Niedersächsisches OVG, Urteil vom 12.04.2000 - 4 L 3902/99
Fundstelle
openJur 2012, 35921
  • Rkr:

1. Das Gericht darf einem Behinderten Hilfe zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft durch Übernahme von Taxikosten nicht nachträglich für Zeiträume zusprechen, in denen er die Fahrten tatsächlich nicht unternommen hat, weil ihm dafür die Mittel gefehlt haben, er also auch von der Möglichkeit, vorläufigen Rechtsschutz zu erlangen, nicht Gebrauch gemacht hat. Er hat dann aber ein berechtigtes Interesse an der Feststellung, dass der ablehnende Bescheid rechtswidrig gewesen ist, wenn sie der Durchsetzung seiner Ansprüche für die Zukunft dient.

2. Der Träger der Sozialhilfe darf Leistungen dieser Art in Richtlinien pauschalieren. Er muss von ihnen abweichen, wenn der Behinderte nach seinen persönlichen Bedürfnissen und angemessenen Wünschen einen höheren Bedarf hat.

Tatbestand

Der am 28. September 1954 geborene Kläger ist körperlich schwer behindert und auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen. Anfang 1989 zog er aus einem Wohnheim in eine eigene Wohnung (zunächst in O., später in B.). Der Beklagte gewährte ihm durch seine Auftragsgemeinden O. und später B. Hilfe zum Lebensunterhalt und übernahm die Kosten einer Haushaltshilfe.

Seit dem Einzug des Klägers in eine eigene Wohnung übernahm der Beklagte außerdem die Kosten für monatlich vier Einzelfahrten (Hin- oder Rückfahrt) mit einem Beförderungsdienst mit einer Fahrstrecke bis zu 15 km je Fahrt. Dem Kläger wurden jeweils entsprechende Gutscheine ("gelbe Karten") ausgestellt. Dabei legte der Beklagte seine "Richtlinien für die Übernahme von Fahrtkosten für körperlich Schwerbehinderte im Rahmen der Eingliederungshilfe nach dem BSHG" - Stand: März 1988 - zugrunde. Der letzte nach dieser Praxis dem Kläger erteilte Bewilligungsbescheid des Beklagten wurde am 7. Dezember 1994 ausgestellt und galt für den Zeitraum vom 1. Januar bis 31. Dezember 1995.

Im Jahre 1995 änderte der Beklagte die Richtlinien. Nach der ab dem 1. Oktober 1995 geltenden Fassung sollen Fahrtkosten bis zu 50,-- DM monatlich für Heimbewohner und bis zu 100,-- DM für andere Anspruchsberechtigte übernommen werden. Mit Schreiben vom 25. September 1995 wies der Beklagte den Kläger auf die neuen Richtlinien hin. Auf Antrag des Klägers vom 1. Oktober 1995 bewilligte der Beklagte ihm mit Bescheid vom 31. Oktober 1995 für die Zeit vom 1. Januar bis zum 31. Dezember 1996 monatlich 100,-- DM an Fahrtkosten.

Mit Schreiben vom 12. Oktober 1996 beantragte der Kläger, ihm wieder "gelbe Taxifreifahrten" zu gewähren. Zur Begründung berief er sich darauf, dass der Beklagte auf Anweisung des Niedersächsischen Landesamtes für Zentrale Soziale Aufgaben den körperbehinderten Bewohnern eines Wohnheims in B. ebenfalls weiterhin derartige Taxischeine erteile. Mit Bescheid vom 3. März 1997 übernahm der Beklagte Fahrtkosten des Klägers in der Zeit vom 1. Januar 1997 "bis längstens zum Ablauf Ihres (d.h.: des Klägers) Schwerbehindertenausweises (9/2007)" in Höhe von monatlich 100,-- DM und lehnte den Antrag auf Ausstellung von Taxischeinen ab. Zur Begründung verwies er u.a. darauf, dass die Grundsätze des Landes Niedersachsen zur Benutzung eines Spezialbeförderungsdienstes für Schwerbehinderte im Fall des Klägers nicht Anwendung finden könnten, da die Zuständigkeit des überörtlichen Sozialhilfeträgers nicht vorliege.

