Niedersächsisches OVG, Urteil vom 19.04.2000 - 7 L 1070/97
Fundstelle
openJur 2012, 35930
  • Rkr:

1. Die mit Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 30.6.1998 - 9 C 6/98 - eingeleitete Änderung seiner Rechtsprechung zur Erforderlichkeit eines gesonderten Begründungsschriftsatzes nach Zulassung der Berufung auch in Asylverfahren kann als "höhere Gewalt" bewertet werden, welche die Nachholung der Begründung und Antragstellung auch nach Ablauf der Jahresfrist erlaubt.2. (NdsRpfl): In Afghanistan existiert nach wie vor keine staatliche oder staatsähnliche Gewalt.

Tatbestand

Die Klägerin ist afghanische Staatsangehörige tadschikischer Volkszugehörigkeit. Sie verteidigt im Berufungsverfahren den ihr vom Verwaltungsgericht zugebilligten Asylanspruch sowie den Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes - AuslG -.

Die Klägerin verließ am 13. Juli 1991 Afghanistan und reiste am 27. Juli 1991 über Pakistan, Dubai und die CSFR nach Deutschland ein. Am 16. Oktober 1991 beantragte sie, als Asylberechtigte anerkannt zu werden. Zur Begründung gab sie an, in Afghanistan zwar keiner politischen Partei angehört zu haben. Sie habe sich aber der antikommunistischen Bewegung zugehörig gefühlt. Von Beruf sei sie Psychologin und habe als Lehrerin gearbeitet. Hierbei habe sie versucht, ihre Schüler im antikommunistischen Sinne zu beeinflussen. Deshalb sei sie von ihren Kollegen schikaniert worden. Im August 1989 habe man sie deshalb sogar verhaftet. Danach habe sie zunächst wieder ihrer Tätigkeit nachgehen dürfen. Erst seit dem 12. Mai 1991 sei ihr dies verboten gewesen.

Bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt in Braunschweig am 9. Mai 1994 gab die Klägerin ergänzend an, dass sich bereits drei ihrer Brüder sowie zwei Schwestern in Deutschland aufhielten. Was ihre Vergangenheit in Afghanistan anbetreffe, so sei sie 1980 noch als Schülerin einer Organisation beigetreten, die das Ziel gehabt habe, die Freiheit zu bewahren bzw. wiederzuerlangen. So habe sie sich für Parteien- und Pressefreiheit eingesetzt. Sie sei immer eine Gegnerin der "von den Roten eingesetzten Marionettenregierung" gewesen und habe sich geweigert, der kommunistischen Partei beizutreten. Da sie in dieser Richtung stets auch ihre Schüler beeinflusst habe, sei sie immer wieder unter Druck gesetzt worden. Ihre Verhaftung 1989 habe zehn Tage lang gedauert. Sie habe nur deshalb anschließend weiter unterrichten dürfen, weil Lehrkräftemangel geherrscht habe. Sie habe die Erklärung abgeben müssen, sich an die vorgegebene Linie zu halten. In der Schule sei nach "russischen Methoden unterrichtet" worden. Das habe ihr nicht gepasst. Sie habe eine der afghanischen Kultur entsprechende Unterrichtsmethode gefordert. Deshalb sei ihr von Seiten der Schulleitung immer wieder gedroht worden. Nach ihrer Entlassung am 12. Mai 1991 sei sie auf Schritt und Tritt beobachtet worden, so dass sie schließlich den Entschluss gefasst habe, das Land zu verlassen. Mehrere Familienmitglieder, so etwa vier Cousins, ein Bruder und ein Onkel, welche die gleiche Richtung verfochten hätten, seien von der Regierung beseitigt worden. Auch die gegenwärtige politische Situation in Afghanistan erlaube ihr keine Rückkehr. Dies komme für sie nicht in Frage, solange dort keine demokratische Regierung an der Macht sei, welche für die Gleichberechtigung der Frauen eintrete.

