OLG Köln, Urteil vom 17.02.1993 - 27 U 42/92
Fundstelle
openJur 2012, 73724
  • Rkr:

1.)

Zur Schmerzensgeldhöhe bei Verlust des Geruchsvermögens durch ärztlichen Behandlungsfehler.

2.)

Zum Anscheinsbeweis hinsichtlich eines ärztlichen Behanldungsfehlers.

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 14. Januar 1992 verkündete Urteil der 25. Zivilkammer des Landgerichts Köln - 25 O 184/89 - abgeändert.

Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 7.000,-- DM nebst 4 % Zinsen seit dem 8. Juni 1989 zu zahlen.

Der Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die Berufung ist statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und damit zulässig. Sie hat auch in der Sache Erfolg.

Die Klägerin kann gemäß §§ 823, 847 BGB von dem Beklagten ein Schmerzensgeld in Höhe von 7.000,00 DM verlangen.

Der Beklagte hat der Klägerin nach den Grundsätzen der unerlaubten Handlung denjenigen immateriellen Schaden zu ersetzen, der dieser durch den Verlust des Geruchssinns als Folge der Nasenscheidewandoperation vom 20. März 1987 entstanden ist. Nach dem Vortrag beider Parteien und den Ausführungen des Sachverständigen Prof. T. hat der Senat davon auszugehen, daß dem Beklagten bei der Operation der Nasenscheidewand ein schuldhafter Behandlungsfehler unterlaufen ist. Die Art und Weise, in welcher der Beklagte bei dem operativen Eingriff vorgegangen ist, kann zwar nicht festgestellt werden. Der von ihm vorgelegte Operationsbericht ist dazu nicht geeignet, da er nicht zeitnah, sondern erst zwei Jahre später - am 11. März 1989 - verfaßt worden ist und damit keine ordnungsgemäße Dokumentation des Operationsverlaufs darstellt. Das Fehlen eines zeitnah erstellten Operationsberichts schafft aber Beweiserleichterungen zu Gunsten der Klägerin. Die Pflicht des Arztes, die wichtigsten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen und Verlaufsdaten zu dokumentieren, erstreckt sich auf die Fertigung eines Operationsberichts (Steffen, Neue Entwicklungslinien der BGH-Rechtsprechung zum Arzthaftungsrecht, 4. Aufl., S. 113). Die vom Beklagten vertretene Auffassung, der Verlauf einer Nasenscheidewandoperation brauche nicht dokumentiert zu werden, ist mit diesem Grundsatz nicht vereinbar und entspricht auch nicht den Ausführungen des Sachverständigen Prof. T. zur Frage der Dokumentationspflicht. Der Sachverständige hat darauf hingewiesen, daß selbst bei einem kleinen Eingriff, wie er hier vorliegt, zumindest ein stichwortartiger Operationsbericht gefertigt werden muß. Das Fehlen einer notwendigen Dokumentation begründet aber die Vermutung, daß die aufzuzeichnende, jedoch nicht festgehaltene Maßnahme unterblieben ist (BGH NJW 1988, 2949; 1989, 2330). Nach dem Gutachten des Sachverständigen Prof. T. sind bei Nasenscheidewandoperationen Schutzmaßnahmen zur Erhaltung des Geruchssinns in der Weise zu treffen, daß bei der Ablösung des Mukoperichondriums von Septumknorpel und Septumknochen die Schleimhaut nicht verletzt werden kann. Die Anwendung der dazu erforderlichen Technik ist - so der Sachverständige - im Operationsbericht zu dokumentieren. Da eine zeitnahe Dokumentation des aufzuzeichnenden operativen Vorgehens fehlt, wird zu Gunsten der Klägerin vermutet, daß der Beklagte die zum Schutz des Geruchssinns notwendigen operationstechnischen Maßnahmen unterlassen und daher fehlerhaft gehandelt hat. Die für einen - schuldhaft begangenen - Behandlungsfehler streitende Vermutung hat der Beklagte nicht entkräftet.

Infolge des Operationsfehlers hat die Klägerin ihr Geruchsvermögen vollständig verloren. Daß die Klägerin ihren Geruchssinn überhaupt eingebüßt hat, kann - auch wenn der Beklagte dies bestreitet - nicht bezeifelt werden. Nach dem Bericht der in der Universitäts-Hals-Nasen-Ohrenklinik tätigen Ärzte Dr. F. und Dr. V. vom 3. November 1989 an den die Klägerin behandelnden Facharzt für Hals-Nasen- und Ohrenheilkunde Dr. D. ist bei den im August und September 1989 vorgenommenen Untersuchungen eine völlige Aufhebung des Geruchsvermögens (sog. Anosmie) festgestellt worden. Diese Diagnose haben die Klinikärzte aufgrund einer Geruchstestung gestellt, die einen "kompletten Ausfall der nervi olfactorii" der Geruchsnerven - ergeben hatte. Die Richtigkeit der in der Universitätsklinik gestellten Diagnose ist bestätigt worden durch den Sachverständigen Prof. T. ; denn dieser hat ausgeführt, bei den in der Klinik vorgenommenen Riechprüfungen habe die Klägerin zweifelsfrei den sogenannten Trigeminusreizstoff Ammoniak nicht wahrgenommen, was für den vollständigen Ausfall der Riechempfindung spreche. Darüber hinaus hat der Beklagte ausweislich der von ihm geführten Patientenkartei aufgrund von Untersuchungen am 13. August und 28. Oktober 1987 sowie am 4. Februar 1988 jeweils selbst eine Anosmie bei der Klägerin diagnostiziert.