Den Widerspruch des Klägers wies der Beklagte mit Bescheid vom 9. Dezember 1997 zurück.

Der Kläger hat bereits am 31. Juli 1997 Klage erhoben und vorgetragen: Er benutze einen motorbetriebenen Rollstuhl, mit dem er allenfalls im Nahbereich seiner Wohnung im Stadtgebiet von B. Einkaufs- und Besuchsfahrten durchführen könne. Für Fahrten in die Nachbarstädte M., S. und R. sei er auf Spezialbeförderungsdienste für Schwerbehinderte angewiesen. Nach der früheren Praxis des Beklagten habe er monatlich zwei Fahrten in eine dieser Städte unternehmen können, nunmehr sei ihm nur noch eine Fahrt möglich, da jede Einzelfahrt 42,-- DM koste. Seine Beweglichkeit sei dadurch massiv eingeschränkt. Da den Bewohnern eines Wohnheims in B. entsprechend den Vorschriften des Landes Niedersachsen monatlich vier Fahrten über eine Distanz bis zu 15 km zugebilligt würden, liege eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung vor. Wenn der Beklagte statt der Gutscheine eine Kostenpauschale gewähren wolle, müsse er monatlich 170,-- DM zahlen. Mindestens dieser Betrag müsse für vier Fahrten zu je 15 km aufgewendet werden.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 22. Juli 1999 abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Der Kläger habe Anspruch auf die Gewährung von Eingliederungshilfe in Form von Hilfe zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft. Über Form und Maß der Hilfe habe der Sozialhilfeträger nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden (§ 4 Abs. 2 BSHG). Die hier von dem Beklagten getroffene Entscheidung sei nicht ermessensfehlerhaft. Die seiner Entscheidung zugrunde gelegten, am 1. Oktober 1995 in Kraft getretenen Richtlinien begegneten rechtlichen Bedenken nicht. Dem Kläger seien mit den ihm nach den neuen Richtlinien gewährten monatlich 100,-- DM Fahrten in die Nachbarstädte jedenfalls einmal im Monat möglich. Bei besonderen Anlässen sei der Beklagte darüber hinaus bereit, zusätzliche Fahrten zu finanzieren. Einen Anspruch auf weitergehende Leistungen habe der Kläger nicht. Insbesondere berufe er sich ohne Erfolg darauf, dass der Beklagte in den Fällen, in denen er Heimbewohnern im Auftrag des Landes Niedersachsen Eingliederungshilfe gewähre, weiterhin vier Berechtigungsscheine im Monat ausstelle. Denn der Beklagte sei in diesen Fällen an die Weisungen des Niedersächsischen Landesamtes für Zentrale Soziale Aufgaben gebunden. Eine Verpflichtung, in anderen Fällen, in denen dieses Weisungsrecht nicht bestehe, genauso zu verfahren, ergebe sich für ihn daraus nicht.

Gegen dieses Urteil wendet sich der Kläger mit der von dem erkennenden Senat mit Beschluss vom 12. Oktober 1999 - 4 L 3491/99 - wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zugelassenen Berufung. Zur Begründung wiederholt und vertieft der Kläger sein erstinstanzliches Vorbringen.

Er beantragt,

das angefochtene Urteil zu ändern und den Beklagten zu verpflichten, ihm für die Zeit vom 1. Januar bis zum 31. Dezember 1997 über die bewilligte Leistung von 100,-- DM monatlich hinaus einen weiteren Fahrtkostenzuschuss von 70,-- DM monatlich zu gewähren, und den Bescheid des Beklagten vom 3. März 1997 und seinen Widerspruchsbescheid vom 9. Dezember 1997 aufzuheben, soweit sie diesem Begehren entgegen stehen,

hilfsweise,

festzustellen, dass der Bescheid des Beklagten vom 3. März 1997 rechtswidrig gewesen ist, soweit er diesem Begehren entgegen gestanden hat.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurück zu weisen.