Mit Bescheid vom 17. Juni 1994 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge den Asylantrag ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorlägen und forderte die Klägerin unter Androhung der Abschiebung auf, Deutschland innerhalb eines Monats nach Unanfechtbarkeit des Ablehnungsbescheides zu verlassen. Zur Begründung führte es aus, dass die von der Klägerin geschilderten Beeinträchtigungen nach dem inzwischen erfolgten Sturz der kommunistischen Regierung im April 1992 entfallen seien. Die gegenwärtige Regierung bzw. die herrschenden Gruppen versuchten im Gegenteil, vor den Kommunisten Geflohene wieder ins Land zu holen. Den derzeit an der Macht befindlichen Gruppierungen sei die Gegnerschaft zum Kommunismus gemeinsam. Die Klägerin sei nach ihrer Schilderung im seinerzeitigen Afghanistan im Übrigen auch nicht verfolgt worden. Die von ihr geschilderte Haft sei nur vorübergehender Art gewesen; im Anschluss daran habe sie sogar wieder als Lehrerin arbeiten dürfen. Auch das von ihr geschilderte ungeklärte Schicksal von Verwandten stelle keinen Asylgrund für sie dar. Die derzeit in Afghanistan geübte Frauendiskriminierung richte sich nicht speziell gegen die Klägerin, so dass sie sich asylrechtlich auch hierauf nicht berufen könne. Unklar sei geblieben; welcher Organisation die Klägerin in Afghanistan tatsächlich angehört habe. Auch Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG oder § 53 AuslG könne ihr unter diesen Umständen nicht zugebilligt werden.

Mit ihrer am 8. Juli 1994 erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt und ihren Vortrag dahin ergänzt, in Afghanistan für die Organisation "SAMA" aktiv gewesen zu sein. Diese Organisation sei ihrerseits Mitglied der "National Front of Afghanistan" gewesen. Unter diesem Namen trete die Organisation im Ausland auf und könne sie eine Bestätigung ihrer Mitgliedschaft vorlegen. Was die aktuelle politische Lage in Afghanistan anbetreffe, so seien viele der früheren kommunistischen Führungspersonen immer noch in Amt und Würden. Im Übrigen habe sie sowohl gegen die Kommunisten wie auch gegen die Islamisten agitiert. Auch außerhalb der Schule sei sie für ihre politischen Ziele aktiv gewesen. So habe sie Kontakt zu anderen demokratischen Gruppen gepflegt und Flugblätter verteilt. Ihre ganze Familie sei seinerzeit als regimekritisch bekannt gewesen. Öffentlich seien sie allerdings nicht gegen die Regierung aufgetreten.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bundesamtsbescheides vom 17. Juni 1994 zu verpflichten, sie als Asylberechtigte anzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen der §§ 51 Abs. 1 und 53 AuslG in ihrem Fall vorliegen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen,

und sich zur Entgegnung auf die Gründe ihres Bescheides bezogen.

Mit dem im Tenor bezeichneten Urteil hat das Verwaltungsgericht die Beklagte verpflichtet, die Klägerin als Asylberechtigte anzuerkennen und festzustellen, dass in ihrem Fall die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen. Ferner hat es die dem entgegenstehenden Feststellungen des Bundesamtsbescheides vom 17. Juni 1994 aufgehoben und zur Begründung ausgeführt, in Afghanistan seien zentralstaatliche Machtstrukturen zwar nicht mehr vorhanden. Wohl bestünden in den drei entstandenen Teilreichen aber quasi-staatliche Gebilde, von denen eine politische Verfolgung ausgehen könne. Mit einer solchen habe die Klägerin auch in ganz Afghanistan zu rechnen. Dies sei wegen ihres Eintretens für die Freiheit, demokratische Reformen und die Gleichberechtigung der Frau der Fall. Als Lehrerin habe sie zum Kreis der Intellektuellen gehört und sei als Angehörige der Organisation "SAMA" politisch aktiv gewesen. Zutreffend sei zwar, dass die kommunistische Regierung inzwischen nicht mehr existiere. Auch sei die Klägerin ersichtlich unverfolgt ausgereist. Gleichwohl sei ihr eine Rückkehr nach Afghanistan nicht zuzumuten, weil sie als intellektuelle Frau und Verfechterin demokratischer Strukturen sowie der Gleichberechtigung auch jetzt politisch verfolgt würde. Nach Auffassung etwa der Taliban, aber auch der Herrscher der anderen Teilgebiete, sei der Platz der Frau im Hause. Die Menschenrechte der Frauen würden krass missachtet. Als Intellektuelle und politisch aktive Person müsse die Klägerin auch im Machtgebiet des Generals Dostum mit Verfolgung rechnen. Von einer Entscheidung auch zu § 53 AuslG könne unter diesen Umständen abgesehen werden.

