 7. 1981, NJW 1982, S. 633 ff., 634 – zu Pflichtexemplaren).“

Die Erwägungen aus dieser Entscheidung gelten für den hier zu entscheidenden Sachverhalt in noch stärkeren Maße, weil der Kläger im vorliegenden Fall – nachdem er über 14 Jahre Haft verbüßt hat – inzwischen auf Bewährung aus der Haft entlassen wurde. Verhältnismäßig kurze Zeit nach erfolgter Haftentlassung kommt dem Resozialisierungsgesichtspunkt im Rahmen der Interessenabwägung ein besonderes Gewicht zu. Angesichts des Umstandes, dass die Tat nunmehr 19 Jahre zurückliegt, hat dagegen das Interesse an weiterem Vorhalten der Berichterstattung unter voller Namensnennung des Klägers in einem „Online-Archiv“ hier (auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass es sich um einen spektakulären und die Öffentlichkeit damals besonders interessierenden Mordfall gehandelt hatte) kein derartiges Gewicht, dass es das hier besonders stark zu gewichtende Resozialisierungsinteresse des Klägers überwiegen würde.

Dass Meldungen im Internet häufig dauerhaft abrufbar gehalten werden und anhand ihres Datums als ältere Meldung erkennbar sind, rechtfertigt eine andere Sichtweise nicht. Denn gerade dann, wenn es um den Schutz der Anonymität eines Betroffenen geht, kann es keinen Unterschied machen, ob seine Identität in einer neuen oder einer älteren Meldung preisgegeben wird; entscheidend im Hinblick auf die Gewährleistung der Resozialisierung des Betroffenen kann es vielmehr nur sein, ob die seinen Namen enthaltende Meldung gegenwärtig verbreitet wird (vgl. HansOLG, Urteil vom 29. Juli 2008, Az. 7 U 30/08, dort S. 4, eine Berichterstattung über denselben Mordfall und den Bruder des Klägers betreffend).

Dass für den Abruf des Beitrags eine Vorkenntnis (Name des Klägers) und eine Mitwirkung des Nutzers (Eingabe in eine Suchmaske) erforderlich sind, ist unerheblich. Die Auffindbarkeit über seinen Namen muss den Betroffenen befürchten lassen, dass sein Name bei Bewerbung um eine Arbeitsstelle, eine Mietwohnung o. ä. von den Anbietern, aber auch von Personen wie Wohnungsnachbarn oder Arbeitskollegen in eine Suchmaschine eingegeben und seine Beteiligung an dem Tatgeschehen auf diese Weise Personen offenbart wird, von deren Verhalten ihm gegenüber der Erfolg seiner Resozialisierung in nicht unerheblichem Maße abhängt (vgl. HansOLG aaO S. 4). Jedenfalls über die Nutzung der Suchfunktion auf der Seite der Beklagten wird bei Eingabe des Namens des Klägers für den Nutzer die Verurteilung des Klägers im Mordfall S. offenbart. Vor dem Hintergrund dieser Erwägungen kann der im Vergleich zur tagesaktuellen Verbreitung am Erscheinungstag geringere Verbreitungsgrad nicht dazu führen, dass das Anonymitätsinteresse des Betroffenen zurückzustehen hat. Die geringere Verbreitungsintensität ist allein bei der Streitwertbemessung zu berücksichtigen (vgl. HansOLG aaO S. 4), wie dies im vorliegenden Fall auch erfolgt ist.