Er verteidigt das angegriffene Urteil.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts, des Vorbringens der Beteiligten und des Inhalts des angegriffenen Urteils wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten verwiesen.

Gründe

Die Berufung des Klägers bleibt hinsichtlich des Verpflichtungsbegehrens ohne Erfolg. Hinsichtlich des Feststellungsbegehrens ist sie demgegenüber begründet.

Der Kläger hat nicht Anspruch darauf, dass der Beklagte ihm jetzt noch die begehrten Leistungen für den von den angefochtenen Bescheiden erfassten Zeitraum vom 1. Januar bis zum 31. Dezember 1997 nachträglich gewährt. Die Sozialhilfe umfasst die Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt und Hilfe in besonderen Lebenslagen - zur letztgenannten Hilfeart gehören die hier begehrten Leistungen der Eingliederungshilfe -. Aufgabe der Sozialhilfe ist es, dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht (§ 1 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 BSHG). Sozialhilfe kann grundsätzlich nicht zur Behebung einer Notlage, also für eine Lebenssituation beansprucht werden, die im Zeitpunkt der Entscheidung über die beanspruchte Hilfeleistung nicht mehr (so) besteht. Dem steht das Strukturprinzip der Sozialhilfe "keine Sozialhilfe für die Vergangenheit" entgegen (st. Rspr. d. BVerwG, z.B. Urt. v. 30.4.1992 - BVerwG 5 C 12.87 -, BVerwGE 90, 154 m.w.N.; ebenso st. Rspr. d. erk. Sen., z.B. Urt. v. 11.5.1988 - 4 OVG A 117/87 -, V.n.b.). Ausnahmen vom Erfordernis eines tatsächlich (fort-)bestehenden Bedarfs kommen um der Effektivität der gesetzlichen Gewährung des Rechtsanspruchs des Bürgers auf Sozialhilfeleistungen Willen in Betracht, so auch bei einer zwischenzeitlichen Bedarfsdeckung im Wege der Selbsthilfe oder Hilfe Dritter (§ 2 Abs.1 BSHG), wenn es dem Hilfesuchenden nicht zuzumuten war, die Entscheidung des Sozialhilfeträgers abzuwarten. Entsprechendes gilt bei der Einlegung von Rechtsbehelfen um der Effektivität des Rechtsschutzes auf Sozialhilfe Willen. So ist der Rechtsprechung anerkannt, dass Ansprüche auf laufende Hilfe zum Lebensunterhalt nach Regelsätzen auch noch nachträglich zu befriedigen sind. Für den Bereich der Eingliederungshilfe hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 30. April 1992 - BVerwG 5 C 1.88 - (NVwZ 1993 S. 995 = DVBl. 1992 S. 1482 = FEVS Bd. 43 S. 19 = Buchholz 436.0 § 40 BSHG Nr. 12) eine spätere Gewährung von Mitteln für die Durchführung von Hausunterricht für körperlich und geistig schwerstbehinderte Kläger für zulässig angesehen. Beiden Fallgestaltungen ist gemeinsam, dass der mit der Hilfeleistung verfolgte Zweck noch nachträglich erreicht werden kann. Für den Bereich der laufenden Hilfe zum Lebensunterhalt nach Regelsätzen ergibt sich das daraus, dass diese Leistungen nicht für eine bestimmte Verwendung gewährt werden, also auch nachträglich in einer dem Zweck der Hilfe entsprechenden Art und Weise eingesetzt werden können. In dem genannten Fall der Eingliederungshilfe war ebenfalls der mit der Erteilung des Hausunterrichts beabsichtigte Zweck, den schwerstbehinderten Klägern lebenspraktische Fähigkeiten zu vermitteln, nicht von einem bestimmten Zeitpunkt der Erteilung des Unterrichts abhängig. Mit diesen Fallkonstellationen ist der vorliegende Fall des Klägers nicht vergleichbar. Er begehrt die Gewährung weiterer Eingliederungshilfe in Form der Hilfe zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft für das Jahr 1997, in dem er die begehrten zusätzlichen Fahrten tatsächlich nicht unternommen hat, weil ihm die Mittel dafür gefehlt haben. Bei einer nachträglichen Gewährung von Leistungen für diesen Zeitraum könnte er zwar künftig zusätzliche Taxifahrten unternehmen und seinen aktuellen Bedarf an Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft eine Zeit lang gleichsam übererfüllen. Er könnte aber den Zweck der begehrten Hilfe, nämlich ihm während des Jahres 1997 die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft in dem gewünschten Umfang zu ermöglichen, damit nicht nachträglich erfüllen. Deshalb und weil dem Sozialhilferecht jedenfalls in diesem Bereich der zweck- und zeitgebundenen Leistungen der Gedanke, Hilfe nachträglich als eine Art Genugtuung für erlittene Entbehrungen zu erbringen, fremd ist, muss sein Verpflichtungsbegehren erfolglos bleiben. Effektiver Rechtsschutz kann in Fällen dieser Art also praktisch nur im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 123 VwGO erlangt werden. Von dieser Möglichkeit hat der Kläger damals nicht Gebrauch gemacht.