Mit Beschluss vom 18. Februar 1997, dem Bundesbeauftragten zugestellt am 21. Februar 1997, hat der Senat die Berufung des Bundesbeauftragten gegen das Urteil zugelassen. Dem Beschluss war keine Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt.

Am 13. Juli 1998 hat der Bundesbeauftragte hinsichtlich der Berufungsbegründungs- und Antragsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Zur Begründung dieses Antrags hat er ausgeführt, dass seinerzeit umstritten gewesen sei, ob § 124a Abs. 3 VwGO ergänzend zu § 78 des Asylverfahrensgesetzes - AsylVfG - gelte. Eine Reihe von Oberverwaltungsgerichten habe dies bejaht, andere hätten ein solches Erfordernis verneint. Das Bundesverwaltungsgericht habe in einer Entscheidung von August 1997 die Auffassung vertreten, dass dies zwar der Fall sei, eine bereits im Zulassungsantrag enthaltene Berufungsbegründung und ein dort aufgeführter Berufungsantrag aber ausreichend seien. Der gestellte Zulassungsantrag habe diese Voraussetzungen erfüllt. Im Juni/Juli 1998 habe das Bundesverwaltungsgericht seine Rechtsprechung jedoch geändert und nunmehr die uneingeschränkte Geltung von § 124a Abs. 3 VwGO in Ergänzung zu § 78 AsylVfG festgestellt. Bis zur Bekanntgabe dieser Entscheidung habe er, der Bundesbeauftragte, sich deshalb in einem unvermeidbaren Rechtsirrtum befunden. Danach habe er unverzüglich reagiert. Es sei anerkannt, dass dieser Wechsel der Rechtsprechung als "höhere Gewalt" im Sinne von § 58 Abs. 2 VwGO gelten könne.

In der Sache müsse die Klage abgewiesen werden, weil der Klägerin infolge des Fehlens staatlicher oder quasi-staatlicher Strukturen in Afghanistan Asyl nicht zuerkannt werden könne und auch Abschiebungsschutz nach § 51 AuslG sowie § 53 Abs. 4 AuslG damit nicht gewährt werden könnten. Es lägen schließlich auch Abschiebungshindernisse im Sinne von § 53 Abs. 6 AuslG nicht vor.

Der Bundesbeauftragte beantragt,

ihm Wiedereinsetzung in die Berufungsbegründungsfrist zu gewähren sowie die Klage unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält sie bereits für unzulässig, weil sich der Berufungsführer hinsichtlich der versäumten Frist in keinem unvermeidbaren Rechtsirrtum befunden habe. Jedenfalls sei die Berufung unbegründet. In Afghanistan seien sehr wohl staatliche Strukturen vorhanden. Aufgrund ihres seinerzeitigen regierungskritischen Engagements und ihres intellektuellen Zuschnittes habe sie auch von Seiten der derzeitigen Machthaber Verfolgung zu erwarten. Frauen genössen in Afghanistan heute keinerlei Rechte und keinerlei Bewegungsfreiheit. Was ihre familiären Verhältnisse anbelange, so habe sie in Afghanistan keine Verwandten mehr. Ihre 70 und 69 Jahre alten Eltern lebten ebenfalls in Deutschland und besäßen inzwischen die deutsche Staatsangehörigkeit.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Beiakten A und B verwiesen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter als Einzelrichter einverstanden erklärt.

Gründe

1. Die Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten ist zulässig.

a) Nach dem Ergehen des Berufungszulassungsbeschlusses des Senats vom 18. Februar 1997 lief für die erforderliche Begründung der Berufung nach § 124a Abs. 3 VwGO nicht die Monatsfrist, sondern nach § 58 Abs. 2 Satz 1 VwGO zunächst die Jahresfrist (BVerwG, Urt. v. 30.6.1998 - 9 C 6.98 -, NVwZ 1998, LS 3 und S. 1311). Diese Frist lief am 23. Februar 1998, einem Montag, ab. Bis zu diesem Zeitpunkt war beim Oberverwaltungsgericht nicht der erforderliche gesonderte Schriftsatz (BVerwG, aaO, LS 2 u. S. 1312 f.) mit einer Berufungsbegründung und einem Berufungsantrag eingetroffen. Dies geschah vielmehr erst am 13. Juli 1998. Damit ist auch die Jahresfrist versäumt worden.