Der damit feststehende vollständige Verlust des Geruchsvermögens ist auf den am 20. März 1987 vorgenommenen Eingriff zurückzuführen. Aufgrund der Beweisaufnahme kann zwar nicht sicher festgestellt werden, daß der dem Beklagten anzulastende Fehler bei der Nasenscheidewandoperation die Anosmie verursacht hat. Der Sachverständige Prof. T. hat einen Ursachenzusammenhang zwischen der Operation und dem Verlust des Geruchsvermögens nicht mit Gewißheit bejahren und andere denkbaren Ursachen wie eine frühkindliche Hirnschädigung, zurückliegende weitere Eingriffe im Nasennebenhöhlenbereich oder einen grippalen Infekt nicht ausschließen können.

Für die Ursächlichkeit der Nasenscheidewandoperation spricht jedoch der Beweis des ersten Anscheins. Nach dem Ergebnis der Zeugenvernehmung in Verbindung mit den vom Beklagten selbst vorgenommenen Eintragungen in die Patientenkartei besteht zwischen der Operation vom 20. März 1987 und dem Eintritt der Anosmie ein enger zeitlicher Zusammenhang, der die Annahme eines typischen Geschehensablaufs im Sinne der von der Klägerin behaupteten Kausalität rechtfertigt. Der Beklagte, dessen Patientenkartei keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Anosmie vor der Nasenscheidewandoperation ergibt, hat bereits Mitte August 1987 selbst die Diagnose einer Anosmie gestellt. Durch die glaubhaften Aussagen der Zeuginnen K. und H. ist darüber hinaus erwiesen, daß das Geruchsvermögen der Klägerin schon im Anschluß an die Nasenscheidewandoperation aufgehoben war. Beide Zeuginnen haben übereinstimmend bekundet, die Klägerin habe nach der Operation keine Düfte mehr identifizieren und selbst die von angebranntem Essen verursachten starken Gerüche nicht mehr wahrnehmen können. Der Senat hat keine Bedenken, den Aussagen der Zeuginnen K. und H. zu folgen. Die Zeuginnen haben zwar zur Klägerin als deren Mutter und Schwester eine enge verwandtschaftliche Beziehung, in ihrem Aussageverhalten aber nicht die Tendenz erkennen lassen, der Klägerin durch unwahre Angaben zum Prozeßsieg zu verhelfen. Daß der Geruchssinn der Klägerin bereits unmittelbar nach der Operation und nicht erst von einem späteren Zeitpunkt an aufgehoben war, wird auch durch die Eintragungen des Beklagten in seiner Patientenkartei nicht in Frage gestellt. Dieser hat zwar erstmals unter dem 30. Juni 1987 vermerkt, daß die Klägerin ihren Angaben nach "seit einigen Wochen nichts mehr riechen" können. Abgesehen davon, daß die Zeitbestimmung "einige Wochen" nicht klar umrissen ist, hatte die Klägerin - dies hat die Zeugin K. glaubhaft bekundet - im Vertrauen darauf, daß sich ihr Geruchsvermögen wieder von selbst einstellen würde, nach der Operation zunächst eine Zeitlang abgewartet, bevor sie sich deshalb an den Beklagten wandte. Daß der Verlust des Geruchssinns nach einer Nasenscheidewandoperation vom Patienten für eine vorübergehende Folge dieses Eingriffs gehalten wird, erscheint auch nachvollziehbar.

Nachgewiesen hat die Klägerin ferner, daß sie bis zu der Operation vom 20. März 1987 noch über ihr Geruchsvermögen verfügt hat. Die Zeugin K. hat bekundet, die Klägerin habe noch nach der "ersten Operation" - dem Eingriff im ...-Krankenhaus am 16. Januar 1987 - riechen können. Anhaltspunkte, die zu Zweifeln an der Richtigkeit dieser Aussage Anlaß geben könnten, vermag der Senat nicht zu erkennen. Die Zeugin hat aufgrund ihres damals täglichen Kontakts mit der Klägerin, mit der sie seinerzeit die Wohnung geteilt hat, zuverlässige Kenntnisse aus eigener Wahrnehmung und bei ihrer Vernehmung auch einen glaubwürdigen Eindruck hinterlassen. Bestätigt worden sind ihre Angaben überdies durch die Bekundung der Zeugin H., die Klägerin habe "nach der letzten Operation" - dabei handelt es sich um den vom Beklagten durchgeführten Eingriff - nichts mehr riechen können. Die Aussage des Zeugen H. K., der sich an zeitliche Zusammenhänge bezüglich des Verlustes des Geruchssinns der Klägerin nicht hat erinnern können, steht den Bekundungen der Zeuginnen E. K. und R. H. nicht entgegen.