Zulässig und begründet ist aber das Begehren des Klägers festzustellen, dass der angegriffenen Bescheid rechtswidrig gewesen ist, soweit dadurch abgelehnt worden ist, über die gewährten 100,-- DM monatlich hinaus weitere 70,-- DM zu gewähren. An einer solchen Feststellung hat der Kläger ein berechtigtes Interesse, da diese der Durchsetzung seiner Ansprüche für die Zukunft dient (§ 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO). Die (teilweise) Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides ergibt sich aus folgenden Erwägungen:

Rechtliche Grundlage für das Begehren des Klägers sind die §§ 40 Abs. 1 Nr. 8 BSHG, 19 Nr. 1 und 2 Eingliederungshilfeverordnung. Danach erhalten Behinderte im Rahmen der Eingliederungshilfe Hilfe zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft. Diese umfasst Maßnahmen, die geeignet sind, dem Behinderten die Begegnung und den Umgang mit nicht behinderten Personen zu ermöglichen, zu erleichtern oder diese vorzubereiten, und Hilfe zum Besuch von Veranstaltungen oder Einrichtungen, die der Geselligkeit, der Unterhaltung oder kulturellen Zwecken dienen. Gemäß § 4 Abs. 2 BSHG hat der Sozialhilfeträger über Form und Maß der Hilfe zum Leben in der Gemeinschaft nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Diese Ermessensentscheidung hat der Beklagte im vorliegenden Fall rechtsfehlerhaft getroffen (§ 114 VwGO).

Die Fehlerhaftigkeit der Entscheidung des Beklagten ergibt sich allerdings nicht schon daraus, dass er ihr die neu gefassten Richtlinien in der ab dem 1. Oktober 1995 gültigen Fassung zugrunde gelegt hat.

Grundsätzlich ist es zulässig, dass der Träger der Sozialhilfe häufig auftretende Bedarfslagen durch Richtlinien regelt und pauschalierte Leistungen vorsieht. Derartige Richtlinien können im Interesse nicht nur des Trägers der Sozialhilfe, sondern auch des einzelnen Hilfesuchenden liegen, da sie geeignet sind, für gleich gelagerte Fälle eine gleichartige Ermessensübung zu gewährleisten. Insoweit sind bestehende Richtlinien für den Sozialhilfeträger - anders als für die Gerichte - bindend. Die Anwendung derartiger Richtlinien darf allerdings nicht dazu führen, dass der Grundsatz des § 3 Abs. 1 Satz 1 BSHG, dass nämlich Art, Form und Maß der Sozialhilfe sich nach der Besonderheit des Einzelfalls richten, nicht mehr berücksichtigt wird. Führt die Anwendung einer Richtlinie zu einer solchen Entscheidung, ist sie rechtswidrig.