b)Über die Nichteinhaltung dieser Frist ist dem Bundesbeauftragten jedoch nach § 58 Abs. 2 Satz 1, Satz 2 VwGO iVm § 60 Abs. 2 VwGO hinwegzuhelfen. Die erforderliche gesonderte Einreichung eines Berufungsbegründungsschriftsatzes innerhalb der Jahresfrist nach Zulassung der Berufung in der Asylrechtsstreitigkeit war dem Bundesbeauftragten "infolge höherer Gewalt" in dem Sinne unmöglich, als sie durch Umstände verhindert wurde, die auch durch die größte nach den Umständen vernünftigerweise von ihm zu erwartende und zumutbare Sorgfalt nicht abwendbar war (Kopp, VwGO, 11. Aufl., Erläuterungsnr. 20 zu § 58 m.w.N.). Nachdem der Senat, der dies damals ebenfalls nicht für erforderlich hielt, in seinem Zulassungsbeschluss vom 18. Februar 1997 keinen Hinweis auf das Erfordernis einer gesonderten Begründung gegeben hatte, konnte der Bundesbeauftragte infolge der vom Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 25. August 1997 - 9 B 690.97 - (DVBl. 1997, S. 1325) vertretenen und veröffentlichten Auffassung von einer Klärung der Rechtslage sowie davon ausgehen, mit der Stellung des Berufungsantrages bereits im Zulassungsantrag und der dort gegebenen Berufungsbegründung alles prozessual Erforderliche getan zu haben. Auch die größtmögliche Sorgfalt gebot unter diesen Umständen nicht, gleichsam auf Verdacht eines Abrückens des Bundesverwaltungsgerichts von seiner gerade entwickelten Rechtsprechung hilfsweise noch einen gesonderten Antrag zu stellen. Die vom Bundesverwaltungsgericht dann mit seinem eingehend begründeten Urteil vom 30. Juni 1998 (aaO, S. 1311) begonnene Änderung seiner Rechtsprechung zur Erforderlichkeit eines gesonderten Schriftsatzes ist im Ergebnis wie eine Änderung der Rechtslage zu werten, mit welcher der Berufungskläger zumutbarerweise nicht zu rechnen brauchte (ähnlich BVerwG, Urt. v. 25.6.1985 - 8 C 116/84 - NVwZ 1986, S. 478).

Die Zweiwochenfrist des § 60 Abs. 2 VwGO ist mit dem am 13. Juli 1998 eingegangenen Wiedereinsetzungs- sowie Begründungsschriftsatz gewahrt, weil der Berufungskläger frühestens am 30. Juni 1998 (Ergehen des Urteils) von der Aufgabe der Rechtsprechung zu der bezeichneten Frage durch das Bundesverwaltungsgericht Kenntnis haben konnte und das "Hindernis" erst dann entfallen war.

2. Die Berufung ist auch teilweise begründet.

a) Eine politische Verfolgung im Sinne von Artikel 16 a GG und von § 51 Abs. 1 AuslG kann nur von staatlicher Gewalt ausgehen (stdg. Rspr. des Bundesverwaltungsgerichts, vgl. Urt. v. 15.4.1997 - 9 C 38.96 -, DVBl. 1997, 1384 <1385>; Urteil v. 4.11.1997 - 9 C 34.96 -, DVBl. 1998, 280 = NVwZ 1998, 750).

Eine solche Gewalt gibt es in Afghanistan derzeit nicht.

a.a.) Das ist bereits seit dem Sturz des kommunistischen Regimes und der Eroberung Kabuls durch die Mudjaheddin im April 1992 nicht mehr der Fall. Denn eine von allen Mudjaheddin-Gruppen gebildete und anerkannte Regierung als Rechtsnachfolgerin des gestürzten kommunistischen Regimes hat es bisher nicht gegeben. Auch nach dem Eintritt der Taliban in die afghanische Politik ist die Handlungsfähigkeit Afghanistans als Gesamtstaat bislang nicht wiederhergestellt worden.