Auch steht der Gewährung von Anonymitätsschutz nicht entgegen, dass der Kläger die Wiederaufnahme des Verfahrens betrieben hat, da dies aus zeitlich begrenztem Anlass heraus erfolgt ist, der mit dem Abschluss des Wiederaufnahmeverfahrens im Jahr 2005 entfallen ist und zwischenzeitlich so viel Zeit vergangen ist, dass eine Fortwirkung zu seinen Lasten nicht angenommen werden kann (vgl. HansOLG aaO S. 4/5). Dies gilt in gleicher Weise für die Schreiben, die der Kläger im Jahre 2004 an einen Journalisten der „S.“ richtete. Hierzu hat das Hanseatische Oberlandesgericht in einem parallel gelagerten Rechtsstreit mit Beschluss vom 28. Februar 2007 (Az. 7 W 13/07) Folgendes ausgeführt:

„Die Schreiben, die der Antragsteller im Jahr 2004 an einen Journalisten der ‚S.’ richtete, können zur Rechtfertigung einer Berichterstattung der Antragsgegnerin jedenfalls im Jahr 2006 nicht mehr herangezogen werden. Zum einen bezogen sich die Schreiben auf eine konkrete Berichterstattung der ‚S.’ über die Bestrebungen des Antragstellers, eine Wiederaufnahme des Strafverfahrens zu erreichen, während sich der hier beanstandete Artikel mit der Tat, der Festnahme und der Verurteilung des Antragstellers befasst. Zum anderen haben das Resozialisierungsinteresse und der Anonymitätsschutz des Antragstellers im Jahr vor einer möglichen Haftentlassung deutlich an Gewicht gewonnen.“

Genauso wenig muss das Anonymitätsinteresse des Klägers deshalb zurücktreten, weil sich sein damaliger Strafverteidiger, der Zeuge Professor W., über eine Presseerklärung (Anlage B 2) und die Veröffentlichung von Zeitungsartikeln auf seiner Internetseite (Anlagenkonvolut B 3) an die Öffentlichkeit gewandt hatte. Der Kläger muss sich das Verhalten des Zeugen nicht (im Sinne einer „Privatsphärenbegebung“) zurechnen lassen. Nach seiner schriftlichen Aussage hatte der Strafverteidiger das Einstellen der Berichterstattung zwar als „notwendigen Teil der Verteidigertätigkeit“ angesehen, aber gerade nicht mit den Mandanten L. und W. abgesprochen. Er hatte danach „zu Rücksprachen (...) keinen Anlass gesehen“. Wann die Veröffentlichungen den Mandanten bekannt geworden seien, wisse er nicht, er habe die Beiträge später auf Wunsch der Mandanten herausgenommen. Bei diesem tatsächlichen Ablauf kann in dem Umstand, dass der damalige Strafverteidiger des Klägers Presseberichterstattungen über den Kläger, die diesen mit vollem Namen im Zusammenhang mit dem Mordfall nannten, auf seiner Homepage vorgehalten hatte, dem Kläger nicht als Privatsphärenbegebung zugerechnet werden. Die Vernehmung des Zeugen W. lässt gerade nicht den Schluss zu, dass dieser als Strafverteidiger über das übliche Maß hinaus auch bevollmächtigt gewesen sei, den Kläger hinsichtlich seiner Darstellung in der Öffentlichkeit zu vertreten.

Die Beklagte ist hinsichtlich der Rechtsbeeinträchtigung auch Störer. Die Störereigenschaft der Beklagten kann nicht auf der Grundlage verneint werden, dass es sich bei dem Teil des Internetauftritts der Beklagten, über den die beanstandete Meldung aufgerufen werden kann, um ein in irgend einer Weise privilegiertes Internetarchiv handeln würde. Auch insoweit wird auf das oben zitierte Urteil der Kammer (Az. 324 O 783/06, dort Ziffer 1.c) sowie auf das bereits mehrfach erwähnte Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 29. Juli 2008 (Az. 7 U 30/08, dort S. 5) Bezug genommen.

Schließlich besteht auch die für den Unterlassungsanspruch erforderliche Wiederholungsgefahr, da die Beklagte keine strafbewehrte Unterlassungsverpflichtungserklärung abgegeben hat und auch sonst nichts ersichtlich ist, was der Vermutung der Wiederholungsgefahr bei rechtswidriger Erstbegehung (vgl. dazu: BGH NJW 1994, 1281 (1283)) entgegenstünde.

II. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 709 ZPO. Die Entscheidung über den Streitwert beruht auf § 3 ZPO.