Speziell zu Art und Umfang der zu gewährenden (Eingliederungs-)Hilfe zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ergeben sich Vorgaben weder aus dem BSHG noch aus der EingliederungshilfeVO. Insbesondere gibt es weder Höchstgrenzen für diese Hilfeart noch eine Beschränkung etwa auf einen "vertretbaren Umfang" wie in § 12 Abs. 1 Satz 2 BSHG für die im Regelsatz für die persönlichen Bedürfnisse des täglichen Lebens enthaltenen (§ 1 Abs. 1 Satz 1 RegelsatzVO) Leistungen zur Herstellung und Aufrechterhaltung von Beziehungen zur Umwelt und zur Teilnahme am kulturellen Leben. Im Hinblick auf das genannte Individualisierungsgebot bedeutet das, dass der Hilfebedarf des Hilfesuchenden grundsätzlich konkret ermittelt und die zu gewährende Hilfe danach bemessen werden muss. Dies schließt allerdings nicht aus, dass dabei in gewissen Grenzen pauschaliert werden darf, wie das Bundesverwaltungsgericht in einer die Weihnachtsbeihilfen im Recht der Kriegsopferfürsorge betreffenden und insoweit auf den vorliegenden Fall übertragbaren Entscheidung festgestellt hat (BVerwG, Urt. v. 12.4.1984 - BVerwG 5 C 95.80 -, BVerwGE 69, 146 = Buchholz 436.7 § 27 a BVG Nr. 14 = NVwZ 1984, 728 = FEVS Bd. 33 S. 441; vgl. auch BVerwG, Urt. v. 22.4.1970 - BVerwG V C 98.69 - zur Bemessung der Feuerungsbeihilfe, BVerwGE 35, 178 = Buchholz 436.0 § 12 Nr. 2 = FEVS Bd. 17 S. 321). Denn das Maß der Hilfe kann im einzelnen Fall oft kaum sicher bestimmt werden, so dass vielfach auf Pauschalierungen zurückgegriffen werden muss. Auch wenn es rechtsfehlerhaft wäre, die Hilfe ohne Rücksicht auf die Verhältnisse des Einzelfalls allein nach pauschalierten Merkmalen festzulegen, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass es oft schwierig und vom Verwaltungsaufwand her praktisch nicht mehr durchführbar ist, in jedem Einzelfall alle den Bedarf bestimmenden Faktoren genau festzustellen. Das Bundesverwaltungsgericht (a.a.O.) hat es deshalb für zulässig gehalten, dass der Sozialhilfeträger bei der Ermittlung des Bedarfs und der Festsetzung der Hilfe von einem Grundbetrag ausgeht, der jeweils nach den in Betracht kommenden Bedarfsmerkmalen ermittelt und differenzierend festgelegt wird. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass für die Festlegung des Grundsbetrags ausreichende Erfahrungswerte vorliegen. Die von Hilfeempfänger zu Hilfeempfänger unterschiedlichen Arten und Grade der vorhandenen oder drohenden Behinderung und die unterschiedlichen persönlichen Lebensumstände (hier etwa der Wohnort oder das soziale Umfeld des Hilfebedürftigen) erfordern allerdings Raum für eine individuelle Ausgestaltung der Hilfe mit der Folge, dass verallgemeinernde Regelungen (Richtlinien) nur vorbehaltlich notwendiger Abweichungen im Einzelfall eingreifen können.