Den Angaben der Zeuginnen K. und H. widerspricht auch keineswegs der Bericht des ...-Krankenhauses vom 30. Januar 1987 über den Verlauf der stationären Behandlung der Klägerin in der Zeit vom 15. Januar bis zum 21. Januar 1987. Vor dem operativen Eingriff am 16. Januar 1987 hatte die Klägerin lediglich über eine subjektive Einschränkung der Nasenluftpassage und der Geruchsempfindung geklagt und nicht etwa über einen vollständigen Verlust des Geruchssinns.

Da die Klägerin demnach vor der vom Beklagten vorgenommenen Operation ihr Geruchsvermögen noch besessen, nach dem Eingriff aber den Geruchssinn vollständig eingebüßt hatte und - wie aus den Ausführungen des Sachverständigen Prof. T. folgt - eine nicht sachgemäß durchgeführte Nasenscheidewandoperation eine Anosmie zur Folge haben kann, spricht der Beweis des ersten Anscheins für einen Ursachenzusammenhang zwischen einem dem Beklagten anzulastenden Behandlungsfehler und dem eingetretenen Schaden.

Damit obliegt es dem Beklagten, die ernsthafte und naheliegende Möglichkeit eines anderen als des typischen Geschehensablaufs darzulegen und zu beweisen, um den Anscheinsbeweis zu erschüttern (BGH NJW 1978, 2033). Dies ist ihm nicht gelungen. Der am 16. Januar 1987 im ...-Krankenhaus durchgeführte Eingriff - eine transnasale Sinuskopie mit Kieferhöhlenfensterung und Conchotomie - scheidet als Ursache für den Verlust des Geruchsvermögens aus. Nach der glaubhaften Aussage der Zeugin K. hatte die Klägerin nach der Operation im ...-Krankenhaus zwar "nicht so gut riechen" können, ihren Geruchssinn aber keineswegs verloren. Im übrigen hat auch der Sachverständige Prof. T. anhand der ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen in dem vorausgegangenen Eingriff im Bereich der Nasennebenhöhlen keinen Auslöser für die eingetretene Anosmie finden können.

Die von dem Sachverständigen als Schadensursache erwogene Hirnverletzung der Klägerin im Kindesalter stellt gleichfalls keine ernsthafte und naheliegende andere Möglichkeit im Sinne einer Entkräftung des Anscheinsbeweises dar. Daß das von der damals 5-jährigen Klägerin erlittene Schädelhirntrauma 32 Jahre nach dem Unfall und exakt im Zeitpunkt der Nasenscheidewandoperation zur Anosmie geführt haben könnte, ist selbst theoretisch kaum denkbar und kommt als Schadensursache nicht ernstlich in Frage. Das gilt auch für die von dem Sachverständigen als mögliche Ursache diskutierte Grippe, deren Folgen nach seinen eigenen Ausführungen zumeist nur vorübergehender Art sind. Daß der Sachverständige die Kausalität der Septumkorrektur "wegen der Operationstechnik" für "eher unwahrscheinlich" hält, beruht auf dem unzulässigen Schluß, der Eingriff sei den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechend durchgeführt worden. Davon kann aber aus den bereits dargelegten Erwägungen nicht ausgegangen werden. Der Beklagte hat deshalb für die Folgen der von ihm verursachten Anosmie einzustehen.

Zum Ausgleich des der Klägerin durch den Verlust des Geruchssinns entstandenen immateriellen Schadens ist ein Schmerzensgeld in Höhe von 7.000,00 DM angemessen. Das gilt auch unter Berücksichtigung des Umstands, daß ihr Geruchsvermögen vor der Nasenscheidewandoperation eingeschränkt war. Vor dem Eingriff war die Klägerin jedenfalls noch imstande, Gerüche wahrzunehmen, was ihr seither nicht mehr möglich ist. Der vollständige und dauerhafte Ausfall des Geruchssinns hat eine nachhaltige Beeinträchtigung der Lebensqualität zur Folge. Wenngleich das Riechvermögen vom Menschen nicht als einer der wichtigsten Sinneswahrnehmungen bewertet wird, empfindet er den vollständigen Ausfall des Geruchssinns doch immer wieder als Einschränkung seiner Lebensfreude. Hinzu kommt, daß mit einer Anosmie auch der Verlust der Warnfunktion des Geruchssinns - etwa bei Brandgerüchen - verbunden ist, und daß der Geschmackssinn beeinträchtigt wird, weil viele Geschmacksempfindungen erst gemeinsam mit dem Geruch sich voll entfalten. Ein Schmerzensgeld von 7.000,00 DM ist der Beeinträchtigung der Klägerin daher angemessen und bewegt sich auch innerhalb desjenigen Rahmens, den die Rechtsprechung üblicherweise für vergleichbare Sachverhalte gesetzt hat.

Die zuerkannten Rechtshängigkeitszinsen rechtfertigen sich aus §§ 288, 291 BGB.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO, der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 708 Nr. 10 ZPO.

Berufungsstreitwert: 7.000,00 DM

Beschwer für den Beklagten: unter 60.000,00 DM