b.b.)Dem Staat als politischem Verfolger stehen allerdings solche staatsähnlichen Organisationen gleich, "die den jeweiligen Staat verdrängt haben oder denen dieser das Feld überlassen hat und die ihn daher insoweit ersetzen" (BVerwG, Urt. v. 6.8.1996 - 9 C 172.95 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 190). Deren Machtausübung muss jedoch effektiv und stabil sein, um als "staatsähnlich" in diesem Sinne bewertet werden zu können. Insbesondere muss der Machtapparat durchsetzungsfähig sein und eine hinreichende Dauerhaftigkeit aufweisen. Solange in einem andauernden Bürgerkrieg noch Auseinandersetzungen stattfinden, die eine dauerhafte nichtmilitärische Lösung ernsthaft in Frage stellen, kann von einer quasi-staatlichen Gebietsgewalt nicht ausgegangen werden (BVerwG, Urt. v. 4.11.1997, aaO; Urt. v. 19.5.1998 - 9 C 46/48.97 -). Eine derartige Situation besteht nach der ständigen Rechtsprechung des OVG Lüneburg (etwa Urteil vom 13.4.2000 - 7 L 6682/96 -) in Afghanistan. Zum gleichen Ergebnis gelangen auch alle in neuerer Zeit ergangenen Entscheidungen anderer Oberverwaltungsgerichte (vgl. Nachweise in der vorstehend genannten Entscheidung, Bl. 9; VGH Bad-Württ., Beschl. v. 17.11.1999 - A 6 S 608/99 -, Abdr. Bl. 5 ff.). Die Machtverhältnisse in Afghanistan haben sich seit den grundlegenden Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts vom 19.5.1998 (aaO) nicht entscheidungserheblich verändert. Eine solche Veränderung ist auch im Laufe des Jahres 1999 nicht eingetreten. Zwar hatten sich im März 1999 die Taliban und ihre Gegner bei Verhandlungen unter UN-Aufsicht auf die Grundzüge einer Vereinbarung über die Bildung einer Koalitionsregierung geeinigt (FR, "Die Welt" und TAZ v. 15.3.1999; F.A.Z. v. 16.3.1999). Schon Anfang Mai 1999 kam es aber erneut zu heftigen Artilleriegefechten nördlich von Kabul (F.A.Z. v. 4.5.1999) und im Norden des Landes (F.A.Z. v. 28.6.1999). Keine der an den erneut ausbrechenden Kämpfen beteiligten Seiten ließ noch die zuvor bekundete Kompromissbereitschaft erkennen ("Die Welt" v. 30.7.1999). Auch die Ende Juli 1999 von den Taliban begonnene militärische Sommeroffensive erreichte ihr Ziel nicht. Zwar gelang es ihnen, zeitweise den Flughafen Bhagram sowie einen Straßenknotenpunkt am Eingang des strategisch wichtigen Pandschir-Tales einzunehmen. (F.A.Z. v. 3.8.1999). In das Tal selbst konnten sie jedoch nicht vordringen. Vielmehr eroberten die Truppen der Nord-Allianz das verlorene Territorium zurück und verschoben die Frontlinie wieder nach Süden. Auch Bhagram wurde zurückerobert (FR v. 9.8.1999). Die Kämpfe im Norden und Osten gingen ebenfalls weiter, wobei beide Seiten Erfolge und Misserfolge verbuchten. Auch über den Ausgang erneuter indirekter Verhandlungen zwischen den Bürgerkriegsparteien im Februar/März 2000, über die derzeit berichtet wird, lassen sich noch keine Aussagen machen.

Eine dauerhafte nichtmilitärische Lösung des Konfliktes oder gar die Errichtung eines existenzfähigen Gesamtstaates sind damit auch derzeit nicht zu erwarten. Eine derartige Prognose wird zudem durch die internationalen Dimensionen des Konfliktes und die unterschiedlichen Interessenlagen der Staaten, die den Bürgerkriegsparteien Hilfe leisten, erschwert. Während die Taliban vor allem von Pakistan und Saudi-Arabien unterstützt werden, ist dies hinsichtlich ihrer Gegner durch Russland, die zentralasiatischen Nachbarstaaten und den Iran der Fall.