Die Richtlinien des Beklagten aus dem Jahre 1988 sahen für den einzelnen Behinderten die Übernahme der Kosten für vier Fahrten monatlich zu je (höchstens) 15 km vor, waren also orientiert an der Zahl der Fahrten und der Wegstrecke (ebenso wie die "Grundsätze für die Gewährung von Eingliederungshilfe für Heimbewohner bei Benutzung eines Spezialbeförderungsdienstes für Behinderte" des Landessozialamtes Niedersachsen Rundverfügung vom 28.3.1979 - 24/43104/40 -). Nach Angaben des Beklagten wurden die Fahrtkosten mit 2,-- DM bzw. 2,20 DM je km entsprechend den besonderen Vereinbarungen des Beklagten mit den Beförderungsunternehmen abgerechnet, der Geldwert der Leistungen entsprach also etwa 120,-- DM bis 132,-- DM. Demgegenüber sind die seit dem 1. Oktober 1995 geltenden Richtlinien des Beklagten geprägt durch die direkte Gewährung einer Geldpauschale an den Hilfeempfänger unabhängig von der Häufigkeit der Benutzung des Beförderungsdienstes und der jeweiligen Wegstrecke. Damit ist nicht nur eine Einsparung und eine Vereinfachung der verwaltungsmäßigen Abwicklung der Hilfegewährung für den Beklagten verbunden. Vielmehr bringt das neue System auch den Behinderten Vorteile insofern, als sie das Geld nunmehr beliebig auf mehr oder weniger, kürzere oder längere Fahrten aufteilen können und - anders als bei den Gutscheinen - ein am Monatsende nicht verbrauchter Teil der Hilfe nicht verfällt. Der Geldwert der Hilfe ist mit (höchstens) 100,-- DM allerdings niedriger als zuvor, so dass schon bei nur gleichbleibenden Kosten bzw. ohne Sondervereinbarungen mit den Beförderungsdiensten die mögliche Gesamtfahrstrecke geringer geworden ist.

Die Umstellung der Hilfegewährung auf das Pauschalensystem erscheint als sachgerecht und liegt im Interesse nicht nur des Sozialhilfeträgers, sondern im Hinblick auf die höhere Flexibilität auch der Hilfeempfänger. Hinsichtlich der Höhe der nach den Richtlinien zu gewährenden Hilfe hat sich der Beklagte an Erfahrungswerten orientiert, die er aus der Abrechnung der früher gewährten Gutscheine gewonnen hat und die sich aus Vergleichen mit der Verwaltungspraxis benachbarter Landkreise und Städte ergeben haben. Offenbar hat sich die seit Oktober 1995 geltende Richtlinie auch in der Verwaltungspraxis im Allgemeinen bewährt, so dass im Grundsatz gegen ihre Anwendung rechtliche Bedenken nicht bestehen. Die weiter der alten Praxis entsprechende Handhabung des überörtlichen Trägers kann nicht als entgegen stehender Erfahrungswert angesehen werden. Denn der Bedarf eines selbständig lebenden Behinderten und der eines Heimbewohners ist nicht notwendig identisch. Ersterer plant seine Aktivitäten individuell, letzterer wird - wenn überhaupt - eher an gemeinschaftlich durchgeführten Aktivitäten teilnehmen und damit weniger Einfluss auf die Kosten haben.

Bedenken gegen die Verwaltungspraxis des Beklagten entsprechend den neuen Richtlinien ergeben sich dann, wenn der Beklagte im Einzelfall höhere Leistungen abweichend von den Richtlinien nicht in Erwägung zieht. Damit ist nicht nur der von dem Beklagten durchaus anerkannte Fall gemeint, dass bei Fahrten zu "besonderen Anlässen" zusätzliche Kosten anfallen, sondern auch der Fall, dass die individuelle Situation des Behinderten eine höhere Hilfe dauernd erfordert. Denn im Bereich der Eingliederungshilfe, hier der Hilfe zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft, ist - wie ausgeführt - letztlich auf den konkreten Hilfebedarf des einzelnen Hilfesuchenden abzustellen, der von seinen persönlichen Bedürfnissen und Wünschen geprägt wird (vgl. zur Übernahme von Taxikosten anstelle des vom Sozialhilfeträger angebotenen Behindertentransports das bereits erwähnte Urt. d. Sen. v. 11.5.1988 - 4 OVG A 117/87 - und zur Erhöhung der KFZ-Betriebskostenpauschale in der Kriegsopferfürsorge das Urt. d. BVerwG v. 23.11.1995 - BVerwG 5 C 7.94 - FEVS 47, 145). Dabei bedarf es im vorliegenden Fall nicht einer Entscheidung darüber, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe sich etwa aus § 3 Abs. 2 Satz 1 BSHG (Angemessenheit der Wünsche des Hilfeempfängers) eine absolute Höchstgrenze für die Hilfe zur Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ergibt. Denn das Begehren des Klägers ist jedenfalls nicht unangemessen. Sein Wunsch, zweimal monatlich in eine der bis zu 15 km entfernt liegenden Nachbarstädte zu fahren, bedeutet nur, dass er weiterhin dieselben Fahrten unternehmen möchte, die er nach der früheren Verwaltungspraxis des Beklagten mit den ihm monatlich gewährten vier Taxischeinen hat durchführen können. Wenn der Beklagte diese Fahrmöglichkeiten in der Vergangenheit als angemessen angesehen hat und sich seither die tatsächlichen Verhältnisse nicht geändert haben, ist nichts ersichtlich, was gegen die Angemessenheit des Wunsches des Klägers sprechen könnte. Allein dass der von dem Kläger als notwendig bezeichnete Betrag von 170,--DM monatlich über dem Abrechnungswert der früher erteilten Taxischeine liegt, spricht nicht gegen die Begründetheit seines Begehrens. Die Preisdifferenz mag sich daraus ergeben, dass der Beklagte mit den Beförderungsunternehmen günstigere Tarife abrechnen konnte als es Einzelpersonen können. Entscheidend kommt es aber nicht auf die entstehenden Kosten, sondern darauf an, dass die monatlich zwei Fahrten in die Nachbarstädte unter den gegebenen Umständen ein für die Teilnahme des Klägers am Leben in der Gemeinschaft geeignetes und angemessenes Mittel sind. Der Kläger macht nach eigenen Angaben die Fahrten für Einkäufe, Besuche und die Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen. Das Einkaufen als solches ist zwar nicht Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft, sondern dient in erster Linie der Deckung des Lebensunterhalts. Für einen Menschen, der wie der Kläger durch seine Behinderung in seiner Bewegungsmöglichkeit eingeschränkt ist, bedeutet aber auch das Einkaufen ein "Unter-die-Leute-kommen" und hat mehr noch als für Nichtbehinderte einen Erlebniswert (vgl. die umgangssprachliche Wendung "Shoppen gehen" bzw. den Werbungsbegriff "Einkaufserlebnis"). Insofern dient jedenfalls dem Kläger auch die Fahrt zum Einkaufen in einer Nachbarstadt der Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft. Unter Berücksichtigung seiner persönlichen Lebenssituation (Alter, ausschließlich körperliche Behinderung, alleinstehend) ist der Wunsch des Klägers, zweimal im Monat Fahrten in die nahe gelegenen Nachbarstädte zu den von ihm genannten Zwecken zu unternehmen, angemessen. Ein solcher Aufwand entspricht dem, den auch viele Nichtbehinderte in vergleichbarer Wohn- und Lebenssituation erbringen. Hierfür Hilfe zu gewähren, ist geboten, um die Folgen der Behinderung des Klägers zu mildern und seine soziale Integration in die Gesellschaft zu wahren. Entgegen der Meinung des Beklagten ist der Träger der Sozialhilfe nicht befugt, die von dem Behinderten mit den einzelnen Unternehmungen verbundenen Zwecke wertend zu würdigen (etwa in der Art: "Einkaufen kann der Kläger auch am Wohnort und ein Eiscafé gibt es dort auch") und danach die Hilfe zu bemessen.

Der Kläger hatte somit in dem hier maßgeblichen Zeitraum Anspruch auf die Gewährung von Eingliederungshilfe in einem Umfang, der es ihm - wie früher - möglich machte, monatlich vier Fahrten mit einem Behindertentransport über eine Strecke von je 15 km zu unternehmen. Der Beklagte hat dem Vorbringen des Klägers, dass hierfür 170,-- DM monatlich aufzuwenden seien, nicht widersprochen. Die angegriffenen Bescheide des Beklagten sind deshalb rechtswidrig, soweit dadurch abgelehnt worden ist, über die gewährten 100,-- DM monatlich hinaus weitere 70,-- DM zu gewähren.