Damit hat das Verwaltungsgericht der Klägerin zu Unrecht Asyl und Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG zuerkannt.

b.) Damit steht der Hilfsantrag der Klägerin zur Entscheidung, ihr Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK zuzubilligen. Auch dieser ist aber nur gerechtfertigt, wenn der Ausländer im Zielland der Abschiebung Gefahr läuft, einer unmittelbaren Bedrohung durch den Staat oder durch staatsähnliche Organisationen ausgesetzt zu werden (BVerwG, Urt. v. 17.10.1995 - 9 C 15.95 -, NVwZ 1996, S. 476; Urt. v. 15.4.1997 - 9 C 38.96 -, InfAuslR 1997, S. 341). Derartige Machtgebilde bestehen, wie dargelegt, in Afghanistan jedoch nicht.

c.) In Betracht kommt damit weiter hilfsweise die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 AuslG. Soweit der Bundesbeauftragte die Klageabweisung auch bezüglich dieses weiteren Hilfsantrages begehrt, hat seine Berufung keinen Erfolg.

Nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG kann von der Abschiebung in einen Staat abgesehen werden, wenn dort für den Ausländer eine erhebliche Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Gefahr braucht nicht vom Staat oder von staatsähnlichen Organisationen auszugehen. Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, welcher der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, fallen allerdings unter § 53 Abs. 6 S. 2 AuslG iVm § 54 AuslG und begründen grundsätzlich keine klagbaren Rechte Einzelner. § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG erfasst allgemeine Gefahren im Sinne des Satzes 2 auch dann nicht, wenn sie den Einzelnen zugleich konkret und individuell treffen. Machen allerdings die Behörden von ihrer generellen Regelungsbefugnis nach § 54 AuslG "trotz einer extremen allgemeinen Gefahrenlage, die jeden einzelnen Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausliefern würde", keinen Gebrauch, ist § 53 Abs. 6 S. 2 AuslG verfassungskonform dahin auszulegen, dass derartige Gefahren im Rahmen von § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG zu berücksichtigen sind (BVerwG, Urt. v. 17.10.1995 - 9 C 9.95 -, DVBl. 1996, S. 203, 205; Urt. v. 8.12.1998 - 9 C 4.98 -, DVBl. 1999, S. 549, 551; Beschl. v. 26.1.1999 - 9 B 617.99 -, NVwZ 1999, S. 686).

Der Klägerin steht danach der Schutz des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zu. Dieser kann ihr allerdings nicht in direkter Anwendung der Vorschrift zuerkannt werden. Sie hat keine politischen oder dem gleichgestellte Gründe vorgetragen, aus denen sie im heutigen Afghanistan mit Verfolgung zu rechnen hätte. Ihre antikommunistische und besonders antirussische Einstellung wird im Gegenteil von allen heute in Afghanistan relevanten Gruppen geteilt. Auch als Kämpferin für demokratische Rechte, wie sie heute in Afghanistan noch immer nicht bestehen, ist die Klägerin seinerzeit nicht so hervorgetreten, dass sie eine nachwirkende Bekanntheit erlangt hätte, wie es etwa bei prominenten ehemaligen kommunistischen Funktionären der Fall ist (Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 24.1.2000, S. 7).

Der Klägerin ist aber Abschiebungsschutz nach der genannten Vorschrift in entsprechender Anwendung zuzugestehen. Sie wäre bei einer Rückkehr nach Afghanistan in ihrer materiellen Existenz konkret gefährdet. Denn sie müsste dort ohne männlichen Schutz oder aufnahmebereite Verwandte im Übrigen auskommen. Das wäre ihr als alleinstehende Frau nicht möglich. Wegen des weitgehenden Rückzugs und der eingeschränkten Arbeitsmöglichkeiten internationaler Hilfsorganisationen könnte die Klägerin auch von diesen keine auskömmliche Unterstützung erwarten (vgl. Danesch, Gutachten v. 13.3.1998 für den VGH Mannheim; UNHCR, Schreiben v. 7.4.1998 an das VG Hamburg; Auswärtiges Amt, Auskunft v. 28.8.1998 an den VGH Kassel und v. 19.1.2000 an das VG Hamburg sowie Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 24.1.2000, S. 11). Unter diesen Umständen drohen der Klägerin bei einer Rückkehr nach Afghanistan derzeit lebensgefährliche Versorgungsschwierigkeiten, welche die Voraussetzungen der Schutznorm erfüllen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO und auf § 83b Abs. 1 und 2 AsylVfG. Die Kostenquote bemisst sich nach den in § 83b Abs. 2 AsylVfG bestimmten Einsatzwerten sowie der Annahme, dass die Zubilligung von Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG mit einem Drittel des ausländerrechtlichen Verfahrensteils zu bewerten ist.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO und den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 132 Abs. 2 VwGO), liegen nicht vor.